ungehört blieben. Meckern konnte er ohne Unterlass.
„Warum haben die schlafmützigen Deutschen keinen Bahndamm ins Gelände gebaut? Wir laufen über eine Stunde bis zur Arbeitsstelle, sagte einer vorhin, und eine Stunde zurück. Zwei Stunden mal 800 sind 1600 Arbeitsstunden Verlust jeden Tag. Und am Wochenende könnte der Herzog, der mit Verlaub einen sehr schönen französischen Namen trägt, in Begleitung seines Hofstaats mit der Bimmelbahn sein Prinzentum bereisen.“
Als niemand auf seine Bemerkungen einging, summte Jacques die französische Nationalhymne, wobei er ständig kontrollierte, wo die Wache sich gerade aufhielt. Für Liam hatte es in seinem Leben keine andere musische Unterhaltung als das Singen gegeben, sodass ihm nichts vertrauter war, als der Gesang. Er stimmte eine gälische Ballade an und verlor sich alsbald in immer leidenschaftlicheren Tönen, was die Wachen auf den Plan rief.
„Wir kennen deine Sprache nicht“, bölkte einer von ihnen. „Ein Wort noch, und du gehst ohne Schuhe weiter.“
Die Wachen mussten gut abwägen, was sie als Strafe androhten oder verhängten, denn im Lazarett würde man dahinterkommen, warum der Gefangene eingeliefert wurde und dort wollte das Personal nicht die Willkür von schlecht bezahlten und frustrierten Wachen ausbaden. Liam war sich keiner Schuld bewusst und grinste den Wachmann an, was dieser mit einem Tritt erwiderte. Liam wollte aus der Reihe schnellen, aber Jacques hielt ihn an der Jacke fest.
„Franzosenpack!“, posaunte der Wachmann und drohte mit der Faust. „Das nächste Mal bist du dran. Der Kommandant ist ein guter Freund von mir. Das regeln wir unter uns, Den Haag hin oder her.“
Für Jacques war es beruhigend, dass es Regeln gab, die zwischen den Kriegsparteien vereinbart worden waren. Machte ja auch Sinn, denn die deutschen Gefangenen sollten nicht schlechter behandelt werden, als die der Entente.
Jacques wandte sich an Liam.
„Sieh! Dort drüben. Die Pferde. Ein bisschen wie in der Camargue, nur eben deutsche Camargue mit Pferden aus der Steinzeit. In Höhlen haben deine Vorfahren solche Pferde an die Wände gemalt, die keltischen Urmenschen. Du trägst ihr Erbe auf dem Kopf. Mähne hier, Mähne dort bis in die Ohren.“ Er zeigte auf die Wildpferde, die sich in einer kleinen Herde grasend fortbewegten.
„Hör zu!“, flüsterte Jacques und zog Liam am Ärmel. „Wir schnappen uns zwei Gäule und ab geht die Post zurück nach Eire und Paris et les maisons de tolérance. Da! Schau! Der Zossen reckt den Kopf nach uns. Der mit dem braunen Schweif. Im Galopp in den Zirkus der Begierden. Bist du dabei?“ Noch leiser wisperte er: „Wir hauen ab, aber Schnauze. Kannst du reiten? Egal, wir nehmen einfach die Bahn.“ Jacques brach über seine eigenen Worte in Lachen aus und boxte Liam auf den Oberarm. „Rosskopf, wir schaffen das.“
Jacques hatte bereits einige Kilometer zurückgelegt und wunderte sich nun, warum er nicht mehr über seine ‚Beulenpest‘ an den Füßen jammerte. Der Traum von Freiheit und Heimat hatte ihn abgelenkt, weit fortgetragen in den Schoß einer Welt aus Lust und Lachen, Tanzen und Singen, Schampus und das ewig berauschende Spiel mit den Frauen, ihren entzückenden Stimmen und wonnigen Kurven.
Sie durchquerten einen alten Eichenwald, an dessen Ende ein Schild stand, auf dem das Merfelder Wappen abgebildet war. Das Schild sollten sie von nun an täglich passieren. Es zeigte einen Mann mit Stab und Schwein. In der Ferne erblickten sie in einer der Lücken, die sich zwischen den Bäumen auftaten, Haus Merfeld mit seiner großen Kapelle.
„Fast wie Zuhause in der Provence“, sagte Jacques im Plauderton. „Schloss, Weinberg, Fluss, Wild und einen Rock, ein rauschendes Fest, Ferkel am Spieß und die Mädchen befeuchten ihre roten Lippen. Junge, hast du keine Gefühle?“, pflaumte er Liam an. „Das macht den Franzosen aus. Er ist allzeit bereit und erschöpft sich nicht wie Rosskopf mit Balladen und Biersaufen. Hast du Kultur, Mann aus Eire? Sex? Schon mal gehört? Erzähl von deinen Lustgelagen. Ah, ich vergaß, du warst im Armenhaus. Männer und Frauen getrennt. Verflucht, ich halt lieber die Klappe.“
„Du willst wissen, ob Männer mit Männern und so weiter? Ich hab’s nicht gesehen, aber ich habe ein paar arme Kerle nachts stöhnen gehört. Sie haben ihnen den Mund zugehalten. Manche haben es für eine Zigarette gemacht. Gesehen habe ich es nie.“
Marcel Bresson deutete eine Pause an, nahm einen Schluck vom Wein, den ihn Marion an die Theke gestellt hatte, und fragte nicht danach, wie es den Leuten bisher gefallen hatte, sondern ob sie mehr über Jacques, Liam und die anderen hören mochten. Ein kräftiger Applaus warf ein Lächeln auf sein Gesicht.
Marion ergriff die Gelegenheit, schnell ihr Handy zu aktivieren und Karins Nummer zu wählen. Es schellte und je länger sie wartete, desto offensichtlicher wurde ihre Nervosität. Herr Lindenberg, neben dem sie Platz genommen hatte, fragte, ob alles gut sei, was Marion mit einer abwinkenden Handbewegung beantwortete. Sie nahm das Handy vom Ohr. „Karin geht nicht dran“, flüsterte sie mit besorgter Miene.
„Hoffentlich ist ihr nichts passiert“, meinte Lindenberg, und merkte direkt, dass er genau das Falsche gesagt hatte.
„Mir wird das zu bunt. Ich rufe die Nachbarin an.“ Marion suchte nach der Nummer und kurz darauf meldete sich Frau Berse, die sofort nach dem Rechten sehen wollte.
Bange Minuten
Bresson signalisierte mit einem umschweifenden Blick, dass er fortzufahren gedachte. Die vollschlanke Kellnerin mühte sich durch den schmalen Gang zwischen den Tischen und stellte ihr Tablett an der Theke ab. Es wurde still im schummrigen Mühlenraum. Mit einsetzender Dämmerung war es auch innen dunkler geworden. Eigentlich wäre es Marions Aufgabe gewesen, für ausreichend Licht zu sorgen, aber das hatten andere Helferinnen übernommen, die wohl ihre Not bemerkt hatten. Bresson warf einen flüchtigen Blick in sein Skript und legte los.
Der Weg wurde schlammiger, je weiter die Zwangsarbeiter in die Bauernschaft Börnste vordrangen. Die vereinzelt stehenden Wegkreuze spendeten ihnen keinen Trost. Millionen wurden im Krieg abgeschlachtet wie nie zuvor. Der Mann am Kreuz war vergeblich gestorben, die Christenwelt ein Fass voll Blut als Labsal für den Teufel. Entfernt sahen sie einen Pulk von Uniformierten, die vor einem Schuppen standen und rauchten. Als die ersten aus der Reihe der Gefangenen dort angekommen waren, wurden ihnen Schüppen, Spaten und Äxte in die Hände gedrückt, andere griffen sich Schubkarren und Eimer und trotteten weiter in den nahegelegenen Wald.
Als Jacques und Liam ihr Werkzeug erhalten sollten, beobachteten sie, wie vor ihnen zwei Männer aus der Reihe sprangen und sich bückten. Es geschah so schnell, dass sie erst beim dritten Mann, der vorpreschte, erkannten, dass sie die Zigarettenkippen, die die Soldaten auf den Boden geworfen hatten, erhaschten und sofort in ihrer Jacke verschwinden ließen.
Jacques rauchte nur, wenn er eine schnorren konnte und Liam hatte nie eine Zigarette angerührt. Als dann ein vierter Soldat seine Kippe vor die Reihe der wartenden Männer warf, ereiferten sich gleich drei, das Fitzchen Tabak in ihre Finger zu kriegen. Rabiat schob ein kräftiger Typ die anderen beiseite und bediente sich.
Jacques wandte sich an einen der Männer, der vor ihm stand.
„Was seid ihr so verrückt hinter den Kippen her?“
„Du Grünschnabel. Das ist die Währung hier im Knast. Alles wird mit Tabak bezahlt. Und wenn ich alles sage, meine ich es auch.“ Der Mann grinste und hielt nach anderen rauchenden Soldaten Ausschau.
Für Jacques war diese Neuigkeit ein gefundenes Fressen. Seine blühende Fantasie produzierte Fluchtszenarien am laufenden Band. Draußen im Leben konnte man alles mit Geld kaufen, innen im Lager alles mit Tabak. Alles bedeutete alles, aber dieses Alles war wenig, zu wenig für einen Franzosen aus Paris.
Die Verlockung, Tabak-Baron im Lager zu werden, ließ ihm keine Ruhe. Tabak öffnete Tür und Tor, verschaffte ihm Einfluss und im richtigen Moment würde er mit einem Bolzenschneider den Stacheldraht durchtrennen und abhauen. Unter einen der Waggons würde er sich zwängen und glorreich entkommen, und wenn Liam wollte, dürfte er mitkommen.
Seine Träumerei fand ein jähes Ende. Schüppe und Axt waren am meisten gefürchtet, denn die Arbeit mit diesen Werkzeugen kostete viel Kraft und