Petra Hofmann

Nachtigallensteine


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philosophische Kenntnisse, sprachliche Gewandtheit, ausdrucksstarkes Auftreten, wohldosiertes, romantisches Verhalten und angemessene Paarungsbereitschaft – auf allen Ebenen.

      Das alles hat sich grundlegend geändert.

      Wir schauen jetzt nur noch auf die inneren Werte beim Mann. Also so richtig. Mehr so ins Zellinnere und um die Zellen herum.

      Ich bin zu Besuch bei meiner liebsten Freundin. Wir wollen uns um die Aktualisierung ihres Parshit-Profils kümmern. Das ist nämlich total veraltet. Da stehen noch Sachen drin wie: „Ich finde Männer toll, mit denen ich lachen kann.“

      Das ersetzen wir durch: „Ich finde Männer mit gesundem Zahnschmelz toll.“

      Statt der Lieblingsfarbe kann der Kontaktsuchende nun ankreuzen, ob der pH-Wert seines Urins mehr im sauren oder mehr im alkalischen Bereich liegt.

      Da Übersäuerung einen überaus großen Einfluss auf den Gemütszustand sowie die Spermaproduktion hat, bieten wir dem potenziellen Bewerber in Zukunft beim ersten Date gleich ein kleines Test-Set an, welches er unauffällig auf der Toilette ausprobieren kann.

      Auch die zu Erkennungszwecken mitgebrachte Rose soll beim ersten Treffen einen kleinen Augenblick mit ausgestrecktem Arm gehalten werden, damit wir noch vor dem ersten „Hallo“ schon mal einen kleinen kinesiologischen Test durchführen können. Damit eventuelle Nahrungsmittelunverträglichkeiten nicht unerkannt bleiben, wenn ein gemeinsames Abendessen im Terminkalender steht.

      Wir wissen ja heute, wie wichtig das Zellgedächtnis ist. Da reden vor allem unsere Ahnen mit. Also ganz wichtig: Erst seine Oma besuchen fahren, bevor es ins Kino geht. Nicht, dass da jemand im Krieg irgendwelche schlechten Erfahrungen gemacht hat und die sich am Ende noch vererbt haben!

      Bei der Frage „Wenn du ein Gemälde wärst, welches wärst du?“ tragen wir als Antwort „Ein großes Blutbild“ ein.

      Da sich seit Kurzem der glückliche Zufall ergeben hat, ein Biofeedback-Gerät nutzen zu können, wird dieses auch gleich – ich will jetzt nicht „zweckentfremdet“ sagen, sondern eher „höheren Zielen dienend“ – eingesetzt.

      Knochendichte, Peristaltikfunktion des Dünndarms, Leberfettwerte sowie die Nierenfunktion können ganz ausschlaggebend bei der Partnerwahl sein. Man stelle sich nur mal vor, die Werte liegen bei der Austestung mehr im roten statt im grünen Bereich! So was gibt nur Probleme später!

      „Und du meinst wirklich, dass die Knochendichte einen Einfluss auf die Partnerschaft haben kann?“, will meine Freundin wissen. „Natürlich! Noch nie was vom Penis-Knochenbruch gehört? Ach nee, so was kommt ja nur beim Dachs vor.“

      Meine Freundin schaut erst mich, dann wieder ihr Profil an. Wir schicken alles ab und warten. Und warten. Und warten. Normalerweise dauert es maximal 120 Sekunden, bis der erste Bewerber eine Nachricht geschickt hat. Aber nach über einer Stunde ist immer noch kein Mann im Postfach. Wir warten ungeduldig weiter. Nach vier Stunden immer noch kein Kontakt. Wir haben das Profil wohl zu wählerisch gestaltet.

      „Das muss am Profilbild liegen“, analysiert meine Freundin. Ja, das kann natürlich sein. Zu junges Aussehen für ein Dating-Portal. Ab morgen werden die Vitalstoffe auf die Hälfte reduziert.

       Parshit, Teil 5

      „Und bei ihm fühle ich mich so sicher!“, erzählt mir meine Freundin von ihrem letzten Date, während wir unseren täglichen Spaziergang durch den Wald machen.

      Irgendetwas irritiert mich an dem Satz. Aber ich weiß nicht, was. Vielleicht bin ich auch nicht ganz mit der Aufmerksamkeit bei ihr. Schließlich gilt es den Seniorennachmittag vorzubereiten und ich bin im Geiste mit der Gestaltung der Kastanienmännchen und der Auswahl der Weihnachtslieder beschäftigt. Ein Vortrag über offene Beine würde mir sehr viel leichter fallen.

      „Und er arbeitet im Darknet“, plappert sie weiter. Sind die Kastanien überhaupt schon reif? Darknet – was um Himmels willen ist das Darknet?

      „Das ist ein Teil des Internets, wo sich Leute verabreden können, um sich gegenseitig aufzuessen“, erklärt sie mir. WAAAAS??? „Als Polizist jagt er die Verbrecher, die im Darknet ihr Unwesen treiben“, fügt meine Freundin hinzu.

      Wie viele Streichholzschächtelchen brauche ich wohl für dreihundert Kastanienmännchen? „Und wenn du mal ’nen Profikiller brauchen solltest, dann kriegt man den auch da“, fährt sie fort. Darauf komme ich eventuell zurück.

      Ich kann kein einziges Weihnachtsgedicht, könnte aber etwas über Dekubitus-Prophylaxe vortragen.

      „Hörst du mir überhaupt zu?“, will sie wissen und schaut mich auffordernd an. „Natürlich tu ich das!“, antworte ich geistesgegenwärtig. Also so geistesgegenwärtig, wie es mir möglich ist. Viel ist da momentan nicht möglich, muss ich zugeben.

      „Was ist eigentlich aus diesem Profi-Sporttaucher geworden? Der die Drogensuchdelfine ausgebildet hat?“, lenke ich vom Thema ab. Während meine Freundin mir ausführlich berichtet, dass der Taucher vor Australiens Küste im Korallenriff hängen geblieben ist und sich deshalb nicht mehr melden konnte – und sehr wahrscheinlich hat ihn auch ein weißer Hai gefressen –, konzentriere ich mich auf einen Vortrag über Diabetes mellitus II. Ich finde, das ist ein sehr interessantes Thema, von dem alle Senioren etwas haben dürften. Dazu reichen wir dann zuckerfreie Plätzchen.

      „Man fühlt sich so rundum geborgen und sicher bei ihm.“ Das ist wirklich neu. Im Gegensatz zu den Senioren. Da ist nichts neu.

      „Was kostet eigentlich so ein Profikiller?“, möchte ich wissen. Meine Freundin schaut mich komisch an. Aber ich bin im Geiste schon wieder bei meinen Vorbereitungen für die Adventsfeier. Kokosnussöl soll ja vorbeugend gegen Demenz helfen. Wir brauchen unbedingt Kokosmakronen. Manchmal ist es wirklich ein Fluch, wenn man die Arbeit nicht einfach mal liegen lassen kann.

      „Und man kann sich so herrlich entspannen, weil alles so sicher bei ihm ist.“ Also, irgendwas ist ganz anders als sonst.

       Marianengraben

      Meine Freundin hat mich total durcheinandergebracht. Also, ihre neue Bekanntschaft hat dafür gesorgt. Genau genommen nicht er persönlich, sondern seine berufliche Tätigkeit. Er arbeitet im Darknet – also gegen das Darknet natürlich.

      Seit ich von dessen Existenz erfahren habe, lässt es mich nicht mehr los. Das ist wie mit den Gruselfilmen – die ziehen mich auch total an, aber ich kann dann gar nicht hingucken, wenn es wirklich gruselig wird.

      Ich erkundige mich also bei Google über das Darknet und fühle mich selbst schon wie ein Schwerverbrecher.

      Dort bezahlt man gar nicht mit Geld, sondern mit Bitcoins – einer speziellen Verbrecher-Währung. Ich war ja schon immer für alternative Geldsysteme. Geld mit Verfallsdatum zum Beispiel finde ich eine tolle Idee. Die Bitcoins haben sich gut entwickelt. Ich hätte investieren sollen.

      Alles, was man jemals über Verschwörungstheorien gehört hat, wird im Darknet zur Gewissheit.

      Ich bin so nervös beim Schreiben, dass ich unentwegt Schokoladenbonbons essen muss, an denen ich mich des Öfteren verschlucke.

      Die Themen und Angebote im Underground-Netz sind so abstrus und abenteuerlich, dass ich mich immer nur traue, die ersten drei Buchstaben zu lesen, um mir dann vor lauter Schreck die Augen zuzuhalten.

      Aber es geht noch sehr viel tiefer. Unter dem Darknet – so in etwa 11 000 Metern Tiefe – gibt es das Mariana’s Web. Surfen im Marianengraben – nur anders.

      Da trifft man sogar tot geglaubte Leute wieder: Elvis, Michael Jackson, John F. Kennedy. Und ich dachte, das Gruseligste im Marianengraben wären die merkwürdigen Fischgestalten, vor denen ich als Kind schon Angst hatte, wenn ich die entsprechenden Seiten