Christian Macharski

Das Schweigen der Kühe


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und Härte war, der Mann, der das versteckte Foulspiel perfektio niert hatte, stand vor seinem Kleiderschrank und fand seine Stutzen nicht. Nicht, dass ihm das Tragen von Stutzen beim Training wichtig gewesen wäre. Schienbeinschoner waren in seinen Augen ohnehin nur etwas für Mädchen. Das Problem war, dass jeder, der seine Stutzen vergaß, fünf Euro in die Mannschaftskasse zahlen musste. Und Borowka war mal wieder sehr pleite.

      „Riiita!“ Wütend riss er die Tür zum Wohnzimmer auf. Rita saß auf der abgewetzten Zweier-Couch und lackierte sich hochkonzentriert ihre langen, angeklebten Fingernägel. Zwischendurch kontrollierte sie immer wieder aus dem Augenwinkel, ob die Asche der Zigarette, die zwischen ihren Lippen hing, nicht auf ihre rosa Leggins fiel. Sie hatte Richard nicht rufen hören, da der Fernseher viel zu laut eingestellt war. Frauke Ludowig moderierte gerade einige Paparazzi-Urlaubsbilder von Cora Schumacher an.

      „Rita, wo sind meine blöden Stutzen?“

      Rita sah irritiert auf. Borowka hatte sich vor ihr aufgebaut. Er trug eine verwaschene, graue Trainingshose und ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ich kann auch ohne Spaß Alkohol haben“. Sein blondes Haar trug er sorgfältig gefönt vorne kurz und hinten lang. Ein paar kaum merkliche braune Strähnchen durchzogen sein Haupthaar. Rita lächelte glücklich. Das war der Mann, in den sie sich vor nunmehr 16 Jahren unsterblich verliebt hatte, als er ihr um zwei Uhr nachts hinter dem Saffelener Schützenzelt seine Liebe gestanden hatte. Nervös, aber durch den Alkohol ein wenig aufgelockert, hatte er ihr das schönste Kompliment gemacht, das ihr jemals ein Mann ge macht hatte. Er hatte es ihr nicht nur gesagt, er hatte es in die Nacht hinausgeschrieen. Oder besser gesagt, er hatte es ihr ins Ohr gebrüllt, weil die Musik aus dem Festzelt so laut gewesen war. Im Schein Tausender funkelnder Sterne hatte er gebrüllt: „Rita, von allen Frauen hier im Festzelt finde ich dich noch mit am besten.“ Seitdem waren sie ein Paar, seit vier Jahren sogar verheiratet. Nie würde sie das Lied vergessen, das in diesem magischen Moment von der Bühne hinaus in die vom Vollmond aufgehellte Nacht geweht wurde: „Es war in Königswinter, nicht davor und nicht dahinter ...“ Es war bis heute ihr gemeinsames Lied.

      „Was sagst du, Richard?“

      Borowka war genervt: „Sag mal, sprech ich Kisuaheli? Mach doch mal der Fernseher leiser. Wo sind meine Stutzen?“

      Rita fingerte sich vorsichtig mit der rechten Hand die Zigarette aus dem Mund und legte sie im übervollen Aschen becher ab. „Mutter hatte nicht genug Buntwäsche zusammen. Die Stutzen liegen noch im Waschkeller.“

      Bevor Borowka antwor ten konnte, klingelte es an der Haustür Sturm. Sie sah ihn mit großen Augen an. „Geh du mal, Richard. Meine Fingernägel sind noch nicht trocken.“

      Vor der Tür stand Fredi Jaspers. Seine ganze Körperhaltung verhieß nichts Gutes. Die Schultern hingen schlaff herunter. Sein volles, braunes Haar, das er wie sein Gegenüber vorne kurz und hinten lang trug, war ungekämmt, seine Augen glasig. „Kann ich reinkommen? Mir geht es nicht gut.“

      Obwohl Borowka es eilig hatte, brachte er es nicht übers Herz, seinen besten Kumpel, mit dem er seit der Schulzeit befreundet war, abzuweisen. Im Flur fragte er routiniert: „Martina?“

      Fredi nickte stumm. Sofort schossen ihm Tränen in die Augen. Hastig kramte er ein großes Stofftaschentuch aus seiner blauen Röhrenjeans mit den braunen Lederaufsätzen hervor und schnäuzte sich laut vernehmlich die Nase.

      Borowka wusste, dass er nun psychologisch vorgehen musste. Dass er die richtigen Worte finden musste, um seinem besten Freund wirklich eine Hilfe zu sein. Er nahm Fredi bei den Schultern, schüttelte ihn und sagte: „Bist du eigentlich nur bekloppt? Wie oft soll ich dir eigentlich noch sagen: Vergess die blöde Tante. Die hat sie doch nicht mehr alle.“

      Fredi sah Borowka trotzig an. „Meinst du etwa, das wär alles so einfach für mich? Martina hat mich doch erst im Januar verlassen.“

      Borowka verdrehte die Augen. „Jaaa, Fredi! Aber im Januar vor zwei Jahren. Kapier es doch endlich. Das ist vorbei. Ende, aus, Micky Maus. Mein Gott, wie lange ist das jetzt her, dass die bei dir ausgezogen ist?“

      Fredi antwortete ohne zu zögern: „27 Monate, 7 Tage und 15 Stunden.“

      Borowka schüttelte den Kopf und stemmte die Hände in die Hüften. „Fredi, so leid es mir tut. Ich muss los, zum Fußball. Ich bin sowieso schon viel zu spät dran. Wir können uns ja morgen nochmal ...“

      Ohne vom Boden aufzusehen, presste Fredi mit tränener stickter Stimme hervor: „Die hat ein neuer Freund. Der heißt Sascha, kommt aus Mönchengladbach und fährt ein Audi A8.“

      Borowka war wie vom Donner gerührt. Was das bedeutete, wurde ihm schlagartig klar. Zum ersten Mal seit der Trennung von Fredi hatte Martina einen neuen Freund. Konnte Fredi sich bisher noch mit der theoretischen Möglichkeit der Wiedervereinigung trösten, war seine Hoffnung nun in weite Ferne ge rückt. Borowka schob Fredi vorsichtig ins Wohnzimmer, wie einen Blinden, den man durch ein Minenfeld führt. Als Rita aufsah, gab er ihr mit einem verschwörerischen Handzeichen zu verstehen, dass sie verschwinden soll. Bei Fredis desolatem Anblick verstand sie sofort, blies sich noch einmal kurz über die Fingernägel und verschwand lautlos in Richtung Küche. Borowka bugsierte Fredi auf die Couch und setzte sich daneben. Er schlug ihm aufmunternd, aber behutsam auf die Schulter: „Weißt du was, Fredi? Wir trinken jetzt erst mal zwei, drei Bier und dann fahren wir zusammen zum Fußball. Es wird sowieso langsam Zeit, dass du mal wieder mitspielst. Und dann treten wir der Tonne und der Spargel mal richtig in die Beine, für uns abzureagieren. So wie früher immer. Was meinst du?“

      Fredi schüttelte nur schwach den Kopf. „Weißt du, Borowka, dazu bin ich mental noch nicht in der Lage – und vom Kopf her schon mal gar nicht.“

       3

      Montag, 5. Mai, 17.25 Uhr

      Schwarz und schwer tropfte der frische Filterkaffee in die Glas kanne und verbreitete einen angenehm-würzigen Geruch. Ein will kommener Kontrast zur Duftnote im schlecht be lüfteten Kuhstall, wie Doktor Mauritz erfreut feststellte, als er die Küche der Hastenraths betrat. Er hatte sich noch schnell die Hände gewa schen in dem kleinen, weiß gekachelten Raum neben dem großen Milchtank, in den die Melkmaschinen die frische Milch aus dem Stall über oberirdisch verlegte Hartplastikrohre hineinpumpten. Im Tank wurde die Milch gekühlt und ständig von einem rie sigen Schwenkarm in Bewegung gehalten. Jeden zweiten Tag zu den unterschiedlichsten Zeiten fuhr ein großer Tankwagen mit der Aufschrift „Eifeljuwel“ am Hof der Hastenraths vor. Der Fah rer öffnete eine Klappe an der Hauswand, führte einen großen Schlauch durch ein Loch in der Wand zum Milchsammelbecken und schloss ihn dort an. Nur etwa drei Minuten dauerte es, bis 800 Liter Milch abgepumpt waren. Dann fuhr er weiter.

      Als Doktor Mauritz die Küche betrat, hatte Hastenraths Will bereits am großen Eichentisch Platz genommen und rieb sich erwartungsfroh die Hände. Da Doktor Mauritz viele Landwirte regelmäßig besuchte, war ihm der in solchen Küchen typische Stilmix nur allzu vertraut. Es hätte ihn geradezu irritiert, wenn alle Geräte und Schränke in dieser Küche zueinander gepasst hätten. Ein alter Gasherd stand neben einem modernen, schlanken Kühlschrank mit extra großem Tiefkühlfach. Dane ben ein Backofen von AEG, der, seiner Verblendung nach zu urteilen, aus derselben Serie stammte wie ein großer, brauner Vorratsschrank, der auf der anderen Seite des Raumes stand. Die zu dieser Serie gehörige Spüle meinte Doktor Mauritz einmal im Vorraum des Schweinestalls entdeckt zu haben. Will hatte darin damals mit seinen Händen das Schweinefutter an gerührt.

      Doktor Mauritz lächelte selig, mochte er doch diese ganz spezielle Gemütlichkeit und natürlich auch die Herzlichkeit, die ihm in Person von Marlene Hastenrath entgegensprang, kaum dass er die Küche betreten hatte. Marlene war die Frau, mit der Will seit fast vierzig Jahren verheiratet war und die einen Großteil der Ländereien mit in die Ehe gebracht hatte. Nun wischte sie ihre Hände an ihrem geblümten Arbeitskittel ab und begrüßte den Doktor mit aufrichtiger Freude.

      „Guten Morgen, Herr Doktor. Wie geht es Ihnen und unsere Kühe?“

      „Guten Morgen, Frau Hastenrath. Mir geht es gut. Den Kühen im Großen und Ganzen auch. Bei zweien habe ich je doch eine