Eva Weissweiler

Das Echo deiner Frage


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Sanremo zurückkehrte. Er war aus dem Internierungslager entlassen worden und sah viel besser aus als drei Wochen vorher, als ich ihn auf meinem Weg dorthin sah. Wenn du irgendwelche Neuigkeiten hast, lass es mich wissen, ich bin furchtbar besorgt um ihn.[8]

      WissingsWissing, Egon Antwort kommt im April 1941. Er schreibt ihr, dass Walter Benjamin sich am 26. September 1940 im spanischen Grenzort Portbou umgebracht hat, mit einer Überdosis Morphium, die er für Notfälle bei sich trug, obwohl er bereits ein amerikanisches Visum hatte. Wenig später, am 26. Mai 1941, schreibt ein alter Freund, Gershom ScholemScholem, Gershom (Gerhard), ihr dasselbe, wenn auch mit anderen Worten:

      Liebe Dora,

      Ich habe mit deiner Schwester PaulaKellner, Paula gesprochen, die wegen StefanBenjamin, Stefan Rafael zu mir kam und mir deinen Brief vom 13. März brachte. Ich brauche dir nicht zu sagen, dass ich zu glücklich wäre, wenn ich StefanBenjamin, Stefan Rafael helfen könnte, nach Amerika zu kommen. Um die Wahrheit zu sagen, hat es mich bei der Lektüre deines Briefes weniger schockiert, was du über StefansBenjamin, Stefan Rafael Schwierigkeiten schreibst […] als dass Du offenbar nichts über Walters tragisches Schicksal weißt. Ich nehme an, dass keiner deiner Freunde Genaueres darüber wusste, oder dass diejenigen, die es wussten […] deine Adresse nicht hatten. Darum mag es sein, dass ich der Erste bin, der Dir sagt, dass StefansBenjamin, Stefan Rafael Vater einen höchst tragischen Tod in Portbou (Spanien) gestorben ist am 26. September 1940, nachdem er Frankreich verlassen hatte, mit einem amerikanischen Visum und nachdem alles für seine Zukunft dort geregelt war. In einem nervösen Kollaps hat er Morphium genommen. Walters Freund Theodor Wiesengrund AdornoAdorno, Theodor W. – der sich nunmehr AdornoAdorno, Theodor W. nennt – hat die exakten Daten. […] Ich bin sehr traurig, dass ich dir keine besseren Nachrichten als diese bringen kann. Deine Mutter, die sehr krank war, starb an dem Tag, als deine Schwester […] zu mir kam. Ich bin in meinen Gefühlen bei dir. Walter hat einen Brief für StefanBenjamin, Stefan Rafael hinterlassen. Er muss von der Frau, der er ihn übergab, bevor er ins Koma fiel, vernichtet worden sein. Ich kenne die Gründe nicht, aber ich nehme an, dass sie schwerwiegend waren. Diese Frau ist nun wahrscheinlich schon in New York, und AdornoAdorno, Theodor W. wird sicherlich in der Lage sein, dir nähere Einzelheiten zu nennen. Dasselbe geschah mit einem Brief an seine Freunde, den er ihr ebenfalls hinterlassen hatte. Dies ist eine schreckliche Zeit, und ich werde mich nicht weiter über Dinge auslassen, die wir beide besser kennen, als mit Worten auszudrücken ist. Wenn nach diesem Krieg noch etwas von menschlichen Werten zurückbleibt, worauf wir nicht aufhören sollten zu hoffen, wird die Zeit kommen, in der wir den Menschen erzählen werden, was Walter uns bedeutet hat. In der Zwischenzeit müssen wir bleiben, wo wir sind, und weitermachen. Mein Bruder WernerScholem, Werner ist ungefähr zur selben Zeit wie Walter gestorben, in Buchenwald.

      Grüße Stefan von mir. Dein GerhardScholem, Gershom (Gerhard).[9]

      Auch wenn sie die Botschaft schon kannte, musste sie weinen, als sie ScholemsScholem, Gershom (Gerhard) Handschrift auf dem Umschlag sah, denn er war einer ihrer ältesten Freunde und hatte ihre Beziehung zu Walter Benjamin von Anfang an miterlebt, von den glücklichen ersten Monaten bis zur Scheidung. Am 15. Juli 1941 schreibt sie zurück:

      Lieber GerhardScholem, Gershom (Gerhard),

      Walters Tod hat ein Vakuum hinterlassen, das langsam aber sicher alle meine Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft aufsaugt. Ich weiß, dass ich ihn nicht lange überleben werde. Du wirst darüber überrascht sein, weil ich nicht länger Teil seines Lebens war, aber er war ein Teil des meinigen. Und das nicht so sehr durch seine regelmäßigen Besuche und die Hilfe, die ich ihm (wenig genug) geben konnte, sondern mehr als alles andere durch den einfachen Umstand, dass er lebte. Ich dachte und fühlte, dass eine Welt, die imstande sei, einen Menschen von seinem Wert und seiner Gefühlstiefe am Leben zu erhalten, trotz allem anderen keine so schlimme sein könne. Es scheint, dass ich mich geirrt habe.

      Heute ist sein Geburtstag. Mehr muss ich Dir nicht sagen. EgonsWissing, Egon Nachricht, dass Du noch lebst, war tröstlich für mich. Und dass die Vergangenheit, die in Deiner Erinnerung so wie in meiner lebte, noch nicht tot war. Ich erinnere mich an nichts Dunkles, an kein Leid, das er mir zugefügt hat. Ich denke an ihn wie ich es in Bern […] tat, als Du mich fragtest, was der Sinn des Lebens für mich sei und ich Dir sagte: ihn zu schützen und ihn fähig zum Leben zu machen.

      Er wäre nicht gestorben, wenn ich bei ihm gewesen wäre […].

      StefansBenjamin, Stefan Rafael Repatriation ist nun beantragt worden, und ich hoffe, dass er bald zurückkommen wird, obwohl die Reise sehr gefährlich ist und lange dauern wird. […] Bitte sage StefanBenjamin, Stefan Rafael oder irgendjemandem, der es ihm sagen könnte, nichts von Walters Tod. Er ist nicht in der Verfassung, es zu hören […].[10]

      Als ich ihn zuletzt gesehen habe, flehte ich ihn an, nach London zu kommen, wo schon ein Zimmer für ihn fertig war, und auf sein Visum und alles andere dort zu warten. Nach seiner Entlassung aus dem Lager schien er mehr geneigt, das zu tun. Ich bin mir sicher, dass die Adornos alles Mögliche getan hätten, um ihn dorthin zu bringen.

      Alles Liebe, auch für Deine Frau, die ich nicht kenne. Wie immer, Deine Dora.

      1 Dora Kellner: Wiener Kindheit um 1900

      Großmutter Klara

      Am 6. Januar 1890 war es in Wien bitterkalt. Seit Tagen jagten Schneestürme über die Stadt. Die Straßen waren kaum passierbar, sämtliche Schulen geschlossen, die Hospitäler hoffnungslos überfüllt mit Patienten, die an Lungenentzündung oder Influenza litten. »Mit Ausschluss der Vororte« starben pro Tag etwa 40 bis 50 Wienerinnen und Wiener, darunter hauptsächlich Frauen, Alte und Kinder. Zeitweise seien es aber auch schon über 100 gewesen, und zwar ausgerechnet während der Weihnachtstage, schreibt die Neue Freie Presse.[11] Ein Ende der Grippe war nicht in Sicht, weder in Wien noch in anderen Metropolen Europas.

      Trotzdem hatte sich Klara WeißWeiß, Klara, geborene Schwarzberg, aus Bielitz im österreichischen Oberschlesien aufgemacht, um ihrer Tochter Anna bei ihrer zweiten Niederkunft beizustehen. KlaraWeiß, Klara war 50 Jahre alt, eine große, schlanke Erscheinung, obwohl sie zwölf Kinder bekommen hatte: Leopold, MoritzWeiß, Moritz, AnnaKellner, Anna (geb. Weiß), Hermine, Sidonie, Jenny, RosaSchanzer, Rosa (geb. Weiß), HenrietteWeiß, Henriette, Leo, Laura, Cilly und Hugo. Sie hatte bisher allen Töchtern geholfen, wenn sie Kinder bekamen, und wollte es auch diesmal, trotz Grippe und Schnee, wieder tun. Die »richtige« Hebamme, Klara DreikursDreikurs, Klara,[12]