Platte. Es waren die Schreie der verbrennenden Musikerinnen und Musiker, doch sie verhallten im Nichts, welches sich mitten im Raum meiner kleinen Unterkunft auftat. Immer lauter und immer wilder stieg das Kreischen und Wimmern aus den Boxen. Und all dies schien die Neugier von etwas zu wecken. Ich spürte, wie es mich ansah. Durch das Nichts. Mit Neugier und absolutem Terror. In der tiefen Finsternis, die mich anstarrte, wurde ich mir meiner selbst bewusst. Wie wir taumeln auf diesem Flecken im Universum, dessen Grenzen unendlich sind. Ich erkannte die Grenzen, die uns gesetzt sind und die wir uns selbst setzen. Mein Tun und mein Handeln war in diesem kosmischen Kontext vollkommen unbedeutend und doch stand ich dort und wurde mit Neugier und Schrecken betrachtet aus der Dunkelheit, die sich immer weiter ausbreitete und alles Licht verschluckte. Als Teil des Ganzen, aus dem wir kamen und zu dem wir wieder verschmelzen. Ich wich zurück und taumelte. Erst jetzt merkte ich, dass die Hütte in Flammen stand.
Mit letzter Kraft schleppte ich mich nach draußen und sah, wie das Feuer alles verschlang. Es war alles wahr. Es war das Schönste, was ich je hören durfte. Es war ein Versprechen, das es einzulösen gilt. Ich weiß nun, was vor dieser Welt war und ich weiß, was nach ihr kommen wird. Ich habe es gesehen, und es sah mich. Ich habe keine Angst vor dem Fremden. Ich sehne es herbei.
DIE LETZTE BEWEGUNG
Vierzig Movements versprach Georges Gurdjieff seinen Schülerinnen und Schülern. Am 11. Oktober 1949 choreographierte er seine offiziell letzte Bewegung, die Nummer 39. Schwerkrank wollte der Tanzlehrer, der sein Wissen angeblich von verborgenen lebenden Derwischen erhalten hatte, sein Versprechen einlösen und sein Werk vollenden. Nur wenige Tage nach Vollendung der neununddreißigsten Bewegung brach er vor den Augen seiner Schülerinnen und Schüler, die gerade diese Choreographie mit ihm einübten, zusammen. Sein Haus zu verlassen war dem von Krankheit gezeichneten Meister kaum noch möglich.
Am Abend des 26. Oktobers wurde er dann in das American Hospital in Neuilly eingewiesen und sollte es nicht mehr lebend verlassen. Drei Tage später starb er eines Samstagmorgens um 10:30 Uhr. Es überraschte viele, allen voran seine treue Schülerin Jeanne de Salzmann, dass die unfertigen Entwürfe der vierzigsten Bewegung einem den inneren Kreis weitestgehend Unbekannten vermacht wurden, dem Norweger Niklas Andersen. Zu gerne hätte Salzmann als Ballett-Lehrerin selbst das Werk ihres Lehrmeisters vollendet, das neben der Movements zudem vier Bücher und etwa 300 Klavierstücke umfasste. Und tatsächlich hatte ihr Gurdjieff noch auf dem Totenbett die Aufgabe übertragen, eine Kernmannschaft zusammenzustellen, die sich um seinen Nachlass kümmern sollte. Sterbend hatte er ihr befohlen, über 100 Jahre alt zu werden, um seine Lehren verbreiten zu können. Nach seiner Beerdigung versammelte de Salzmann zu diesem Zweck fünfzig der ältesten und treuesten Schülerinnen und Schüler des Esoterikers um sich. Es war just an diesem bedeutsamen Abend, dass Andersen auftauchte, um sein Erbe anzutreten. Doch Andersen war nicht irgendwer, auch wenn Salzmann ihn nicht kannte. Er war ein Reisender, der ebenso wie Gurdjieff auf der Suche nach der Wahrheit bis dato unbekannte Kloster und Schulen im Orient aufgesucht hatte. Er gehörte zu dem ausgewählten Kreis der Wahrheitssuchenden, über die Gurdjieff unter anderem in seinem Werk »Begegnungen mit bemerkenswerten Menschen« berichtete. Andersen selbst indes wurde in keiner Aufzeichnung des Tanzlehrers erwähnt.
Dennoch gilt es als sicher, dass Andersen ein treuer Begleiter Gurdjieffs war und so sein Vertrauen gewinnen konnte.
Georges hatte stets betont, er habe die berühmt-berüchtigte Sarmoung-Bruderschaft in den Bergen Tadschikistans aufgesucht und von ihr den Großteil seiner geheimen Lehren in Form eines alten Grimoire erhalten zu haben. Nur Andersen wusste, dass dies eine bloße Erfindung des Tanzlehrers waren. Die Inhalte, Sprüche und Konstrukte in dem namenlosen Buch, aus dem Gurdjieffs seine Kraft zog, waren viel älter. Entfernt ließen sich Inhalte auf Kybēbe, der großen Mutter der Götter in der phrygischen sowie griechischen Mythologie, und deren Begleiter, den in bacchantischer Wut umhertanzenden Korybanten zurückführen.
Die Korbyanten trugen ihre Haare lang und wellig, bleichten ihre Gesichter kalkweiß und stießen schrille Schreie aus, wenn sie sich wie besessen zu Ehren ihrer Göttin ekstatisch bewegten. Gurdjieff hatte wohl daran getan, sein Wissen über den Ursprung seiner Movements zu verheimlichen, sollte er auch nur ansatzweise gewusst haben, wer oder was in diesem namenlosen Grimoire heraufbeschworen werden sollte. Welche Tür er mit der Vollendung seiner Bewegungen aufgestoßen hätte. Aber im Gegensatz zu Andersen erkannte er es nicht, und es lässt sich von Glück sagen, dass er vor Vollendung der vierzigsten Bewegung verstarb. Er meinte es stets gut, so gut wie Scharlatane es eben meinen können. Der beste spirituelle Führer ist meist blind gegenüber all dem, was sein Konstrukt ins Wanken bringen könnte. Andersen dagegen war aus einem anderen Holz geschnitzt. Viel ist bis heute nicht über ihn bekannt, hielt er sich doch bis auf eine kurze Phase in den sechziger Jahren, wo er angestachelt durch die Zeichen der Zeit zu einer Art Kultführer emporstieg, meist im Hintergrund auf.
Es ist davon auszugehen, dass er 1899 alt genug war, um den Tanzlehrer auf seinen Reisen im Orient zwischen Afghanistan, der Türkei und Mesopotamien zu begleiten. Einige Unterlagen weisen auf ein Geburtsdatum 1868 hin, was aber unmöglich korrekt sein kann. Denn die wenigen Aufnahmen von Andersen, die in den 60er Jahren aufgenommen wurden, zeigen keinen Mann der auf die Hundert zugeht. Sein tatsächliches Alter ist auf den grobkörnigen Fotografien, die ihn in dicker fahler Schminke mit langem Haar inmitten seiner Anhängerinnen und Anhänger zeigen, allerdings schwer zu erkennen. Mehrere Augenzeuginnen und -zeugen beschrieben ihn mitunter als regelrecht alterslos. Eine hagere Gestalt mit durchdringenden Augen. Die Altersangaben differierten teilweise um mehrere Jahrzehnte. Immer wieder kreuzten sich Andersens Wege mit okkulten Führern. Nach der Reise mit Gurdjieff, bei der sie wohl tatsächlich auf ein namenloses Buch stießen, widmete er sich dem Okkulten. Er besuchte Aleister Crowley und war Gerüchten zufolge nicht ganz unschuldig am Verfall des Hermetischen Ordens der Goldenen Dämmerung und dessen Spaltung. Das war circa 1900, hier verliert sich erstmals seine Spur. Es gibt einige, die behaupten, dass er als Geigenlehrer in Paris arbeitete. Ebenso gibt es durchaus glaubhafte Hinweise, dass Andersen unter falschem Namen in einer Mansardenwohnung in der Rue d’Auseil lebte, doch belegbar ist davon nichts. Genau so wenig wie Treffen mit einigen Führerinnen und Führern archaischer Sekten in aller Welt. Andersen wiederum tauchte erst Ende der 30er Jahre in den USA auf, wo er sich mit John Whiteside Parsons anfreundete und ihn mit der »Magick« von Crowley bekannt machte. 1942 wurde Parsons auf seine Empfehlung von Crowley zum Leiter der Agape-Loge des Ordo Templi Orientis in Kalifornien ernannt. Die Geschehnisse der nächsten Jahre sind schwerlich zu rekonstruieren. Fakt ist allerdings, dass Andersen sich 1949 in Paris einfand um sein Erbe anzutreten. Einigen Berichten zufolge traf er bereits einige Monate vor Gurdjieffs Tod ein.
Was die nächsten fünfzehn Jahre geschah liegt im Dunkeln. Erst 1966 trat er wieder in Norwegen in Erscheinung. Als Gründer eines Musikerkollektivs namens Dør, die in orgiastischen, sexuell düster aufgeladenen Darbietungen eine kleine aber treue Fangemeinde um sich scharen konnten. Es gibt nicht wenige, die behaupten, dass Dør Elemente des Heavy Metal vorwegnahmen. Nicht nur musikalisch, sondern auch optisch. Bevor es überhaupt einen Begriff wie Corpsepaint gab, schminkten sich die Mitglieder von Dør bleiche Gesichter und färbten sich ihre langen Haare schwarz, so wie es einst die Korybanten taten, um für Ihre Göttin zu tanzen. Dør war stets mehr als eine Band. Tanz, Okkultismus und Magie gehörten genauso zum Repertoire wie ihre Musik. Unschwer lassen sich in den wenigen Fotos der Shows Gurdjieffs Movements erkennen. Und vielleicht war der fehlende Schlüssel zu den Bewegungen die Musik. Denn die Kompositionen von Dør hatten gänzlich nichts mit denen von Gurdjieff, die er mit der Hilfe des Pianisten Thomas de Hartmann erstellte, gemein. Fünf Alben spielten Dør ein, bevor sie bei einem tragischen Brand im Tonstudio umkamen. In dem norwegischen Fanzine »De Store Gamla« von 1967 ist das einzige Interview mit Andersen zu finden. Bereitwillig gibt er hier über vieles Auskunft, was sich auch in dieser kleinen Biografie nachlesen lässt, doch die Antwort auf die letzte Frage, was die fehlende vierzigste Bewegung ausmache und ob er sie fertigstellen werde, blieb lange Zeit rätselhaft:
»Die letzte Bewegung ist ein Klang, geschaffen aus Körpern, so wie der Tanz aus Körpern geschaffen wurde. Und sie eröffnen eine neue Welt.«
DER EINZIGE