Ulrike Barow

Dornröschen muss sterben


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hinsichtlich ihrer sportlichen Laufbahn reicher, lagen Jannis und die anderen fix und fertig im weißen Inselsand. Aber auch die Leeraner bestanden auf einer Pause. Zwei von ihnen liefen zur Mehrzweckhalle und holten eine Runde Mineralwasser für alle. Die nächste halbe Stunde nutzten sie, sich näher miteinander bekannt zu machen. Auch dazu ist so ein Sportfest bestens geeignet, dachte Jannis, bevor er seinem Gegenüber eine höchst komische Geschichte aus dem Leben seines Urgroßvaters mütterlicherseits erzählte.

      14

      Britta war hin- und hergerissen. Sie fand es total süß, dass Hendrik angeboten hatte, in die Halle zu kommen. Gleichzeitig war ihr aber auch bewusst, dass sie hier einen Job zu erledigen hatte. Sie war als Betreuerin verantwortlich für die Gruppe. Jetzt hatte sie schon den Vormittag verpasst und ihre Arbeit den anderen aufgehalst. Aber sie hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass die Vergangenheit in Form ihres Exmannes wieder auftauchen würde.

      Er war damals nach Australien gegangen, als sie ihm den Stuhl vor die Tür gesetzt hatte. Schlagen ließ sie sich nur einmal. Danach war Schluss.

      Nun war ihm offensichtlich das Geld knapp geworden. Ihre größte Sorge war gewesen, dass er mit der Morgenfähre auf der Insel auftauchen würde. Bis jetzt hatte er sich allerdings nicht blicken lassen. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass sie Angst hatte. Angst vor seiner Aggressivität, Angst vor der Aussicht, dass er sich wieder in ihr Leben einzuschleichen versuchte, und Angst, dass er ihre Beziehung mit Hendrik herausbekäme. Obwohl ihn das überhaupt nichts anging. Sie waren seit Jahren geschieden. Und trotzdem.

      Sie wünschte nichts sehnlicher, als dass er wieder aus ihrem Leben verschwinden würde.

      »He, Britta, aufwachen, deine Gruppe will was zu trinken haben. Wo steht euer Vorrat?«

      Britta schreckte auf. »Da hinten, hinter dem Strandkorb, entschuldige bitte, ich war in Gedanken.«

      Marco Schneider schaute sie mitleidig an. »Das habe ich gemerkt. Probleme mit Hendrik?«

      »Nee, nee, das ist okay, lass man, wird schon wieder.« Sie band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz und begleitete die beiden Spieler zum Strand.

      15

      Der Chef der Strandspiele schaute nachdenklich hinter ihr her. Von Brittas Lebensfreude war im Moment nicht viel übrig geblieben. Es war ein mühsames Lächeln gewesen, das sich beim Anblick ihrer beiden Schützlinge auf ihrem Gesicht gezeigt hatte.

      Er kannte Britta nun schon eine ganze Weile, und es war ihm immer so vorgekommen, als könnte sie so leicht nichts erschüttern.

      Als er vor Jahren damit begonnen hatte, die Turnspiele auf Baltrum zu entwickeln und umzusetzen, hatte er in ihr eine begeisterte Mitstreiterin gefunden. Sie brachte Gruppen aus allen Leeraner Vereinen dazu, sich an der Veranstaltung zu beteiligen. Inzwischen kamen Mitspieler aus ganz Niedersachsen, in jeglicher Altersstufe. So war die große Mehrzweckhalle, in der im Winter die Strandkörbe lagerten, jetzt mit lautem, fröhlichem Leben erfüllt.

      Sein Küchenteam war perfekt organisiert. Die Zutaten für das Frühstück wurden morgens vom Insel-Markt angeliefert und das Abendessen von einem örtlichen Hotel zubereitet. Auch wenn einige Insulaner der Veranstaltung skeptisch gegenüberstanden – fünfhundert spielbegeisterte Menschen brachten eben doch einige Unruhe – im Großen und Ganzen klappte die Zusammenarbeit mit den örtlichen Entscheidungsträgern recht gut.

      Seine Gedanken gingen zurück zu Britta. Er machte sich Sorgen um sie. Normalerweise hätte sie nie ihre Aufgaben vernachlässigt. Es musste schon was Ernstes dahinterstecken, wenn sie sich gerade hier und jetzt eine Auszeit nahm. Außerdem war er der Meinung, dass die Sache zwischen ihr und Hendrik Beyer viel zu schnell ging. Es sollte ihn nicht interessieren, sie war eine erwachsene Frau, aber trotzdem: Es gefiel ihm nicht.

      Er wischte die letzten Krümel des Frühstücks von den Partytischen. Am liebsten wäre er Britta an den Strand gefolgt, aber er sah aus den Augenwinkeln seine Frau und wusste, dass er diese Idee wohl im Dünensand vergraben konnte. Nadine Schneider sortierte mit saurem Gesicht das Geschirr.

      Schon kamen die ersten wieder vom Strand, um eine kleine Zwischenmahlzeit in Form vom Obst, Müsli oder Joghurt zu sich zu nehmen. Sport und Spiel machten hungrig.

      Seine Frau nahm ihm den Lappen mit den Krümeln aus der Hand. »Marco, denk dran, der Bürgermeister wird in einer Viertelstunde hier sein. Ich habe gerade Kaffee angesetzt.« Nadine war die Leiterin seines Küchenteams. »Nicht, dass du noch kurzfristig zu einer Rundfahrt aufbrichst«, maulte sie. »Du bist im Kopf wohl nur noch bei Britta. Die wird schon alleine zurechtkommen. Brauchst du dich nicht auch noch drum zu kümmern. Ich muss schließlich auch sehen, wie ich fertig werde.«

      Sie verschwand hinter den Gefriertruhen, ohne seine Antwort abzuwarten. Ein paar Spieler, die ihr Gemecker mitbekommen hatten, wandten sich wortlos in die andere Richtung.

      Sie versucht doch immer wieder, mich bloßzustellen, dachte er. Soll sie doch mit dem Hintern zu Hause bleiben, wenn ihr alles zu viel wird.

      Aber er wusste, das täte sie nie. Hätte ja sein können, dass irgendetwas Interessantes ohne sie passierte. Ständig meinte sie, dass er sofort auf die Piste ginge, wenn sie einmal nicht dabei war.

      Und das Schlimme ist, dass ich es auch machen würde, dachte er. So weit hat sie mich inzwischen. Immer nur hetzen und meckern.

      Er verließ die Halle und setzte sich mit hochrotem Kopf neben der Bratwurstbude in den Dünensand. Er musste ja in der Nähe bleiben, wollte er den Bürgermeister nicht verpassen. Und Nadines großen Auftritt als Gattin des Veranstaltungsleiters!

      16

      Es gibt keine schöne heile Inselwelt. Nein, wirklich nicht. Jeder muss für sein Tun bezahlen. Irgendwann muss das jeder. Auch Sie. Haben Sie sich darüber noch nie Gedanken gemacht? Glauben Sie wirklich an Schicksal? Papperlapapp. Sie selbst sind das Schicksal. Da hilft Ihnen keiner.

      Habe es oft genug versucht. Mich geduckt und angebiedert, Dinge getan, die ich gehasst habe. Aber damit ist jetzt Schluss. Jetzt wird aufgeräumt. Gründlich. Und übrig bleiben die, die es verdient haben. Die Treuen. Und Redlichen. Auf die man sich verlassen kann.

      Ich weiß genau, was zu tun ist. Mein Plan ist fertig. Gleich fange ich damit an. Dann werden sich alle ganz schön umgucken. Und Sie werden mir recht geben, da bin ich mir sicher.

      17

      Nein, es ging nicht. Er konnte den Kopf nicht bewegen. Mit Mühe hatte er das linke Auge aufbekommen, nun übte er mit dem rechten. Hendrik lag ausgestreckt auf dem Boden seiner Kajüte, den Kopf schmerzhaft zwischen Koje und einem vergessenen Fender eingeklemmt. Durch das Bullauge fielen Sonnenstrahlen, die an der gegenüberliegenden Wand mit dem Wiegen des Schiffes Zacken und Kreise malten. Linker Arm, rechter Arm, linkes Bein, rechtes Bein, Hendrik merkte zu seiner Beruhigung, dass noch alles da war, nur nicht seinen Befehlen gehorchte. Er beschloss, noch eine Weile liegen zu bleiben, denn sein Magen hob und senkte sich mit dem kurzen Wellenschlag im Hafen. Noch wollte seine Erinnerung nicht den Weg ins Licht antreten, so schloss er seine Augen wieder und fiel erneut in einen kurzen, traumlosen Schlaf, bis er von seinem eigenen Schnarchen geweckt wurde.

      Und nun kam sie mit Macht. Die Erinnerung.

      Sie hatte die Kajüttür geschlossen. Damit hatte alles begonnen. Nein, wenn er ehrlich war, hatte die Geschichte schon vorher begonnen. In seinem Kopf. Und weiter unten.

      Sie hatten Kaffee getrunken. Schwarz ohne Milch. Sie waren sich nähergekommen. Zentimeter für Zentimeter. Dann hatte Schnucki eine Flasche Talisker Whisky, Single Malt, auf den Tisch gestellt. Und zwei Nosing-Gläser. So hatte sie die kleinen, bauchigen Gläser genannt, die zur Öffnung hin schmaler werdend zum Verkosten des Whiskys ein Muss waren. Seinen Einwurf, dass zu einem guten Whisky auch immer ein gutes Wasser gehörte und der gute Whisky ja auch eigentlich ihrem Gatten, wischte sie mit einem Lächeln vom Tisch. »Wasser ist für die Fische«, hatte sie gesagt, und »Cheerio«. Ein ums andere Mal. Und jedes Mal war der Abstand zwischen ihnen etwas kleiner geworden.