Nienke Jos

Die Angst der Schweigenden


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gestunken.« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Weißt du eigentlich, was ich mir wünsche? Zu Weihnachten?«

      Der Weihnachtsmann schaute Marga grimmig an.

      Eigentlich wäre Marga viel lieber mit einkaufen gefahren. »Ist es wegen Anton? Weil ich ihn mit Kreide angemalt habe?«, fragte sie vorsichtig. »Kriege ich deswegen keine Geschenke? Anton fand’s nicht schlimm, und ich habe ihn mit in die Badewanne genommen. Er sieht wieder aus wie neu«, versicherte sie.

      »Wir müssen uns beeilen, das hast du doch verstanden?«

      Marga dachte angestrengt nach, schrubbte Giselas Ohr. Sie nickte skeptisch. »Warum bist du nicht unsichtbar?«, fragte sie.

      Der Weihnachtsmann seufzte genervt. »Weil ich vom Schlitten gefallen bin.«

      »Vielleicht müssen wir dich gar nicht verstecken. Vielleicht kann nur ich dich sehen. Weil ich ein reines Herz habe.« Marga wackelte unsicher mit dem Kopf. Da war der Sonnenbrand auf Antons Ohren und sie hatte Mama im Stich gelassen und Robert wäre fast gestorben, und dann war da noch Queen Enina, die nun doch keine Schneckenkönigin mehr war, weil Marga sich vertan hatte. Sie hatte die Weinbergschnecke gefunden und zu den anderen in ihre Nachttischschublade gesetzt, hatte regelmäßige Gewichtskontrollen durchgeführt, die Ergebnisse in eine Tabelle eingetragen. Margas neue Schnecke hatte 26,4 Gramm gewogen, das Gehäuse war 4,2 Zentimeter groß gewesen, dickwandig und stabil, mit quer verlaufenden Riefen. Von Opa hatte sie gelernt, dass man eine Schnecke mit linksgängigem Gehäuse eine echte Schneckenkönigin nannte. Also hatte sich Marga eine Heißklebepistole besorgt und das Gehäuse verziert. Mit einem pinken Glasstein, flach und deswegen besonders gut geeignet, einem Stein aus Perlmutt, den Marga bis dahin wie einen Schatz gehütet hatte, und grünem Glitzerstaub. Marga hatte ihr Salat und Blätter und auch ein paar Eierschalen für den Kalkhaushalt gegeben, und Queen Enina hätte bis an ihr Ende glücklich werden können, wenn Marga nicht zufällig herausgefunden hätte, dass sie sich vertan hatte. Mit Schrecken hatte sie auf das Häuschen gestarrt, es immer wieder mit den anderen verglichen. Erst hatte sie gehofft, dass alle ihre Schnecken Königinnen waren, aber dann hatte sie entschieden, dass Queen Enina genauso wenig eine Schneckenkönigin war wie alle anderen und dass sie Enina zu Unrecht so wunderschön verziert hatte. Sie hatte geweint und der Gerechtigkeit wegen entschieden, dass sie Enina zurück in den Wald bringen musste.

      Marga holte tief Luft. »Gut, dann verstecken wir dich eben«, sagte sie unglücklich. »Du musst trocknen. Ist dir kalt?«

      Der Weihnachtsmann zupfte an seiner roten Jacke. »Ganz nass«, bemerkte er.

      Marga rückte die Trense zurecht. »Ich darf Gisela kein Einhorn mehr aufsetzen, hat Mama gesagt. Schade, aber da kann man nichts machen.« Marga band das Ende des Stricks an den Schlitten. »Los!«, befahl sie. Gisela lief in kleinen Schritten durch den Schnee, ihre Ohren wippten auf und ab. Marga fand, dass Gisela gar nicht wie ein Schwein wirkte, das vom Aussterben bedroht war. Und dann konnte Marga nicht so recht einordnen, was sie sah: Aus den Taschen des Weihnachtsmanns flatterten lauter bedruckte Papiere. Sie wirbelten durch die Luft, und je schneller der Schlitten fuhr, desto wilder flatterten die schmalen Blätter aus seinen Taschen und fielen in den Schnee. Marga blinzelte. Vor ihren Füßen landete ein Fünfeuroschein, der allmählich von dicken Schneeflocken betupft wurde.

      Sie schaute sich um. Mit aufgerissenen Augen starrte sie auf den Schnee. Auf den Schnee, der sich rot gefärbt hatte. Genau da, wo zuvor der Weihnachtsmann gelegen hatte.

      Marga schluckte ängstlich.

      12

      Polizeimeldung:

      Zwei 6-jährige Kinder gesucht

      Besorgte Passanten informierten die Polizei am Sonnabend darüber, dass ein 5 bis 6 Jahre altes Mädchen und ein 5 bis 6 Jahre alter Junge allein entlang der Schienen Richtung Felsenmeer gerannt seien. Man habe sie angesprochen, aber sie hätten nicht reagiert und seien den Männern entwischt. Das Mädchen sei verletzt gewesen und habe stark geblutet. Nach Einschätzung der Situation benötigen beide Kinder dringend medizinische und psychologische Betreuung.

      Wer hat die beiden Kinder gesehen?

      Sachdienliche Hinweise bitte an die Polizeidienststelle.

      13

      Es knackte trocken. Igor zuckte zusammen, starrte auf die Teller in seiner Hand. Ein großer Riss hatte sich gebildet. Er ließ los, die Teller zerfielen in einzelne Teile und landeten laut scheppernd auf dem Boden.

      »Dass ich Ihnen davon erzählt habe, war ein Fehler.« Inna erhob sich. »Vergessen Sie meine Kindheit. Vergessen Sie die Höhle. Es ist der Sturm. Er zerrt an meinem Verstand.« Sie bückte sich und begann, die Scherben aufzusammeln.

      »Setzen Sie sich!«, befahl Igor streng.

      »Wie bitte?«

      »Hinsetzen!« Er zeigte auf das Sofa. »Wir sind noch nicht fertig.«

      Inna ließ den zerbrochenen Teller auf den Boden gleiten, setzte sich steif.

      »Sie sind durch den Eingang gekrochen. Bäuchlings mit den Füßen voran.« Er verengte seine Augen. »Und dann?«

      »Und dann?«

      Igor ließ seine flache Hand auf den Tisch sausen. »Herrgott noch mal!«, brüllte er. »Hören Sie auf damit! Hören Sie auf, so dämliche Rückfragen zu stellen!« Sein Haaransatz zitterte. »Erzählen Sie, was passiert ist«, keuchte er heiser.

      Sie nickte langsam. »Ich hatte keine Kraft mehr. Zu kalt. Meine Hände waren zu kalt.«

      Igor rieb seine Augen. »Weiter?«, hauchte er. Er vergrub sein Gesicht. »Erzählen Sie weiter.«

      *

      Ihre Finger krallten sich in die kalte Erde, aber sie fand keinen Halt. Sie rauschte in die Tiefe, immer tiefer mit dem Bauch an spitz hervorstehenden Steinen entlang, es schnürte ihr die Luft ab. Sie wollte schreien, aber ihr fehlte die Kraft in den Lungen, dann endlich empfing sie harter Boden. Sie war mit den Füßen gelandet, drei oder vier Körperlängen unter dem Einstieg. Sie konnte sich nicht auf den Beinen halten, fiel rückwärts und stieß sich ihren Hinterkopf an der Felswand. Sie kauerte sich vornüber, hielt ihren Kopf, unfähig zu weinen oder etwas zu sehen, alles um sie herum war schwarz, die Luft nass und modrig, sie hörte feines Geröll herunterfallen.

      »Inna?«, rief Jenke von oben.

      Inna wollte antworten, aber es kam kein Laut heraus. Ihre wunden Handflächen brannten, ihre Zunge klebte am Gaumen, ihr Brustkorb verengte sich unter der Atmung und schnürte ihr die Luft ab. Sie hörte Jenke, wie er sich rückwärts durch den Eingang schob und herabglitt.

      Inna schloss ihre Augen und kauerte sich in die Ecke. Die Kälte fraß sich durch ihre Knochen. Sie saßen auf dem harten Boden, mit eng angezogenen Beinen. Mit der Zeit hatte sie sich an die Dunkelheit gewöhnt. »Was sollen wir jetzt machen?«, fragte sie irgendwann.

      Jenke presste seine Handballen auf die Augen. »Nicht«, er schlotterte. »Nicht fragen.«

      Inna stand auf, legte ihren Kopf in den Nacken. Hoch über ihr ein diffuser Lichtstrahl, der sich feige in der gegenüberliegenden Felswand verkroch. »Wir müssen es versuchen.« Sie stupste Jenke an. »Wir müssen!«

      Jenke schaukelte vor und zurück.

      »Jenke!« Sie packte und schüttelte ihn. »Steh auf!«

      »Warum denn?«, schrie er und sprang auf. Er stieß sie gegen die Felswand. »Warum sollen wir denn überhaupt wieder hier rauswollen?«

      Inna blickte auf.

      Igor war bis zur vorderen Sitzkante gerutscht, die Augen weit aufgerissen. Tränen hatten sich gesammelt. »Würden Sie den Weg zur Höhle heute noch kennen? Ihn wiederfinden?«

      Inna blinzelte. »Vielleicht, aber ein Erwachsener passt nicht durch die enge Felsspalte.«

      »Nein? Wie sind die Männer dann dorthin gelangt?«

      »Welche