Sönke Bohn

Johanna verrückt die Geschichte


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über ein Unkraut zwischen den Gartenplatten, oder die glänzende Ringelnatter in der Ecke am Haus auf der Terrasse, der der Nachbar mit einem Spaten zu Leibe rückt, auf sie einhackt, als ob das Heil der Menschheit von ihrer Vernichtung abhinge, erregt, laut, aufgeregt. Überlaut, überüberaufgeregt.

      Was war das für ein schöner Sommertag gewesen! Papa ist bei der Arbeit, ich glaube, ich spiele in der kleinen Sandkiste, auf der Terrasse. Dann seh ich sie, hinten in der Ecke, wie sie langsam und leise über die warmen, im Wechsel gelblichen und bläulichen Platten schlängelt. Was ist das, eine Giftschlange, wird sie mich entdecken und mir Gift in meine Beine spritzen und dann werde ich sterben? Da rufe ich um Hilfe und schon kommt Mama aus der Terrassentür, was ist denn, meine Kleine? Mama, da liegt Kala Nag, sie wird uns totbeißen. „Um Himmels willen, Hilfe“, ruft sie, aber es kommt niemand, wer auch! Nun liegt die Schlange ruhig da, zusammengerollt, gleich wird sie sich aufbäumen, mit ihrer gespaltenen Zunge das junge, zarte Kind wittern und Kraft ihrer alten, verschlagenen Bosheit direkt auf die Sandkiste zugleiten und an dem vor Angst gelähmten Kind über die Beine zum Hals hinaufklettern und ihre beiden Giftzähne tief in den Hals hineinschlagen. Lautlos das Ganze, ich werde erst noch schreien, dann vor Schreck verstummen und da reißt mich schon Mama aus der Sandkiste, komm mit, schnell weg von hier, wir gehen nach vorne, holen uns Hilfe.

      Das ist mal aufregend! Eigentlich will ich nicht gehen, das Drama hat ja kaum angefangen. Wir retten uns, entsetzt, und laufen um das Haus herum, Mama, du bist ganz blass und da sehen wir glücklicherweise den Nachbarn, wie er sich mit Glanzpolitur an den Chromblenden der Vorderlichter seines weißen Ford Taunus zu schaffen macht. Durch seine getönte Pilotenbrille alle Schlieren genau begutachtend, mit aller gebotenen Sorgfalt, poliert, ja wienert er sehr eifrig sein sportliches Auto. Er wird wohl gleich unsere Rettung sein, männliche Tatkraft, zielstrebig, durchsetzungsfähig und voll starker Hingabe, und die beiden Schulterklappen geben ihm oberdrein – als ob seine drahtige Erscheinung so etwas noch nötig hätte – einen offiziellen, quasi soldatischen Anstrich. Einfach ein richtiger Mann, einer von Rang.

      Ihnen kurz helfen, Frau Börnsen? Wo brennt’s denn? Was, eine Schlange an Ihrem Haus, auf der Terrasse, dort wo das Kind spielt, bei der Sandkiste? Und schon geht er in seine Garage, packt mit seinen kräftig behaarten Armen einen Spaten, nun schon fast im Laufschritt aus der Garage kommend, kehrt noch einmal um, sucht kurz und zeigt sich alsbald mit zwei kräftigen, vor einem möglichen Schlangenbiss zumindest einen gewissen Schutz bietenden Handschuhen bewehrt. Nun schon auf unserem Grundstück kehrt er abermals um, um seine Sandalen mit dunkelgrünen, wadenhohen Gummistiefeln auszutauschen. Man kann ja nicht wissen. Das ist schon sehr umsichtig und schafft Vertrauen bei Mama und bei mir.

      Was ist das endlich mal aufregend!

      Dann zeigen Sie mal, und schon sind wir auf dem Weg, schön flott, zunächst, dann langsamer. Ist die Böse, das Ungeheuer uns gefolgt, lauert es hinter der Ecke, wie wird sie probieren, uns anzufallen. Das alles ist sehr spannend. Johanna, bleib bei mir. Mama nimmt mich an die Hand und drückt irgendwie ein wenig fester als nötig zu, aua, nicht so doll, ich lauf nicht weg und Herr Schnur geht langsam voran, guckt vorsichtig um die Ecke, da liegt sie noch, bleib bei mir, Kleines, als ich versuche, ein wenig näherzukommen, denn irgendwie ist es mittlerweile schon meine Schlange geworden, was jetzt wohl passiert, da will ich zugucken, lass mich bitte. Entschiedenen Schrittes geht Herr Schnur auf das Tier zu. Ohne den bösen Eindringling aus den Augen zu lassen, räumt er die der nun folgenden Bereinigung der Situation im Wege stehenden Gartenstühle mit ein, zwei Tritten aus dem Weg. Da liegen sie nun, die Gartenstühle, umgekippt. Doch ihn hat es nicht entspannt.

      Oh, mein Gott, hier haben wir wochenlang immer gesessen und keine Ahnung gehabt, was für eine Gefahr uns droht. Frau Börnsen, keine Kobra, das kriegen wir schon. Die hat sich mittlerweile ganz zusammengerollt, ob sie Böses im Schilde führt oder etwa Böses ahnt? Und mit der flachen Seite des Spatens schlägt Herr Schnur auf das kleine zusammengewickelte Paket erst einmal, dann ein zweites und ein drittes Mal, dann noch zwei weitere, nun nicht Schläge, sondern Stiche. Mamas Hand drückt jedes Mal mit zu und ich schaue nicht mehr nur gebannt zu dem erregt und irgendwie übertrieben zuschlagenden Herrn Schnur, sondern spüre irgendwie verstört, wie Mama nicht nur erleichtert, sondern nun anders erregt ist. Sie findet was an dem Herrn Schnur, sonst sind es nur Bemerkungen, die klarmachen, er ist nicht so wie wir, und er ist dadurch auch unangenehm anders – und nun: Bewunderung.

      Mein Mann ist nicht da, er hätte wohl mehr Mühe damit gehabt, ein Glück, dass Sie das in die Hand genommen haben, Herr Schnur, wir hätten das nicht geschafft, Sie sind wirklich großartig, wie Sie uns geholfen haben, so männlich … und schon schäme ich mich, meine Schlange ist tot und nun bin ich verstört, denn ich merke: Ich störe. Nun wird etwas geschehen, was nur geschieht, weil ich da bin, die verstümmelte kleine Schlange wird auf eine kleine Kinder-Schaufel gelegt und Herr Schnur trägt sie, Spaten dabei, vorn zur Straße. Da wird vor dem Kantstein ein kleines Loch gebuddelt und das tote Tier hineingeworfen, alles zugescharrt und gut ist. Mittlerweile ist auch Herr Sassner aus seinem Garten gekommen, ah, eine Ringelnatter, ja die haben wir auch im Garten, sind ja Gott sei Dank harmlos und so nützlich – was die Bewunderung Mamas nicht schmälert, also, wir wussten ja nicht und das Kind, sie meint mich – nun schon nicht mehr an der Hand, die Erde über dem kleinen Grab glattklopfend – das Kind war in der Sandkiste, na, Sie haben keine Kinder, das können Sie ja gar nicht verstehen. Ach, Herr Schnur, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich bin, nun muss ich mich aber erst mal von meinem Schreck erholen, darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Aquavit oder ein Bier? Ach gerne, und schon sind wir auf dem Weg zum Haus und plötzlich droht neue Gefahr, ich bin irgendwie verstört, Mama findet ihn toll und seine Frau ist so voll dick, da ist Mama schon schöner, möchtest du nicht wieder draußen spielen, er guckt auf ihre Brüste, Mamas sind groß und fest. Ich will unserem lieben Nachbarn noch etwas anbieten, aber so kenn ich Mama gar nicht und wenn sich Herr Schnur jetzt an den Tisch oder gar auf das Sofa setzt, wird er sich vielleicht noch Mama als Belohnung nehmen. Mama hat ja schon mal gesagt, dass er nichts anbrennen lässt. Mama ist grad so anders, ich glaube, sie vergisst sich – und Papa – mir ist das zu viel, nein, ich mag nicht spielen, ich will bei dir auf den Schoß. Na, dann komm. So bleibt es bei dem kurzen Begehren, in der Nachbarschaft ist sowas ja auch schwierig, das gäbe sicher Gerede und Mama kann ihn noch ein wenig bewundern und anhimmeln. Er trinkt sein Bier, leckt sich den Schnauzbart und kratzt sich zwischen den Beinen.

       6

      Johanna wächst und entwickelt sich, da geht es ihr nicht anders als anderen Mädchen, mal langsam und stetig, mal dann doch sprunghaft – was beides scheinbar nicht alle nachvollziehen können oder wollen. Hannchen sein, und auch, die Süße oder die Kleine sein zu sollen, finden bei ihr eine zunehmend langweilend-gereizte Aufnahme. Alles wird zu eng, zu sehr ist etwas jenseits von -chen und -lein in ihr, und dass andere auf die Deutungshoheit, wer sie ist oder sein sollte, pochen, ist ätzend (dieses Wort hat sie vom Bruder Torsten gelernt). Wo sie selbst ja noch nicht mal weiß, wo es hingehen soll. Selbst bei Kleinigkeiten.

      Kurze Haare, eine Mütze! Eine Hose! Für Jungs, na und? Familiäre Empörung hier und familiärer Spott da, das kurze Abwimmeln, das unaufmerksame Abtun ärgern, kränken, verletzen Johanna.

      So weggeschubst und quasi in das Dämmerdunkel wie einst Aschenputtel an den Platz unter der Treppe verbannt, wird es nun für Jahre zu einem heimlichen, nur hinter peinlich verschlossener Tür vollzogenem Ritual. Mit Schlips, einer Schiebermütze, die Hose bis zum Knie heraufgekrempelt und leicht gepludert, stellt sie sich vor den Spiegel am Schrank. Sie übt und spielt: der kühne Blick, der bass erstaunte, das Lachen breit, die Stirn in tiefe Falten geworfen, den tumben, starren Blick, mit offenem Mund. Spielt: gehorsam, aufmüpfig, total unschuldig, verführerisch, charmant-gewinnend, übt eine Weile das Zwinkern und lernt bald, ihre Augenbrauen jede für sich zu heben, zu bewegen, guckt und glotzt wie ihr Lehrer, Herr Schulze, wie Herr Braun aus dem Zeitungs- und Schnobkramladen. Das wird noch spannend, ein kleiner Kitzel, das reizt ein wenig.

      Sie macht das gerne, ja, manchmal fiebert sie diesen Gelegenheiten geradezu entgegen. Zur Heimlichtuerei genötigt, gewinnt das, was als harmloses, unschuldiges Spiel begann, eine zunehmend auch verzwängt lichtscheue Note.

      Denn, ja, irgendwas haben sie mit Johanna vor, das ist ziemlich deutlich. Es gibt wohl einen