aus dem Augenwinkel, während er einen der beiden Präsentkörbe zu seinem Mercedes trug, der etwas unkonventionell am Straßenrand abgestellt war. Der rechte Vorderreifen quetschte sich zur Hälfte über die Bordsteinkante, während das rechte Hinterrad ungefähr 20 Zentimeter davon entfernt stand. Kopfschüttelnd betrachtete Will das verunglückte Parkexperiment seiner Frau. Nachdem er den sperrigen Korb, an dem ein Zettel mit der Aufschrift „Peter Kleinheinz“ hing, umständlich auf dem Rücksitz verstaut hatte, ging er zurück, um auch den zweiten aus der Küche zu holen. Auf halbem Wege jedoch konnte er seine Neugier nicht mehr zügeln und steuerte auf den Mann zu, der sich gerade leise fluchend daran abmühte, das Kassenhäuschen horizontal auszurichten. Schon als Kind hatte Will sich von nostalgischen Gerätschaften aller Art magisch angezogen gefühlt, aber dieses Häuschen weckte in ihm ganz besonders wehmütige Erinnerungen. Als kleiner Junge hatte es für ihn nichts Aufregenderes gegeben, als den Zirkus zu besuchen, der einmal im Jahr in die Region kam. Und sobald er seine Eintrittskarte gelöst und das Kassenhäuschen passiert hatte, war er eingetaucht in die fantasievolle und zauberhafte Welt der Magie, die ihn danach oft tagelang nicht mehr losließ. Wenn er an diese wunderbaren Momente zurückdachte, hatte er noch heute den leicht muffigen Mottengeruch der Kassenfrau in der Nase, die in der für ihre Körpermaße viel zu engen Kabine meist damit beschäftigt war, Kreuzworträtsel zu lösen oder Topflappen zu stricken und nicht einmal aufsah, wenn sie das Wechselgeld herausgab. Aber das war dem kleinen Will egal gewesen, er hatte zu diesem Zeitpunkt längst schon seine Fantasiewelt betreten.
Die Hände tief in den Taschen seiner grauen Arbeitshose vergraben, trat Will von hinten an den Arbeiter heran, der kniend versuchte, eine widerspenstige Schraube unter dem Radkasten anzuziehen. „Entschuldigen Sie, junger Mann. Ist das ein Originalkassenhäuschen aus den 20er-Jahren oder ein Nachbau?“ Der Mann sprang auf wie von der Tarantel gestochen. Ganz offensichtlich hatte er den Landwirt nicht kommen hören. Innerhalb von Sekunden stand er kerzengerade vor Will und funkelte ihn böse aus seinen wässrig-blauen Augen an. Zwischen Nase und Mund hatte er eine hässliche Narbe, die zwar wie eine Hasenscharte aussah, bei der es sich aber wohl eher um eine schlecht verheilte Verletzung handelte. Er trug einen ungepflegten Dreitagebart und sein Atem war eine Mischung aus Alkohol und Knoblauch. Er sagte kein Wort.
Will startete einen neuen Versuch. „Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich interessiere mich nur für alte Sachen. Wissen Sie, ich habe hinten im Schuppen sogar noch eine Eggemaschine von mein Oppa. Die ist aus Holz. So was gibt es heute gar nicht mehr. Ich kann Sie die gerne mal zeigen, wenn Sie das …“
Doch das Interesse des Mannes schien sich in Grenzen zu halten, denn plötzlich riss er die rechte Hand hoch, in der er einen schweren Schraubenschlüssel hielt und stieß einen kurzen Grunzton aus.
Will zuckte heftig zusammen. Für einen Moment dachte er, dass der Mann auf ihn einschlagen werde. Möglicherweise wäre es sogar dazu gekommen, wenn nicht plötzlich eine kräftige Stimme die angespannte Stille durchbrochen hätte: „Bolek! O co chodzi?“
Der Arbeiter ließ den Maulschlüssel sinken und sah gemeinsam mit Will in die Richtung, aus der der Ruf kam.
Im Laufschritt näherte sich ein etwa 50-jähriger Mann und wedelte drohend mit der Hand. Er trug ein gebügeltes, weißes Hemd und eine dunkle Jeanshose. Als er sie erreicht hatte, brüllte er auf den Arbeiter ein und schickte ihn mit einem lauten „Spierdalaj!“ weg. Der Arbeiter antwortete nicht, doch bevor er mit hängenden Schultern davonschlich, warf er den beiden noch einen verächtlichen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu. Will war die Situation äußerst unangenehm, da er nicht vorgehabt hatte, jemanden in Schwierigkeiten zu bringen. Erst als er sich gegenüber dem herbeigeeilten Mann, der offensichtlich eine Art Chef zu sein schien, erklären wollte, erkannte er ihn an seinem breiten Grinsen. Es handelte sich um Francesco Baldini, den Clown, dem gleichzeitig der Zirkus gehörte. „Ach, Herr Baldini“, sagte Will erleichtert. „Ich habe Sie erst gar nicht erkannt ohne Kostüm.“
Baldini lachte kurz, bevor er wieder ernst wurde. „Bitte verzeihen Sie den Vorfall. Manche Kollegen, also ich sag mal so, in erster Linie die einfachen Arbeiter, sind leider ein wenig misstrauisch und reagieren auch schon mal etwas aggressiv. Das liegt aber nur daran, dass wir meistens nicht sehr willkommen sind, wenn wir irgendwo unsere Zelte aufschlagen. Sie sind da wirklich eine rühmliche Ausnahme, Herr Hastenrath. Ich kann Ihnen gar nicht genug danken, dass Sie uns die Wiese kostenlos zur Verfügung stellen. Und Wasser und Strom auch noch. So viel freundliche Unterstützung sind wir normalerweise nicht gewöhnt.“
Will sah sich ängstlich um und antwortete mit gedämpfter Stimme: „Nee klar, das mache ich gerne. Ich finde das einfach toll, was Sie machen. Aber die Sache mit dem Strom und dem Wasser muss auf jeden Fall unter uns bleiben. Meine Frau darf da nix von wissen.“
„Oh, verstehe. Kein Problem.“
Baldini lächelte verschwörerisch und Will versuchte, schnell das Thema zu wechseln. „War das gerade eben italienisch, was Sie für der Mann gesagt haben?“
„Nein, nein. Das war polnisch. Wir sind zwar ein italienischer Familienzirkus, das heißt, die meisten Künstler sind gebürtige oder angeheiratete Baldinis. Aber unsere Racklos, also unsere Arbeiter, stammen überwiegend aus Osteuropa. Na ja, das Zirkusleben ist nicht ganz so romantisch, wie sich das manche so vorstellen. Hier gibt es traditionell eine große Kluft zwischen den Artisten auf der einen und den Arbeitern auf der anderen Seite. Ich versuche da zwar immer zu vermitteln, aber diese Hierarchie ist im Zirkus über Jahrhunderte gewachsen. Die Handwerker stehen in der Rangliste ganz unten, während die Artisten höher angesehen sind und deutlich besser bezahlt werden. Wobei gute Bezahlung sicher der falsche Begriff ist, wenn wir vom Zirkus sprechen. Ich finde das selbst schade, aber die Arbeiter schotten sich gerne ab und weigern sich, unsere Sprache zu lernen. Es ist nicht immer leicht mit denen.“
„Das glaube ich“, sagte Will. „Ich habe auch schon mal ein paar Spargelstecher aus Rumänien hier. Und obwohl die jedes Jahr für ein paar Wochen kommen, verstehen die mein Deutsch bis heute nicht.“ Er sah auf die Uhr und erschrak. „Tut mir leid, Herr Baldini, aber ich muss dringend los. Ich habe mich bei zwei frisch zugezogene Neubürger angekündigt. Die bekommen heute von mir feierlich Willkommens-Präsentkörbe überreicht – kostenlos!“
Baldini nickte anerkennend. „Das ist eine tolle Geste. Wenn ich das sagen darf: Sie sind ein guter Mensch, Herr Hastenrath.“
Will winkte verschämt ab und verschwand, nicht ohne einen Anflug von Stolz. Schnell lief er ins Haus, um auch noch den zweiten Geschenkekorb für Fredi Jaspers zu holen.
Mit leichter Verspätung bog Will in die Goethegasse ein. Diesen Namen hatte die bislang einzige Straße im noch jungen Saffelener Neubaugebiet von der Gemeinde zugewiesen bekommen. Und zwar gegen den erbitterten Protest von Ortsvorsteher Hastenraths Will, der dort lieber einen verdienten Dorfbewohner namentlich verewigt gesehen hätte. Jedenfalls eher als einen Schriftsteller, den in Saffelen sowieso niemand kannte. Doch in letzter Instanz war sein Antrag, den er sogar mit einer Unterschriftensammlung untermauert hatte, von der Kreisverwaltung abgelehnt worden. Mit einem Standardschreiben und dem lapidaren Hinweis, dass nur verstorbene Persönlichkeiten berücksichtigt würden und dass „Hastenraths Will“ lediglich eine Art Rufname sei. Will parkte vor dem gepflegten roten Klinkerhaus mit der Nummer 6, in das Hauptkommissar Peter Kleinheinz vor einer knappen Woche mithilfe von Will und dessen großem Anhänger seine Habseligkeiten gebracht hatte. Heute war es so weit, dass Will seinen Freund im Namen aller Saffelener offiziell willkommen heißen durfte. Er stieg aus und öffnete die hintere Autotür. Um ein Haar hätte er aus Versehen den Korb von Fredi Jaspers genommen, doch zum Glück hatte er ja die Namenszettelchen angehängt.
Der Landwirt wurde fast komplett von dem mit einer grünen Schleife dekorierten Präsentkorb verdeckt, als Kleinheinz die Haustür öffnete. Gut gelaunt sagte der Kommissar: „Wenn mich mein kriminalistischer Spürsinn nicht täuscht, dann müsste sich hinter dieser groß angekündigten Überraschung mein alter Freund Will verstecken. Komm rein. Betty hat uns einen Kaffee gemacht.“
Will trat ein und platzierte den Korb mit ausladender Geste auf dem Couchtisch. Das Wohnzimmer hatte einen offenen Übergang zur großzügigen Küche, wo Bettina Hebbel gerade den Tisch deckte. Sie stellte drei Teller mit jeweils