Andrzej Olkiewicz

Die Kunst Einwanderer zu sein


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aus den Gesetzestexten verschwand, ist der Weg heraus aus dieser Misere für die Betroffenen lang und mühsam. Die Menschheit ist nicht immer edel. Einer öffentlichen Diskriminierung folgen oft volkstümliche Vorurteile. Dann braucht es eine lange Zeit, wenn es überhaupt geht, die negativen Stempel, die einer Gruppe aufgedrückt wurden, wieder zu beseitigen.

      Die heutige Gesellschaft, insbesondere die Führungsriege, muss erkennen, dass die Zeiten für begrenztes nationales Denken vorbei sind. Wir müssen den Begriff „national“ umdefinieren und ausweiten. Veränderungen dieser Art sind in der Geschichte immer wieder vorgekommen, aber in unserer Zeit geschieht dies schneller denn je. Nationalstaaten werden in allen Bereichen jetzt schon und künftig immer stärker von Einwanderern und in neuester Zeit von Flüchtlingen aus vielen Ländern der Welt beeinflusst.

      Es gilt, die häufig noch abwartende Einstellung gegenüber Einwanderern zu ändern und aktiv zu beginnen, die hier geballt auftretenden dynamischen Kräfte von Zuwanderern in die richtigen Bahnen zu lenken und somit positiv zu nutzen.

       Der Prozess lief schon lange, er hat alle Handlungen und Gefühle gefärbt, lange bevor man sich der Entscheidung [auszuwandern] bewusst war.

      Theodor Kallifatides9

       WESHALB MANCHE IHRE HEIMAT VERLASSEN

      Als der Vulkan Mt. Saint Helens an der Westküste der USA im Jahr 1980 einen Ausbruch hatte, wollten Rettungskräfte die Menschen aus dem Gefahrenbereich des Vulkans evakuieren. Trotz der drohenden Gefahr weigerten sich einige, mit den Rettungshubschraubern weg zu fliegen. Stattdessen wollten sie bleiben in der Hoffnung, die Gefahr würde sich verziehen. Das Wunder blieb aus und sie wurden unter der Asche begraben.

      Überall auf der Welt gibt es Menschen, die meinen, ihre Heimat und ihr Land nicht verlassen zu können. Andere brechen schon bei der ersten Andeutung von Gefahr oder Unannehmlichkeiten auf. Wieder andere verlassen ihr Land anscheinend ohne jeden ersichtlichen Grund.

      Manche sind jedoch der Auffassung, dass es immer einen Grund gibt. Sie meinen, dass es stets etwas im Hintergrund eines Auswanderers gibt, das ihn von zuhause wegtreibt. Das heißt, man reist nicht irgendwo hin sondern im Gegenteil von etwas weg.

      Die Schriftstellerin Rita Tornborg schreibt:

       Es spielt keine Rolle, ob der Einwanderer sein Land abrupt verlässt, wegen Krieg oder anderer Katastrophen, oder ob er den Beschluss nach reiflicher Abwägung selbst gefasst hat. Die Freiwilligkeit ist nur scheinbar. Auch in dem letzteren Fall gibt es im Hintergrund immer Verhältnisse, in die sich Menschen nicht einfinden wollen, die sie nicht beeinflussen können. 10

      Vielleicht ist es so, dass es immer mehr oder minder starke Gründe gibt, das Heimatland zu verlassen. Das kann die Sehnsucht sein, dem alltäglichen Trott, den erdrückenden Familienbanden, traditionellen Gesellschaftsstrukturen, wirtschaftlicher Hoffnungslosigkeit oder politischer Unterdrückung zu entkommen. Ohne diese Sehnsucht wären manche Bande schwer zu trennen. Ich habe oft darüber nachgedacht, weshalb keiner meiner Jugendfreunde versuchte, Polen zu verlassen. Sie waren von dem politischen Terror ja genauso betroffen wie ich. Als ich sie danach fragte, sagten sie, dass sie ihr Land niemals verlassen, selbst dann nicht, wenn sie die Möglichkeit dazu gehabt hätten. Manchmal kann der Traum von einem anderen Leben schon von Kindesbeinen an vorhanden sein. Ich selbst erinnere mich, dass ich bereits in meinen frühen Teenager-Jahren die Idee hatte, fortziehen zu wollen. Das war weniger ein Fluchtplan als vielmehr ein diffuser Traum.

      Der Schriftsteller Theodor Kallifatides, der als 26-jähriger Griechenland während der Militärdiktatur verließ, schreibt, dass er vielleicht schon als 13-jähriger seine Auswanderung ins Auge gefasst hatte:

       Wusste ich etwa schon damals, dass ich eines Tages aufbrechen würde, um fremden Häfen entgegen zu fahren? Das ist nicht unwahrscheinlich, da ich schon sehr früh die Lust oder den Traum hatte, das Land zu verlassen, einen Stein hinter mich zu werfen und den Staub des Heimatlandes von meinen Schuhen zu wischen. Einige von uns werden geboren, um fort zu ziehen. Ich war eindeutig so einer. 11

      Die Ursache könnte sein, dass die Umgebung als allzu einengend empfunden wird. Der gesellschaftliche Rahmen und die überlieferten Traditionen können für die Entwicklung der eigenen Person zu dem, was man eigentlich meint, sein zu können, als hinderlich empfunden werden.

      Dies wird deutlich am Beispiel der Japanerin, die seit 12 Jahren in Polen wohnt und erzählt, dass sie sich in Japan immer als Rebellin empfunden hat. Sie hatte ihr Leben lang Schwierigkeiten, sich in die Begrenzungen einzufinden, die die japanische Gesellschaft Frauen aufzwingt. Als ihre Kinder erwachsen waren, trennte sie sich von ihrem Mann und verließ die Familie und das Land:

       … fest entschlossen, ein neues Leben zu beginnen. […] Ich begriff, dass ich zum Bleiben mehr Kraft brauchen würde, als zum Fortgehen. 12

      Nicht selten handelt es sich um eine Befreiung von den Eltern, die immer noch die Kontrolle ausüben. Eine junge Frau aus Venezuela sagte kurze Zeit nach ihrer Ankunft in Schweden: „Wenn ich überleben wollte, war ich gezwungen, mindestens ein oder zwei Kontinente zwischen mich und meine Mutter zu bringen.“

      Was man hinter sich lassen möchte, ist das Negative, das hinderlich ist für die eigene Entwicklung zu dem, was man gerne werden möchte. Es wird häufig nach Möglichkeiten gesucht, seine Träume zu verwirklichen. Die Medaille hat sozusagen zwei Seiten: Einerseits das, was ich verlassen und andererseits das, was ich erreichen will. Manchmal ist man sich über die beiden Seiten im Klaren, manchmal nicht.

      Der herausragende ugandische Verfasser Moses Isegava beschreibt diese beiden Seiten:

       Seit den 1980er Jahren und danach wusste ich mit Sicherheit, dass ich früher oder später Uganda verlassen musste. Das Gefühl wuchs langsam aber sicher, zum Schluss beherrschte es mich rein physisch. Ich wollte neue Horizonte entdecken, mich selbst ausprobieren, um zu sehen, ob ich es schaffen würde, ein Buch zu schreiben. Ich sehnte mich nach einem Platz, der alles war, was mein berechenbares Uganda nicht war, ein Platz, wo ich meine Flügel entwickeln und fliegen könnte, um eine andere Art des Lebens und Daseins zu entdecken. Ich sehnte mich nach einem Platz, wo niemand mich kannte … 13

      Heutzutage verlassen viele junge Menschen ihre Heimat für eine kürzere oder längere Zeit. Eine neue Welt hat sich geöffnet, mit neuen Kontinenten, wo man sich niederlassen kann. In dem neuen Europa mit den Möglichkeiten der Freizügigkeit, verändert sich die Gestalt der Emigration, zumindest äußerlich.

      Es ist die Frage, weshalb einige Menschen ihre Heimat verlassen, obwohl sie in florierenden, freien, demokratischen Ländern wohnen.

      Zwei schwedische Journalistinnen, Lisa Irenius und Madelaine Levy, haben junge Schweden im Alter von 20 bis 30 Jahren in Paris, London, Barcelona, Berlin und anderen Städten beobachtet. Sie stellten fest, dass nicht in erster Linie die Hoffnung auf wirtschaftlichen Profit diese jungen Leute dazu bewegt hatte, sich in anderen Ländern niederzulassen. Vielmehr lebten viele im Ausland in ganz miserablen Verhältnissen und hatten es wirtschaftlich deutlich schlechter, als sie es in Schweden gehabt hätten. Stattdessen lagen hauptsächlich persönliche und gefühlsmäßige Ursachen hinter der Emigration. Sie hatten auch jenen Traum von einem wunderbaren Leben:

       Viele von denen, die außer Landes zogen, wirkten wie von einer bemerkenswert starken Kraft getrieben – der Vision von dem perfekten Leben in der Stadt der Träume. […] Die Stadt, in der du aufgewachsen bist, ist befleckt mit peinlichen und glanzlosen Teenager-Erinnerungen. Demgegenüber verspricht die ausländische Metropole, von der du immer geträumt hast, ein ganz anderes Leben. 14

      Der Wunsch, eine neue Gemeinschaft zu finden, ist ebenfalls eine Triebkraft für einen Teil dieser jungen Menschen. Hinter der Emigration steht vielleicht die Trennung der Eltern oder der Freundeskreis, in den man glaubte, nie richtig hineingepasst zu haben.

      Den