Heike Gerdes

Sturm im Zollhaus


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enormen Dateigröße und bot eine geringere Auflösung an.

      »Denkste«, brummte Lükka. Sie klickte die Warnung weg und wählte stattdessen Scan akzeptieren. Die Mechanik ließ ein sonores Brummen hören. Lükka legte die Hand auf die Abdeckplatte des Scanners und das Vibrieren übertrug sich über ihren Arm in den ganzen Körper, bis es den Magen erreichte. Dort vereinte es sich mit dem Hunger, der sich schon seit geraumer Zeit zu Wort meldete. Mittag war vorbei, das Frühstück hatte sie ausfallen lassen. Auch jetzt hatte sie eigentlich keinen Appetit. Trotzdem zog Lükka einen Apfel aus der Tasche und legte ihn vor sich auf ihren Schreibtisch, der deutlich übersichtlicher war als der ihres Kollegen. Ein Wunder, dass Roman Sturm nicht alle Nase lang wichtige Dinge verschlampte.

      Das Brummen des Scanners stoppte und langsam, Zeile für Zeile, baute sich das Foto auf dem Bildschirm auf. Ein bisschen unscharf war es noch immer, aber die Gestalt hatte jetzt ein Gesicht, ziemlich sicher ein Männergesicht. Na also. Lükka speicherte das Bild und bereitete eine Rundmail mit dem Fahndungsaufruf an alle Dienststellen vor. Dann schob sie den Apfel an die Seite. Er musste warten. Jetzt fühlte sie sich bestens gewappnet für ein Telefongespräch mit Wilma Poppen.

      10.

      »Feierabend!«

      Sturm schaffte es, keine Miene zu verziehen und dem schnauzbärtigen Mann, der ihn erwartungsfroh anstrahlte, ungerührt die Hand zum Gruß entgegenzustrecken. Dr. med. Feierabend bewies seinerseits trotz seiner knappen einssechzig wahre Größe: Er ließ sich die Enttäuschung darüber nicht anmerken, dass der Kommissar nicht auf seinen Köder anbiss, weder überrascht die Augenbrauen hob, noch erstaunt fragte, ob er zu spät gekommen sei oder sich im Termin versehen hätte.

      »Kann gleich losgehen, Moment noch.« Mit einladender Handbewegung lotste der Gerichtsmediziner Sturm in sein Büro. Während Feierabend aus einer Plastikdose auf seinem Schreibtisch ein handfestes Leberwurstbrot nahm und herzhaft hineinbiss, sah sich der Kommissar in dem großen, dunkel möblierten Raum um. Von den deckenhohen Regalen erwiderten rund sechzig Paar Augenhöhlen seine Blicke. In der scheinbaren Gleichförmigkeit des fleischlosen Grinsens entdeckte Roman auf den zweiten Blick erstaunliche Vielfalt, kein Schädel glich dem anderen. Nicht nur die Größen zeigten deutliche Unterschiede, auch die Farben variierten zwischen einem hellen Elfenbeinton und dunkel rötlichem Graubraun. Glatte Oberflächen wechselten sich mit spröde abblätternder Struktur ab. Kantige Kiefer bleckten neben schmalen Gebissreihen. Hohe, gerade Stirnen sah Roman ebenso wie ausgeprägte Augenbrauenwülste. Von wegen: Der Tod macht alles gleich.

      Auf Augenhöhe lag neben einem der helleren Schädel ein Gegenstand im Regal. Roman ging näher heran und erkannte einen Zimmermannshammer.

      »Eines unserer schönsten Stücke.« Feierabend war auf leisen Sohlen neben Roman getreten und nahm nicht den Hammer, sondern den daneben liegenden Schädel vom Bord. »Hier, sehen Sie!« Er drehte die knöcherne Schale und deutete auf ein trapezförmiges Loch oberhalb der Hutkrempenlinie. »Das Loch hier ist ganz charakteristisch für das Tatwerkzeug, diesen Zimmermannshammer hier. Als Ihre Kollegen nach der Obduktion die Waffe kannten, hatten sie auch ganz rasch den Täter.«

      Roman brummte anerkennend und nickte. Er versprach sich von seinem heutigen Besuch keinen so unmittelbaren Erfolg. Er wollte diesen Pflichttermin im gerichtsmedizinischen Institut einfach nur möglichst schnell hinter sich bringen und war froh, dass Feierabend sich jetzt zur Tür wandte und ihm bedeutete mitzukommen. Na ja, ungefähr so froh, wie wenn eine Zahnarzthelferin ihn ins Behandlungszimmer bat.

      Auf dem Granittisch in der Mitte des neonhellen Raumes hatten der Präparator und die assistierende Ärztin schon einen entkleideten Körper bereitgelegt. Feierabend legte seine Tupperdose auf ein Regal, streifte ein Paar Latexhandschuhe über und holte ein Diktiergerät aus der Schublade.

      »Am besten unterschreiben Sie gleich, dass Sie bei der Leichenöffnung dabei waren«, empfahl er Sturm. »Wer weiß, ob Sie später noch einen Stift halten können.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf ein Formular und Roman unterschrieb sofort, ohne gekränkt zu sein. Feierabend hatte sich bereits dem Toten zugewandt, während Roman sich noch ein paar Tropfen japanischen Heilpflanzenöls unter die Nase tupfte. »Männlicher Leichnam, Name: unbekannt. Geburtsdatum: unbekannt. Alter ungefähr zwölf bis vierzehn. Sterbedatum.« Er nannte das Datum des Brandes, diktierte Kommata und Doppelpunkte akribisch mit.

      Sturm wandte sich ab und lehnte sich an einen Schrank nahe der Tür. Es langte ihm völlig, von oberflächlicher Karbonisation der epidermalen Schichten, von Verbrennungen ersten, zweiten und dritten Grades und postmortalen Verletzungen zu hören. Sehen mochte er sie nicht auch noch.

      Auf ein Kommando des Gerichtsmediziners drehten der Präparator und die Ärztin den Körper des toten Jungen um.

      »Zweifellos hat er bei Brandausbruch noch gelebt.« Feierabend wandte sich jetzt direkt an Sturm und winkte ihn heran. »Hier sehen Sie deutlich die Krähenfüße. Sie entstehen durch das feste Zusammenkneifen der Augen. Die Hautfalten, die sich dabei bilden, verbrennen nicht und sind auch nicht rußig. Und hier: Die Wimpern sind nur an den äußersten Spitzen versengt – noch ein vitales Zeichen.« Er unterbrach sich und sah Roman Sturm an, dessen Kiefermuskulatur sich verkrampft hatte. »Ich dachte, das wollten Sie wissen.«

      Roman nickte wenig überzeugend. Dass die Opfer noch gelebt hatten, als das Zollhaus zu brennen begann, hatte er ohnehin nie bezweifelt. Aber nun hatte er es offiziell, wunderbar.

      »Ob Brandbeschleunigungsmittel eingesetzt wurden und wenn ja, welche, steht hinterher im Bericht«, fuhr der Gerichtsmediziner fort.»Dazu müssen wir erst das Lungengewebe durch den Gaschromatographen jagen. – Außen sind wir fertig, lasst uns mal nachsehen, wie’s drinnen aussieht.«

      Die Ärztin setzte das Skalpell an der Halsgrube an und zog einen feinen, geraden Schnitt in Richtung Nabel. Der Präparator am Kopfende des Steintisches ließ den Elektromotor seiner Säge summen und der Kommissar murmelte eine Entschuldigung, ehe er auf den Flur stürmte.

      »Den Gang runter, dritte Tür links!«, erinnerte ihn Feierabend.

      Als Roman zurückkam, mümmelte Feierabend bereits wieder an seinem Leberwurstbrot, während die junge Ärztin dabei war, Lunge und Leber des Toten zu wiegen und Probenbehälter zu beschriften. Der Gerichtsmediziner hob die Hand mit der angebissenen Stulle und winkte in Romans Richtung. »Sorry«, nuschelte er mit vollem Mund, als er Romans Blick bemerkte. »Zu Hause darf ich keine Wurst essen, höchstens heimlich auf dem Lokus.«

      »Sie kommen genau richtig zum zweiten Gang«, verkündete der Präparator. Er hatte den Steintisch gereinigt und wandte sich der Tür zum Nebenraum zu, um die fahrbare Liege mit dem zugedeckten Körper in die Kühlung zurückzubringen.

      Er verschwand mit der Liege, kam aber nur Augenblicke später mit einer weiteren zurück. Das Tuch darauf hatte einen wesentlich kleineren Berg und Roman spürte, wie sich sein Zwerchfell zusammenzog und seine Kiefer sich wieder verkrampften. Den Jungen hatte er hier in der Gerichtsmedizin zum ersten Mal gesehen. Das Mädchen mit den weichen Locken aber hatte noch gelebt. Er hatte die Kleine in ihrem dunkelblauen Schlafanzug mit den gelben Sternen aus dem brennenden Zollhaus getragen und hatte daneben gestanden, als der Notarzt ihr die Sauerstoffmaske über Mund und Nase gehalten hatte, hatte das bedauernde Achselzucken des Arztes gesehen, der den Kampf um das Leben dieses Kindes verloren hatte. Roman zwang sich zu einem tiefen Atemzug, ließ die Luft bewusst durch die Nase bis in den Bauch strömen und durch den Mund entweichen. Das Pfefferminzöl brannte sich dabei durch die Atemwege und trieb ihm die Tränen in die Augen, aber seine verkrampften Muskeln lösten sich nach dem dritten Atemzug.

      Der Präparator sah Roman mitfühlend an.

      »Ich mach diesen Job jetzt fast zwanzig Jahre«, sagte er. »Aber bei Kindern ist es immer noch schlimm. Ich sag mir dann immer: Ich mach das, um zu helfen, damit ihr den Täter findet.«

      Roman nickte wortlos. Es war Unsinn, dass er sich schuldig fühlte. Er hätte nicht mehr tun können, um das Mädchen zu retten. Und trotzdem blieb dieses Nagen, das quälende Gefühl, er hätte schneller sein müssen.

      An seinem rechten Oberschenkel spürte er ein Brummen, unmittelbar