Christian Macharski

Die Rache des Waschbären


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Zerreißen gespannt. Erst fünf Minuten zuvor hatte es Sturm geklingelt. Will hatte es jedoch ignoriert, weil er keinen Besuch erwartete. Und selbst wenn jemand Kartoffeln, Möhren oder Kohlrabi hätte kaufen wollen, so wäre auch das kein Grund für ihn gewesen, die Tür zu öffnen. Denn auch dieser Geschäftsbereich gehörte zu Marlenes Aufgaben, da sie wesentlich besser darin war, unter Druck so komplizierte Sachen wie Wechselgeld auszurechnen. Doch diesmal blieb der Besuch hartnäckig, denn erneut jaulten die Klingel und Attila unerbittlich auf. Wütend erhob sich Will, rieb seine Arme notdürftig mit einem alten, löchrigen Spüllappen ab und stapfte auf seinen Gummistiefeln durch den Flur in Richtung Küche. Als er von der Küche in den Flur einbog, rutschte einer der Hosenträger, die Wills ausgebeulte graue Arbeitshose zu halten versuchten, herunter. Fluchend schob er ihn wieder zurück auf die Schulter und riss die Haustür auf. „Wer zum Teufel …?“

      Er hielt verdutzt inne, denn das markante Gesicht, das ihm mit perlweißen Zähnen entgegenstrahlte, kam ihm nur zu bekannt vor. Bei der klingelnden Nervensäge handelte es sich um Peter Kleinheinz, jenen Kommissar, mit dem Hastenraths Will in der Vergangenheit schon den ein oder anderen Kriminalfall gelöst hatte. Seit dem letzten Fall waren allerdings schon fast zwei Jahre vergangen. Damals hatten sie gemeinsam einen Killer zur Strecke gebracht, der aus dem Gefängnis ausgebrochen war. Kleinheinz hatte dabei eine komplizierte Verletzung davongetragen. Monate später waren sie sich noch mal auf dem Heinsberger Stadtfest begegnet, zu dem Marlene Will mitgeschleppt hatte. Kleinheinz ging damals noch an Krücken, was Marlenes Begeisterung für den gut aussehenden Polizisten aber nicht im Geringsten gedämpft hatte. Und auch jetzt musste Will feststellen, dass der Kommissar immer noch aussah, als sei er einem Katalog für Herrenmode entsprungen. Das eng taillierte, kurzärmelige Hemd, das seinen muskulösen Oberkörper vorteilhaft in Szene setzte, und die angegrauten Schläfen seines vollen Haars würden Marlene wieder an den Rand einer Ohnmacht bringen. Zum ersten Mal seit Langem war Will froh, dass seine Frau beim Training und nicht zu Hause war.

      „Oh, Herr Kleinheinz! Das ist aber eine Überraschung“, sagte Will aufrichtig erfreut. Der Kommissar lächelte breit: „Peter!“

      „Was?“

      „Ich bin Peter. Wir waren doch schon längst beim ‚Du‘ angekommen, Will.“

      „Oh ja, natürlich“, entgegnete Will verlegen. „Öhm … komm doch rein – du. Du hast Glück. Marlene hat eben noch ein frischer Kaffee aufgeschüttet.“

      Während Kleinheinz sich in der Küche auf die Eckbank setzte, sah er sich in der Küche um. „Hier hat sich absolut nichts verändert seit damals.“

      „Bis auf das Einschussloch im Türrahmen“, lachte Will und stellte die Kaffeekanne auf den schweren Eichentisch, über dem wie immer ein Fliegenklebeband voller toter und halbtoter Insekten hing, das von dem Luftzug, den die offene Haustür verursacht hatte, leicht hin und her schwang. Nachdem Will auch zwei Tassen auf den Tisch gestellt hatte, goss er beide bis zum Rand voll und fragte: „Wie geht es Sie denn, Herr … Entschuldigung. Wie ist es dir, Peter? Und was machst du überhaupt hier in Saffelen?“

      Kleinheinz verschränkte die Arme hinter dem Kopf und holte tief Luft. „Ich habe Urlaub und lasse es mittlerweile alles etwas ruhiger angehen. Ich komme gerade zurück aus Irland. Vier Wochen mit dem Boot über den Shannon. Angeln, lesen, nix tun. Herrlich. Und jetzt, habe ich mir gedacht, kümmere ich mich mal wieder um ein paar soziale Kontakte. Ich bin da immer etwas nachlässig gewesen. Ich hatte eben schon Angst, hier wäre keiner. Ich hatte vorhin nämlich schon mal geklingelt.“

      „Ach so. Du warst das! Ich hatte extra nicht aufgemacht. Ich dachte, das wären die Verbrecher von der GEZ.“

      „Zwischendurch habe ich’s nebenan versucht. Bei deinem Feuerwehrfreund. Aber da hat auch keiner aufgemacht. Ich hatte schon die Befürchtung, Saffelen wäre evakuiert worden.“

      Will lachte laut auf: „Ha, ha. Evakuriert. Du bist ein Scherzbold, Peter. Nee, der Josef ist mit seine Frau für sechs Wochen in Kur. Die hatte dem unser alter Dorfarzt noch verschrieben, kurz bevor der gestorben war. Und da wollten die das schnell einlösen, bevor die Krankenkasse am Ende noch pleite geht. Aber ich muss ganz ehrlich sagen, Kur wär nix für mich. Da hätte ich gar keine Zeit für.“

      Kleinheinz nippte an der Tasse und sah den Landwirt mit ernster Miene an. „Das ist aber wichtig, Will. Man muss sich auch mal Auszeiten nehmen. Früher habe ich das auch anders gesehen. Nach meiner Scheidung habe ich Tag und Nacht gearbeitet. Ich habe mich nicht mehr mit Freunden getroffen, keine Hobbys gepflegt. Aber seit dieser Drecksack mich im Büro niedergeschossen hat, sehe ich das alles etwas anders. Seitdem weiß ich, wie schnell alles vorbei sein kann.“

      Will setzte einen verständnisvollen Blick auf. Weil ihm nichts dazu einfiel, sagte er: „Da sagst du was. Letzte Woche Donnerstag ist Theo Jaspers gestorben, der Vater von Fredi.“

      „Oh“, murmelte Kleinheinz ehrlich betroffen, denn Fredi war ihm in den letzten Jahren auch sehr ans Herz gewachsen – jedenfalls mehr als dessen großspuriger Kumpel Richard Borowka.

      „Das ging ratzfatz“, erzählte Will weiter, „Bauchspeicheldrüsenkrebs. Der Theo ist natürlich auch viel zu spät zum Arzt gegangen. Dann hat der die Diagnose bekommen und zwei Wochen später war der tot. Jetzt am Freitag ist die Beerdigung.“

      Der Kommissar nahm nachdenklich einen Schluck. Nachdem er die Tasse wieder abgesetzt hatte, sagte er, ohne aufzusehen: „Weißt du, Will. Ich habe mich in den letzten anderthalb Jahren viel mit dem Tod beschäftigt. Nachdem ich niedergeschossen worden war, hing mein Leben am seidenen Faden. Ich wurde mehrere Stunden operiert. Eine Schwester, die bei der OP dabei war, hat mir Monate später gesagt, dass ich zwischendurch sogar für sechs Minuten tot war.“

      „Du warst was?“ Vor Schreck verschüttete Will Kaffee über seiner Hand, unterdrückte aber mannhaft einen Schmerzensschrei.

      „Klinisch tot. Mein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Und soll ich dir was sagen? Ich habe alles mitbekommen. Ich habe meinen Körper verlassen und unter mir die Ärzte am OP-Tisch gesehen, wie die ganz hektisch versucht haben, mich wiederzubeleben. Ich bin immer weiter weggeschwebt. Und es war ein ganz wunderbarer Moment. Ich wollte gar nicht mehr zurück.“

      Will hob die Hand. „Moment mal. Du willst mich verulken, oder? Ich meine, ich hab so ein Quatsch mal im Fernseher gesehen. Ich glaube, bei Günther Jauch. Das nannte sich Nachtoderfahrungen oder so. Da hat so eine verrückte, esoterische Tante erzählt, dass die allen Ernstes …“

      „Nahtoderfahrungen“, verbesserte Kleinheinz ihn. „Das ist kein Quatsch. Ich hab’s doch selbst erlebt. Ich habe sogar meinen Lieblingsonkel getroffen im … Wo auch immer. Der ist seit über 20 Jahren tot.“

      Will schüttelte den Kopf. „Es kann ja sein, dass man Hallunzinationen kriegt, wenn man unter Medikamente steht, aber, ehrlich gesagt: Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod. Das würde ja bedeuten, dass alle Menschen irgendswie weiterleben. Wie soll das denn organisatorisch gehen? Hier auf der Erde ist ja schon kaum Platz für alle. Das kann nicht. Wenn wir der letzte Vorhang fallen lassen, dann heißt es ‚Klappe zu, Affe tot‘. Ist meine Meinung.“

      Bevor Kleinheinz widersprechen konnte, wurde die Haustür aufgeschlossen und die fröhliche Stimme von Marlene Hastenrath erfüllte das Haus: „Will! Ich bin wieder da. Was ist das denn da für ein fremdes Nummernschild vorm Haus?“ Als sie die Küche betrat, zuckte sie zusammen. Der Anblick von Kommissar Kleinheinz trieb ihr augenblicklich die Röte ins Gesicht. Allerdings weniger aus Verzückung als vielmehr aus Verlegenheit, denn ihre Sportbekleidung hatte schon bessere und erst recht schlankere Zeiten erlebt. Die abgewetzte Jogginghose mit dem ausgeleierten Bund stellte vor allem die Oberschenkelpartie in kein besonders gutes Licht. Wenigstens lenkte die knallbunte Ballonseide-Trainingsjacke ein wenig von den strammen Beinen ab, auch wenn der Reißverschluss sich nur zu etwa zwei Dritteln schließen ließ und die üppige Oberweite kaum zu bändigen verstand. Am unangenehmsten aber war Marlene das rote Stirnband mit der Werbeaufschrift der Weight Watchers. Während sie Kleinheinz unsicher zunickte, versuchte sie, es sich so beiläufig wie nur irgend möglich vom Kopf zu ziehen: „Oh. Hallo Herr Kleinheinz. Das ist aber … wieso haben Sie denn nicht vorher …?“