befanden sich unter ihnen.
Harte Augen starrten zu Kyle zurück. Diese Männer stellten ihre Speerspitze dar.
„Ich will da draußen keine Waffen von euch sehen“, sagte Kyle. „Keine Messer, keine Schlagstöcke, Gott bewahre, wenn ich jemanden mit einer Pistole sehe. Schlagringe. Wenn ihr irgendwas dabeihabt, lasst es im Wagen. Verstanden?“
Ein paar der Männer murmelten missmutig.
„Wie bitte? Ich kann euch nicht verstehen.“
Die Stimmen wurden dieses Mal lauter.
„Das ist eine Kundgebung und ein Marsch, Jungs. Keine Straßenschlacht. Wenn die Schlitzaugen einen Kampf anzetteln, okay. Verteidigt euch und einander. Schmeißt die kleinen Kommunisten durch die Mauern, mir egal. Es sollte euch nur klar sein, dass wenn die Bullen Waffen bei euch finden, ihr garantiert verhaftet werdet. Wir haben unsere besten Anwälte auf Kurzwahl, aber wenn sie euch wegen Waffenbesitz mitnehmen, kommt ihr heute Nacht nicht mehr raus, vielleicht auch länger nicht. Ich muss mich auf euch verlassen können. Ich will nicht, dass auch nur einer von euch verhaftet wird. Das ist schlecht für euch und es schlägt sich negativ auf die Organisation nieder. Verstanden? Na los!“
„Verstanden!“, rief jemand.
„Jo!“
„Alles klar, Mann.“
Kyle lächelte. „Gut. Dann lasst uns ihnen jetzt in den Arsch treten.“
Die Schilder waren im hinteren Teil des Wagens aufeinandergestapelt. Auf den meisten stand Amerika gehört uns! Auf einem stand Schlitzaugen raus! Das war Kyles Schild. Wenn seine Männer die Speerspitze waren, war er das Gift, das auf jedem von ihnen aufgetragen wurde.
Er war 29 und seit über zwei Jahren bei Gathering Storm dabei. Es war sein Traumjob. Wo fand er seine Rekruten? Fast ausschließlich im Fitnessstudio. Gold’s Gym. Planet Fitness. YMCA. Orte, an denen große starke Jungs abhingen, Jungs, die die Schnauze voll hatten. Genug mit der Zensur. Genug mit der Gedankenpolizei. Genug davon, dass alle guten Jobs an Ausländer gingen. Genug mit der Rassenmischung.
Genug davon, dass ihnen die Religion des Multikulturalismus aufgedrängt wurde.
Wenn jemand Kyle vor fünf Jahren gesagt hätte, dass er Männer um sich versammeln würde – die besten, stärksten, aggressivsten jungen weißen Männer, die er finden konnte – und dass sie den Leuten, die verantwortlich dafür waren, dass dieses Land den Bach runterging, Gottesfurcht eintreiben würden… dass sie Amerika wieder groß machen würden… und dass er dafür auch noch bezahlt werden würde? Kyle hätte ihn für verrückt erklärt.
Und doch war er jetzt hier.
Zusammen mit seinen Jungs.
Und ihr Anführer war gerade zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden.
Es lagen großartige Tage vor ihnen und sie würden einen langen, langen Weg vor sich haben. Und jeder, der sich ihnen in den Weg stellen würde, der versuchte, sie aufzuhalten oder sie auch nur zu verlangsamen – jeder Einzelne würde niedergemäht werden. So war es einfach.
Die Hintertüren des Bullis öffneten sich und seine Jungs sprangen heraus und schnappten sich ihre Schilder. Kyle war der letzte. Er trat heraus auf die Straße, die Nacht schien um ihn herum zu glänzen. Es war kalt – es schneite sogar ein wenig – aber Kyle war zu aufgeputscht, als dass er das bemerken würde. Die Straße war eng und vierstöckige Mehrfamilienhäuser standen an beiden Seiten. Alle Neonschilder der Geschäfte waren auf Chinesisch, ein einziges bedeutungsloses Gekritzel – unmöglich zu lesen, unmöglich zu verstehen.
War das hier nicht Amerika? Natürlich war es das. Und hier hatte man gefälligst Englisch zu sprechen.
Die Bullis hielten in einer geraden Linie an. Große weiße Männer in schwarzen T-Shirts waren überall, eine einzige sich windende Masse von ihnen. Sie waren wie ein Invasionstrupp, wie Wikinger auf einem Überfall. Sie schwangen ihre Schilder wie Kriegsäxte. Ihr Blut kochte über.
Eine Gruppe winziger, überraschter Asiaten blickte zu ihnen voller… was?
Schock? Horror? Angst?
Oh ja, alles davon.
Die erste Stimme begann zu schreien, etwas zu zahm für Kyles Geschmack, aber für den Anfang ganz in Ordnung.
„Amerika… gehört uns!“
Seine Jungs fielen sofort ein und die Lautstärke erhöhte sich.
„AMERIKA… GEHÖRT UNS!“
Kyle spannte seine Arme an. Er spannte seinen Rücken an, seine Schultern und seine Beine. Sie waren auf einer einfachen Kundgebung, so hatte er es seinen Jungs gesagt. Aber er hoffte, dass es zu mehr werden würde. Er hatte seine Wut schon viel zu lange im Zaum halten müssen.
Kundgebungen waren schön und gut, aber er wollte einfach nur ein paar Köpfe einschlagen.
Es dauerte nicht länger als zwei Minuten, bis sein Wunsch sich erfüllen sollte. Während sie in einer Linie die Straße hinabmarschierten, fing vielleicht 15 Meter vor ihm das Geschubse an.
Einer seiner Jungs packte einen Chinesen an beiden Schultern und warf ihn in einen Haufen Taschenbücher, die vor einem Geschäft aufgestapelt waren. Der Chinese fiel auf den Stapel, der sofort in sich zusammenfiel. Zwei weitere Chinesen sprangen seinen Jungen daraufhin an. Plötzlich fing Kyle an zu rennen. Er ließ sein Schild fallen und schob sich durch die Menge.
Er warf einen Chinesen zu Boden und watete durch eine Gruppe von ihnen, während er wild um sich schlug. Seine Fäuste krachten auf Knochen, die wie Zweige unter dem Aufprall zerbrachen.
Und das, wusste er, war erst der Anfang.
KAPITEL NEUN
21:15 Uhr
Ocean City, Maryland
„Wie sehe ich denn aus…“, sagte Luke laut zu sich selbst.
Er stand in einem Aufzug, der mit Teppich ausgekleidet und von Glaswänden umgeben war. Eine lange Doppelreihe an Knöpfen befand sich auf der Metallverkleidung an der Wand. Er blickte sein Spiegelbild in dem gewölbten Sicherheitsspiegel in der oberen Ecke an. Es war verzerrt und merkwürdig, wie in einem Spiegelkabinett, ganz anders als die Reflektion auf der Glaswand. Der normale Spiegel zeigte einen großen Mann Anfang 50, sehr durchtrainiert, mit Krähenfüßen, die sich langsam um seine Augen bildeten und Spuren von Grau, die sich durch seine blonden Haare zogen. Seine Augen sahen uralt aus.
Während er sich betrachtete, konnte er plötzlich eine Vision von sich selbst als alter Mann sehen, einsam und verängstigt. Er war ganz allein auf dieser Welt – einsamer, als er jemals zuvor gewesen war. Er hatte zwei Jahre gebraucht, um das zu erkennen. Seine Frau war tot. Seine Eltern waren schon seit langer Zeit nicht mehr da. Sein Sohn wollte nichts mehr von ihm wissen. Es gab niemanden in seinem Leben.
Vor kurzem, im Auto, kurz bevor er in den Aufzug getreten war, hatte er Gunners alte Telefonnummer herausgesucht. Er war sich sicher, dass er immer noch die gleiche Nummer hatte. Der Junge hätte sie selbst behalten, nachdem er zu seinen Großeltern gezogen und ein neues Handy bekommen hätte. Luke war sich sicher – Gunner hätte sie behalten, weil er wollte, dass sein Vater ihn kontaktieren konnte.
Luke hatte eine kurze Nachricht an die alte Nummer geschickt.
Gunner, ich hab‘ dich lieb.
Dann hatte er gewartet. Und gewartet. Nichts. Die Nachricht war in den Äther geschickt worden und er hatte keine Antwort erhalten. Luke wusste nicht einmal, ob es tatsächlich die richtige Nummer gewesen war.
Wie konnte es nur so weit kommen?
Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Aufzugtüren öffneten sich und er stand im Foyer des Apartments. Es gab keinen Flur. Keine anderen Türen außer der Doppeltür, die sich vor ihm befand, waren zu sehen.
Die Tür öffnete sich und Mark Swann stand vor ihm.
Luke sah ihn an. Groß und dünn, langes, sandfarbenes Haar und eine runde John Lennon Brille.