dem Haus gegangen bin. Eigentlich wollte ich nur sehen, wie es Ruprecht so geht. Dann muss ich schon wieder los, denn Vater meint, ich könnte am besten das Leder zuschneiden. Glücklicherweise muss ich heute keine Schuhe austragen.“
„Nun hast du gesehen, wie es Ruprecht geht, da kannst du auch wieder heimkehren!“, kommt kess der Einwurf von Johanna, dem prompt ein Schlag von der flachen Hand der Mutter auf das lose Mundwerk folgt. „Johanna!“ Wenn Mutter den Namen schon so ausspricht, dann steht es schlimm um den Seelenfrieden der jüngsten Tochter. „Johanna, sofort entschuldigst du dich für die Frechheit! Sei froh, dass sich jemand um deinen Bruder sorgt!“
„Soll sie doch sagen, dass sie in ihn verliebt ist!“, setzt Johanna nach und entwischt vor dem nächsten Klaps eilig durch die Tür in die Werkstatt.
Marthas Gesicht hingegen nimmt die dunkelste Farbe an und Ruprecht ergeht es nicht anders. Der stottert verlegen: „Also, wie sie darauf kommt. Wenn ich erst wieder auf den Beinen bin, werde ich ihr ordentlich das Fell gerben.“
„Besser wäre es, du würdest dich der Martha erklären!“, mischt sich der Vater ein, der soeben die Stube betreten hat. „Dann wüsste ich nämlich, ob ich mich mit dem alten Michel zusammensetze und die Einzelheiten bespreche.“
Ruprecht fühlt sich von den Geschehnissen überrumpelt. Natürlich findet er die Martha toll und er hat mit ihr auf dem Tanzboden schon so manchen Reigen getanzt, aber so direkt haben sie sich noch nie über Gefühle ausgetauscht. Freilich, vom Alter her passen sie recht gut zusammen. Sie zählt siebzehn Lenze und er ist einundzwanzig Jahre alt. Aber dass das alles jetzt so offen auf dem Brett serviert wird, wo er sich selbst noch nicht richtig im Klaren ist!
Ruprechts Eltern schmunzeln in trauter Einigkeit über ihren Sohn und das Mädchen, die beide nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen.
„Nun bring mal nichts durcheinander, Hans“, versucht Magdalena die Situation zu entspannen. „Vielleicht sollten die zwei erst allein miteinander reden? Aber dazu wäre besser, sie würden miteinander ausgehen und nicht von uns beobachtet werden.“
Mit dunklen Augen sieht Martha zum Fenster hin. Wie peinlich ist das denn? Da hat sie sich über Wochen um Ruprechts Aufmerksamkeit bemüht und der zeigt sich von Blindheit geschlagen. Dann läuft sie ihm nach bis ans Krankenlager und muss diese Situation erleben. Wenn wenigstens die freche Johanna ihren vorlauten Mund gehalten hätte!
„Schön, dass ihr euch solche Gedanken macht“, lässt sich Ruprecht hören. „Vielleicht ist es dienlicher, ihr kümmert euch gar nicht erst darum? So vornehmen Standes sind wir beide nicht, dass wir heiraten müssen, um die Macht unserer Familien zu stärken, Reichtum zu vermehren oder was auch immer. Und zur allgemeinen Kenntnisnahme: Ich mag Martha sehr gern und habe bemerkt, dass sie mich auch mag. Nur bin ich eben kein Weiberheld.“
Wie in Stein gemeißelt stehen die Worte im Raum und weil sie so eindeutig sind, bemerkt der Vater nur: „Na, dann ist alles in Ordnung.“ Und geht in die Werkstatt.
Magdalena umfasst Marthas Schultern: „Komm so oft du kannst!“, und bringt sie vor das Haus. „Du musst dich nicht über die Situation wundern. In dieser Familie wird nicht viel über die Liebe gesprochen und so wirken die Herren alle ein wenig hölzern, wenn es um Herzensangelegenheiten geht.“
Elisabeth, die die ganze Zeit unbemerkt in der Ecke saß, hockt sich neben ihren Bruder. „Es wird Zeit, dass das passiert ist. Ich hatte nämlich schon Angst, dass du so ein alter, verknöcherter Einsiedler wirst, der unausstehlich ist.“
Irritiert blickt Ruprecht seiner Schwester ins Gesicht. „Na, du scheinst dich gut auszukennen. Wie kommst du auf solche Gedanken?“
Sie hebt die Schultern und legt die Hand auf ihre Brust. „Wie sollte ich nicht auf so etwas kommen? Sieh mal unseren Paul an. Der ist vier Jahre jünger als du, genauso alt wie die Martha. Er ist oft mit den Mädchen vor der Stadt und ich habe sogar schon gesehen, wie er die Frida vom Töpfer Nuremberg geküsst hat. Du hingegen schaust einfach weg, wenn dir eine ein Auge zuwirft. Sonst hättest du längst merken müssen, dass Martha in dich verliebt ist.“
Puterrot läuft das Gesicht des Bruders an und schüchtern bemerkt er: „Du bist ein schönes Früchtchen. Aber welches Mädchen sollte es sich antun, mein Weib zu werden? Du siehst selbst, laufend passiert mir irgendwelches Ungemach.“
Resolut wischt die neun Jahre jüngere sein Argument zur Seite: „Natürlich passieren dir die unmöglichsten Dinge. Das ist aber nur deswegen so, weil du stets Angst hast, es könnte etwas geschehen. Würdest du stattdessen den Blick auf die jungen Weiber richten, dann würde ich längst deine Kinder hüten.“
Erleichtert zieht Ruprecht Elisabeth an seine Brust. „Du bist mir doch die Liebste von meinen Geschwistern. Hoffentlich magst du mich noch, wenn das mit der Martha und mir etwas wird.“
Es ist gegen Mittag, als endlich der monoton rauschende Dauerregen allmählich nachlässt und schließlich in einen stotternden Nieselregen übergeht. Ein diffuses Leuchten im wattierten Grau des wolkenverhangenen Himmels lässt erahnen, wo sich die Sonne am Firmament befinden muss.
Der kleine Claus von gegenüber hat längst seinen Erkundigungszug angetreten, weil einer seiner Getreuen von gewaltigem Hochwasser des nahen Flüsschens zu berichten wusste. Eben schlägt die Glocke von Sankt Jakobi die zwölfte Stunde, als der erste Sonnenstrahl den Weg durch eine winzig schmale Wolkenlücke findet und suchend nach dem Fenster der Prescherchen Tischlerei tastet.
Gerade will der Meister die Werkstatt verlassen, als er das Leuchten auf dem matten Grund gewahr wird. Gierig nach frischer Luft öffnet er weit die Fensterflügel und freut sich des erkennbaren Wetterumschwungs. „Lena!“, dröhnt seine Stimme durch das Haus. „Öffne die Fenster und Türen, lass die Luft ins Haus, bevor der Rinnstein wieder stinkt!“
Das Leben in der Stadt mag viele Vorteile mit sich bringen, aber der Geruch der Abfälle in den Gassen in Komposition mit dem der Latrinen kann schnell unerträglich werden, zumal wenn die Wetterlage keinen Luftaustausch zulässt. Deshalb gefällt den Städtern ein laues Windchen und Regentage sind nicht unbedingt immer unwillkommen. Heute ist solch ein Tag, wo die Nasen der Bürger verwöhnt werden und so sieht man, Gasse auf und Gasse ab, überall offene Fenster und Türen. Obwohl es an sich eher die beste Zeit für das Mittagsmahl ist, stehen allenthalben die Nachbarn schwatzend beieinander und tauschen sich über den Dauerregen aus, der offensichtlich sein Ende fand.
Die Prescherin sieht diese Gespräche nicht ohne Neid. Aufgrund der leer stehenden Grundstücke fehlen ihr für den Schwatz die direkten Nachbarn und die Minna Zigerin von gegenüber hat ihr eine zu spitze Zunge, vor allem da diese bereits ziemlich eindringlich auf Nurmbergs Emma einspricht. „Hans, ob ich kurz auf einen Sprung bei der Roselerin vorbeigehe?“, ruft sie fragend über die Schulter. „Das Essen muss ohnehin noch ein paar Augenblicke ziehen.“ Doch die so sicher geglaubte Zustimmung von Hans wird ihr verwehrt. „Lass das lieber bleiben! Erstens habe ich jetzt Hunger und nicht erst in zwei Stunden – und so lange pflegt Roselers Hedwig am Stück zu reden. Außerdem wird dir der Alte den Leisten an den Kopf werfen, wenn er nicht rechtzeitig den Löffel in die Schüssel tauchen kann. Bleibe also besser hier. Heute Abend kannst du dich mit der Roselerin zusammensetzen. Da will ich den Michael in den „Heiligen Georg“ entführen“.
Erstaunt wendet sich Magdalena der Stube zu. „Nanu, Hans, woher kommt dieses überraschende Vorhaben? Du gehst doch sonst nicht mit diesem alten Knurrhahn in die Wirtschaft. Es wird hoffentlich nicht wegen der Martha sein – da wäre ich besser mit dabei!“
„Erst einmal, mein liebes Weib, will ich von dem alten Zausel hören, wie er überhaupt zu solch einer Beziehung steht. Da man so etwas aber mit Geduld ausloten muss, gehe ich mit ihm eben in das Wirtshaus.“ Inzwischen hat sich Hans auf seinen Schemel gesetzt und deutet mit dem Kinn auf den Herd. „Komm, Magdalena, mein Magen knurrt.“
„Und ich sagte, das Essen muss noch ein paar Augenblicke ziehen. Außerdem, wo ist Paul? Und die Mädchen sind auch noch nicht vom Brunnen zurück!“, erwidert die Hausherrin zornig. „Versuchst du jetzt, den Haustyrann zu spielen?“
„Was soll das?!“