dass er offenbar über ein breit gestreutes Allgemeinwissen verfügte, das auch vor Trivialem nicht haltmachte. Er hatte den Eindruck, dass er wahllos gebildet war. Er schien sich gleichermaßen für Literatur wie auch für Comics, für Schlagermusik wie auch für Jazz, für Gedichtbände wie auch für den Ikea-Katalog zu begeistern. Vor allem aber hatten es ihm Zahlen angetan. Er war in der Lage, mathematische Zusammenhänge in kürzester Zeit zu erfassen. Als er beim Kartoffel-ab-Hofverkauf zugeschaut hatte, hatte er die Endsummen errechnet, noch bevor Marlene den Taschenrechner eingeschaltet hatte. All diese Fähigkeiten hatte er an sich festgestellt, aber er wusste immer noch nicht, wer er war, was er war und woher er gekommen war. Der Bereich in seinem Gehirn, in dem seine sämtlichen autobiografischen Informationen enthalten waren, schien komplett gelöscht. Dr. Hoppe hatte verschiedene Tests mit ihm durchgeführt und war zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich um eine dissoziative Amnesie handeln musste, bei der das sogenannte semantische Gedächtnis, das das erlernte Weltwissen enthält, nicht beschädigt wurde, dafür aber das episodische Gedächtnis, das für die rückwärts gerichtete Erinnerung verantwortlich ist. Das sei nichts Ungewöhnliches, so Dr. Hoppe, da die unterschiedlichen Informationsformen unabhängig voneinander in verschiedenen Gehirnarealen gespeichert würden. Was zu dieser Amnesie geführt haben sollte, darüber konnte auch der Arzt nur spekulieren. Höchstwahrscheinlich hatte aber der mit viel Schwung geführte Holzeimer zu einem schweren Schädel-Hirn-Trauma geführt, das wiederum den Gedächtnisverlust ausgelöst haben könnte.
Diese Diagnose hatte bei Marlene zu fürchterlichen Gewissensbissen geführt – und das, obgleich sowohl der Schlag gegen den Kopf als auch die Mistgabel im Bein bei Walter zu keinerlei bleibenden körperlichen Schäden geführt hatten. Die Forke hatte zwar Schmerzen verursacht, die Stichverletzung selbst war allerdings eher oberflächlich gewesen, da die Zinken keine Arterie erwischt, sondern nur eine Fleischwunde bewirkt hatten. Und so ging es Walter an diesem späten Vormittag den Umständen entsprechend gut. Die Kopfschmerzen waren verschwunden und der bandagierte Oberschenkel zwickte nur noch ab und zu ein wenig. Dennoch hatte Marlene Hastenrath darauf bestanden, den unfreiwilligen Gast so lange zu umsorgen, bis seine Herkunft geklärt war. Sie tat das mit so viel mütterlichem Altruismus, dass Walter sich fast wünschte, sein Gedächtnis nie mehr wiederzuerlangen. Auch wenn Marlene es gelegentlich mit ihrer Fürsorge übertrieb, so war es laut Dr. Hoppe durchaus wichtig, dass Walter zur Ruhe kam und sich erholte. Denn das konnte neben anderen Therapiemaßnahmen ein guter Weg sein, dass er möglichst bald seine Erinnerung wiederfand. Eine Prognose, wie lange der Zustand anhalten könne, mochte Dr. Hoppe indes nicht abgeben. Irgendwo zwischen ein paar Tagen oder mehreren Jahren, meinte er, was man durchaus als vage Terminierung bezeichnen konnte.
Während Hastenraths Will alle seine politischen und gesellschaftlichen Kontakte nutzte, um herauszufinden, ob irgendwo jemand vermisst wurde, kümmerte sich seine Frau hingebungsvoll um den Hausgast. Nachdem sie ihm ein Glas Mineralwasser eingegossen hatte, stellte sie ihm einen duftenden und völlig überladenen Teller auf den Tisch. „Guten Appetit. Greif zu, es ist genug von alles da.“
Walter sog mit geschlossenen Augen die aromatische Geruchsmelange ein. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so gut gegessen zu haben wie in den letzten beiden Tagen, und das lag nicht daran, dass er sich ohnehin an nichts erinnern konnte. Schließlich wusste er ja zum Beispiel noch, wie eine Auster schmeckte oder ein Glas Bier. Seine Sensorik war absolut intakt. Als er die Augen wieder öffnete und voller Vorfreude das Besteck zur Hand nahm, stutzte er. Der Berg, der sich vor ihm auftürmte, bestand aus drei Elementen: Sauerkraut und Kartoffelpüree erkannte er sofort, aber die beiden rechteckigen, knusprig gebratenen Scheiben mit den kleinen, eingesprenkelten Speckaugen hatte er noch nie zuvor gesehen. Er deutete mit dem Finger darauf und fragte vorsichtig: „Was … bitte schön … ist das denn?“
Marlene, die schon wieder zum Herd zurückgekehrt war, um auch Wills Portion zuzubereiten, drehte sich um. Während sie ihre Hände an der großen Schürze abwischte, die sie um ihren Kittel gebunden hatte, antwortete sie mit einem breiten Lächeln: „Das ist das Beste, was es gibt: Panhas! Da ist alles drin, was schmeckt: Speck, Zwiebeln, Gewürze und Schweineblut.“
Walter zuckte zusammen. „Blut?“
„Ja, aber natürlich geronnenes Blut. Das ist eine Spezialität. Das muss außen richtig schön kross sein und innen weich. Wenn früher bei uns auf der Hof geschlachtet wurde, da haben wir Kinder immer in ein Eimer das Blut gesammelt, für dadraus Panhas zu machen. Der Will sagt gerne: von ein Schwein kann der Mensch alles verwenden: das Fleisch für zum Essen, die Borsten für der Besen, die Haut für Leder und der Name als Schimpfwort!“
Walter musste lachen, wenngleich ihm die beiden angekokelten Fleischersatzscheiben auf seinem Teller immer noch suspekt erschienen. Dennoch nahm er sich ein Herz, schnitt ein Stück ab und schob es sich vorsichtig in den Mund. Marlene beobachtete ihn erwartungsvoll. Walter ließ die fremde Speise einen Moment auf der Zunge liegen und zerkaute sie dann. Anschließend nahm er eine Serviette zur Hand, wischte sich den Mund ab und sagte: „Liebe Marlene, das ist nicht weniger als eine Geschmacksexplosion! Großartig! Kompliment!“
Marlene strahlte über das ganze Gesicht, auf dem sich eine leichte Röte ausbreitete. Dann sah sie auf die Uhr und sagte: „Wo bleibt denn bloß der Will?“
Hastenraths Will befand sich auf der Rückfahrt aus Heinsberg. Sein guter, alter Mercedes 190 D quälte sich über die kurvenreiche Landstraße, die nach Saffelen führte. Vor zwei Wochen hatte er die 200.000-Kilometer-Marke geknackt, aber dennoch verschwendete er keinen Gedanken daran, sich von seinem treuen Gefährt zu trennen. In der Stadthalle Heinsberg hatte der Landwirt am monatlich stattfindenden Ortsvorsteher-Frühschoppen teilgenommen, bei dem die Chefs der einzelnen Ortschaften sich regelmäßig zu bi- oder multilateralen Gesprächen trafen. Meist ging es dabei um die Abstimmung von Schützenfesten oder Umzügen, die möglichst nicht am selben Wochenende stattfinden sollten, oder Toilettenwagen, die man kostenmäßig miteinander zu teilen beabsichtigte. Will hatte seine Teilnahme an dem in erster Linie gesellig geprägten Treffen ausgiebig dazu genutzt, herauszufinden, ob irgendjemand etwas über einen vermissten Mann mit grau-weißem Bart wusste. Die meisten hatten schon von dem sonderbaren Gast der Hastenraths gehört, aber niemand konnte ihn identifizieren, obwohl Will sich extra ein Porträtfoto von Walter hatte vergrößern lassen. Entsprechend enttäuscht hatte er die Rückfahrt angetreten.
Während er abwechselnd mit der linken Hand und dem Knie lenkte, tippte er auf seinem Handy die Nummer eines guten alten Bekannten ein: Peter Kleinheinz. Kleinheinz war als Hauptkommissar mittlerweile zum LKA nach Düsseldorf gewechselt und hatte mit Will gemeinsam in den letzten Jahren schon mehrere Kriminalfälle erlebt, nicht immer freiwillig. Mit der Zeit war eine tiefe Freundschaft daraus erwachsen und entsprechend fröhlich meldete sich der Beamte auch am anderen Ende:
„Will, alter Halunke. Was verschafft mir die Ehre?“ Will war einen kurzen Moment irritiert, weil er seinen Freund meist als grüblerischen Bedenkenträger kannte. Aber diesmal schien der sonst schon mal gerne etwas schroffe Kommissar heiter gestimmt zu sein.
„Peter, grüß dich, altes Scheißhaus“, gab Will salopp zurück, „ich bräuchte mal wieder dein fachmännischer Rat.“
Es knackte kurz und heftig in der Leitung, aber dann hörte man wieder den gut gelaunten Kleinheinz. „Aber zieh mich bitte nicht noch mal in eine Sache rein, bei der ich mich verletze. Die Wunden vom letzten Mal sind gerade erst verheilt.“
„Nein, um Gottes willen“, beschwichtigte Will und verriss dabei kurz das Lenkrad. Nachdem er den Wagen zurück in die Spur gebracht hatte, fuhr er fort: „Es ist Folgendes: Wir haben bei uns im Stall ein Mann aufgegriffen, der nicht mehr weiß, wer er ist. Das hatten wir zwar schon mal öfter, aber bis jetzt war das immer nur der Borowka.“
Will lachte laut und Kleinheinz stieg sofort mit ein. Nachdem Kleinheinz das Wort „Borowka“ noch einmal schmunzelnd und offensichtlich kopfschüttelnd wiederholt hatte, sprach Will mit ernster Stimme weiter: „Das Problem ist: Keiner kennt der Mann. Ich hab gerade mal überall rumgefragt, aber es gibt noch nicht mal einen, der einen kennt, der einen kennt, der mir was über der Mann sagen kann. Das ist schon sehr seltsam. Der Dr. Hoppe sagt, der Mann hat eine Amsenie mit irgendein komisches Wort davor.“
„Wahrscheinlich