Iris Hadbawnik

Laufen lieben lernen


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war plötzlich glasklar: Genau das möchte ich auch! Ich will genau diese Emotionen spüren! Möchte eine – für mich – unvorstellbar lange Strecke in Angriff nehmen, wenn es sein muss dafür leiden, mich dennoch durchbeißen und am Ende mit Tränen der Freude, des Stolzes und der Erschöpfung belohnt werden. Wie herrlich musste sich das anfühlen? Welch gigantische Erfahrung musste das sein? Ich malte mir das in den schönsten Farben aus - und nur einen Tag später meldete ich mich für den Frankfurt Marathon an.

      Der folgende Abschnitt ist keinesfalls zur Nachahmung empfohlen. Ich möchte dennoch meinen Weg und meine Erfahrungen hier niederschreiben. Vor allem auch, um zu verdeutlichen, wie wichtig es ist, sich vernünftig mit der Materie zu befassen, bevor man große Ziele in Angriff nimmt. Verstehe mich nicht falsch: Große Ziele sind wichtig! Aber sie sollten auch einigermaßen realistisch sein. Ich sehe heute immer wieder, dass Läufer viel zu schnell viel zu viel wollen – häufig von den vielen Erfolgsgeschichten auf allen möglichen Social-Media-Kanälen angetrieben. Viele scheitern und verlieren damit den Spaß an der Sache oder verletzen sich ernsthaft und können teilweise monatelang überhaupt nicht mehr laufen. Dieses Buch soll dabei helfen, einen vernünftigen Start in ein langes und erfülltes Läuferleben zu schaffen. Dazu gehört auch, dass du deinen eigenen Körper kennst und lernst, auf seine Signale zu hören.

      An dieser Stelle will ich nochmal meine damalige Situation beschreiben: Ich lief zu diesem Zeitpunkt seit etwa 2 Jahren regelmäßig 3 bis 4 Mal pro Woche, jeweils 30 bis 60 Minuten – einfach so zum Spaß. Ich hatte keinerlei Wissen von einem vernünftigen Trainingsaufbau, geschweige denn von Kraftübungen, Lauf-ABC, Dehnen oder Regeneration. Ich machte mir null Gedanken über Lauftechnik, war in keinem Verein und hatte weder einen Lauftrainer noch kannte ich jemanden, der damals einen Marathon lief und von dessen Wissen ich hätte profitieren können. Wenn ich es recht bedenke, hatte ich mir auch noch nie einen Marathonlauf angeschaut – weder live noch im Fernsehen. Kurzum, ich hatte nicht die geringste Ahnung davon, wie ein Marathon funktionierte. Aber ich hatte etwas anderes: Den unbändigen Willen, einen Marathon zu schaffen, um den unbändigen Stolz zu spüren, wenn ich die Ziellinie erreichte. Ich brannte förmlich für diesen einen Augenblick.

      Ich weiß nicht, was mich im Leben noch alles erwartet. Aber ich weiß, was ich erreichen möchte, und dafür werde ich kämpfen.“

      Es ist natürlich nicht so, dass ich mich damals nicht auf den Marathon vorbereitet hätte. Mit dem Buch „Perfektes Marathontraining“ von Herbert Steffny hatte ich einen Leitfaden zur Hand, mit dem ich mein Training strukturierte. Ich lief zur Vorbereitung ein 10-km-Rennen und absolvierte das erste Mal in meinem Leben einen Halbmarathon. Dennoch beging ich aus Unwissenheit einfach viel zu viele Anfängerfehler. Der größte war wohl, dass dieser Marathon ein paar Monate, wenn nicht gar 1 bis 2 Jahre, zu früh für mich kam. Mein Körper war noch nicht bereit, eine solch lange Ausdauerleistung vernünftig wegzustecken – konnte es nach der kurzen Zeit auch noch gar nicht sein. Aber davon wollte ich damals natürlich partout nichts hören. Ich trainierte so gut es ging und fieberte meinem „großen Tag“ entgegen. Um den Druck auch von außen weiter zu erhöhen, erzählte ich jedem, der es hören wollte, von meinem bevorstehenden Marathon. So wusste ich, dass ich auf keinen Fall einen Rückzieher machen konnte und ich mich durchbeißen würde, selbst, wenn es hart auf hart käme. Was sollte mir auch schon passieren? Schließlich war ich nach meinem Gefühl top vorbereitet und mental sowieso schon längst im Ziel meiner Träume eingelaufen.

      Doch es kam, was kommen musste: 4 Tage vor dem Start wachte ich morgens mit leichtem Fieber, Halsweh sowie Kopf- und Gliederschmerzen auf. „Das kann doch wohl nicht wahr sein!“, schimpfte ich immer wieder vor mich hin. Wieso werde ich ausgerechnet jetzt krank?! Dass dies eine Reaktion des Körpers sein kann, der nach einer ungewöhnlich harten Trainingsphase an den Ruhetagen vor dem Start nun endlich die langersehnte Auszeit nutzte, wusste ich damals noch nicht. Ich versuchte mit allen Mitteln (und Medikamenten), das Fieber zu bekämpfen. Damit beging ich einen weiteren Anfängerfehler: Ich lief einen Marathon, obwohl ich zum Start nicht zu 100 Prozent fit und leistungsfähig war. Aber eine Absage kam für mich keinesfalls in Frage. Schließlich „fieberte“ ich im wahrsten Sinne des Wortes seit Wochen auf diesen Tag hin. Ich hatte jedem von diesem bevorstehenden Ereignis erzählt. Jetzt zu kneifen, wäre mir peinlich gewesen. Sätze, wie: „Ha, wohl kalte Füße gekriegt...?!“, wollte ich mir nicht anhören müssen.

      Kurzum: Es kam mir in keiner Sekunde in den Sinn, den Start wegen eines leichten Fiebers abzusagen. Wer macht denn sowas? Und was wusste ich damals schon von Langzeitschäden oder einer Herzmuskelentzündung…? Mein Körper streikte, und ich fühlte mich schlapp. Bei jeder kleinsten Belastung schwitzte ich ungewöhnlich stark und schaffte es kaum, Treppenstufen ohne Pause hochzusteigen. Das hätte mir eigentlich Warnung genug sein sollen. Zu allem Übel hatte auch noch der Wettergott keinerlei Erbarmen mit uns Läufern: Orkanböen mit bis zu 115 km/h waren vorhergesagt. Und strömender Regen. Wer nicht unbedingt vor die Tür musste, sollte an diesem Sonntag besser zuhause bleiben, hieß es. Das galt aber natürlich nicht für mich – ich musste raus, ich musste ja meinen ersten Marathon laufen!

      Wenn ich heute über meinen ersten Start nachdenke, kann ich nur noch den Kopf schütteln. Ich trug viel zu viel Ballast mit mir: meinen Lippenpflegestift, ein komplettes Päckchen Taschentücher und – sicher ist sicher – eine Trinkflasche mit 0,5 l Wasser. Auf den ersten Kilometern konnte ich den Lauf total genießen und wunderte mich noch, als sich mein Laufnachbar bei Kilometer 10 übergeben musste. Mir hingegen ging es gut, ich genoss den Trubel an der Strecke, die Menschen und die Musik. Die Zuschauer jubelten mir zu: „Iris, du schaffst das“ und “das sieht gut aus“ - und mehr als einmal überzog mich eine feine Gänsehaut. Ab Kilometer 15 spürte ich allerdings so langsam, wie die Anstrengung in meinen Körper kroch. „Das geht gleich wieder“, versuchte ich, mich aufzumuntern. Doch weit gefehlt. Von da an ging es immer weiter bergab, und beim Halbmarathon war der Spaß komplett vorbei. „Warum mache ich das?“, fragte ich mich mehr als einmal. „Ich will heim!“ war nur noch mein einziger Gedanke. Als wir dann durch Nied liefen, den Stadtteil, in dem ich wohne, sah mir wohl auch ein weiterer Läufer meine Qualen an und sagte: „This is called the wall!“ Ich nickte nur, doch irgendwie half mir das jetzt auch nicht weiter. Ich hatte einiges über den „Mann mit dem Hammer“ gelesen, der irgendwann auftauchen sollte, aber mit ihm umzugehen, dafür hatte ich keine Strategie. Irgendwann war ich so geschwächt, dass ich immer wieder gehen musste. Und so wanderte ich schließlich die Marathonstrecke entlang, begann zwar immer wieder kurz zu traben, aber nur, um dann erneut kraftlos in den Gehschritt zu wechseln. Zusätzlich musste ich mich ständig gegen den Sturm stemmen sowie fallenden Straßensperrungen ausweichen oder den Trinkbechern, die zu Hunderten von den Verpflegungstischen auf die Straße geweht wurden. „Ich hätte nie gedacht, dass Marathonlaufen so anstrengend ist“, sagte ich hilflos zu einem anderen Läufer. „Doch, das ist es!“, stöhnte dieser. „Das ist mein dritter Start, und es ist jedes Mal die Hölle!“

      Frankfurt Marathon im Oktober 2002: Diese Hölle hatte glücklicherweise einen Ausgang. Nach über 5 Stunden im Ziel meines ersten Marathons.

      Doch diese Hölle hatte glücklicherweise einen Ausgang. Als ich eine Stimme aus dem Lautsprecher sagen hörte: „Iris, jetzt sind es nur noch 600 Meter!“, spürte ich eine unglaubliche Erleichterung. Nach 5 Stunden und 2 Minuten erreichte ich unter Einsatz meiner allerletzten Kräfte die langersehnte Ziellinie. Kamen jetzt die großen Emotionen hoch, war ich voller Freude, Euphorie und unbändigem Stolz? Nein. Ganz im Gegenteil. Ich überquerte die Ziellinie und heulte erst einmal jämmerlich. So fertig war ich. Mit meinen Nerven vollkommen am Ende. Aber auch irgendwie enttäuscht darüber, dass ich den Lauf überhaupt nicht genießen konnte und mir nun jedes einzelne Körperteil höllisch weh tat. Alles schien im Eimer: meine Beine, die Knie, die Sprunggelenke und – am allerschlimmsten – mein gesamter Rücken. In meinen Vorstellungen sollte der Frankfurt Marathon ein einziger Triumphlauf sein. Doch auf ein Runners High wartete ich während dieser kompletten 5 Stunden vergeblich. Ich fühlte mich vollkommen leer, war froh, dass ich noch lebte und wollte nur noch nach Hause. Und eines wusste ich dabei mit