Klaus Muller

Gehen, um zu bleiben


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ja auf Schmidts Initiative zurückging, einen weiteren Höhepunkt erreicht hatte.

      Dann war er aber doch in Güstrow, das keine dreißig Minuten Fahrzeit mit dem Bummelzug von Rostock entfernt liegt. Ich bin eigentlich kein Jubler, äußere meine Zustimmung zu politischen Dingen eher im privaten Kreis; dem geachteten deutschen Kanzler Schmidt wollte ich aber doch durch Anwesenheit meine Reverenz erweisen. Es fuhren an diesem Tag jedoch keine Züge nach Güstrow. Wer nach Waren oder nach Berlin löste, dem wurde gesagt, dass der Zug nicht in Güstrow hält. Wer aber glaubte, pfiffig zu sein und nach Karow oder nach Plau lösen wollte, der wurde auf den Schienenersatzverkehr verwiesen, der natürlich im weiten Bogen um Güstrow herumfuhr. Wem es aber doch gelungen war, seine Person in die Stadt hineinzuschmuggeln oder wer darin wohnte, der hatte weitere Hindernisse zu gewärtigen. Das deutsche Fernsehen hat nach der Wende mehrere eindrucksvolle Sendungen gebracht, die jene Schande besser dokumentiert haben, als es meine Zeilen jemals tun können.

      Für alle Welt sichtbar, hatte die Sowjetunion durch Nach-Nachrüstung, Afghanistan-Invasion und polnische Solidarność-Bewegung gewaltige Probleme, zu Beginn der 80er Jahre kam ein weiteres Problem hinzu. In den baltischen, belorussischen und zentralrussischen Kartoffelanbaugebieten der Sowjetunion gab es eine schreckliche Missernte, die mit der Kartoffelfäule in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts in Irland vergleichbar war. Die DDR-Landwirtschaft musste in die Bresche springen. Bereits im Sommer 1981 bemerkte ich, wie man an der Küste bei Lubmin Kliffhäfen in den Bodden hineinbaute. Nun konnten die flachgehenden sowjetischen Wolgabaltschiffe, die für die Ostsee genauso wie für die großen russischen Flüsse gedacht waren, große Mengen Kartoffeln gleich vom LKW in die Laderäume kippen lassen. Bis zur Mitte der 80er Jahre habe ich diese Kartoffelexport-Praxis auch in den östlichen Hafenstädten der DDR beobachten können.

      Die DDR war vom zehntgrößten Industrieland der Welt zum Lebensmittellieferanten geworden, denn auch Fleisch (Jungrinder nach Westen und Schweine nach Osten) wurde fleißig exportiert. Hafenarbeiter witzelten: „Demnächst kommen die Russen mit dem Tanker und holen sich die Soße, damit sie die Kartoffeln und das Fleisch einditschen können.“ Andere waren aber weniger pessimistisch, sagten: „Jetzt wird’s ja bald besser, auch in der DDR. Wir haben doch einen Handelsvertrag mit der Insel Dari!“ Wer nun zurückfragte, wo die Insel Dari denn gelegen sei, bekam zur Antwort: „In der Inselgruppe zwischen Soli und Tät.“

      In dieser Situation brach im Frühjahr 1982 in den Nordbezirken der DDR die Maul- und Klauenseuche aus. Nach einigen Wochen machte sich in der gesamten DDR ein deutlicher Fleischmangel bemerkbar.

      Zu dieser Zeit lief in den Kinos der DDR die überwältigende englische Verfilmung von Swifts „Gullivers Reisen“. Darin kommt eine Szene vor, in der es um Querelen der Liliputaner mit den Bewohnern der Nachbarinsel geht. Gulliver schlichtet hier den Streit, ob man das Ei oben oder unten aufschlagen sollte, indem er den Streithähnen empfiehlt, doch aus den Eiern einfach Omelette, verlorene Eier, Spiegeleier, Rührei, Senfei oder Hoppelpoppel zu machen. Diesen Hinweis befolgten die Gaststättenleiter in den Gaststätten der DDR. Es gab fast nur noch Eiergerichte oder Broiler dort, aber trotz der Solidarität mit den darbenden Sowjetmenschen keinen Lebensmittelmangel in der DDR.

      Das Lebensmittelüberangebot im Westen, das durch das Westfernsehen in die Wohnzimmer der DDR-Bürger zumindest visuell gelangte, wurde von den Leuten lange Zeit als Propaganda angesehen, man log nun mal im Fernsehen. Westwerbung galt als Westpropaganda, und sozialistische Produktionserfolge waren die Ostpropaganda. Erst als die größere Zahl von Verwandtenbesuchen im Westen möglich wurde und auch normale Menschen berichteten, dass es im Westen tatsächlich ein überquellendes Kaufangebot gab, und das in für jeden zugänglichen Geschäften, kippte diese Meinung etwas.

      Für mich war aber klar, im Sommer 1982 musste ich das Segeln erlernen und ein entsprechendes Boot erwerben, machte mich schon mal theoretisch mit der Sache vertraut. Ich muss voraussagen, dass ich ein Typ bin, der aus dem geschriebenen Wort leicht Kenntnis zu erlangen vermag und der für Kräfte, Größen, Orte und Zeiten äußerst zugänglich ist. Deshalb begriff ich nicht nur die Grundlagen des Segelns aus einem einfachen Segellehrbuch heraus, sondern wurde bald, allein aus dem tagtäglichen Hören des Seewetterberichts, zu jemandem, der zuverlässig die meteorologische Navigation erkannte und bald auch beherrschte.

      Seit einigen Jahren hörte ich also schon den Seewetterbericht, den das DLF auf der Mittelwelle 1.289 KHz um 6.40 Uhr zur schönsten Frühstückszeit aussendete. Von den zwanzig Wetterstationen des Seewetterberichts kannte ich elf noch aus dem Erdkundeunterricht, die restlichen neun Stationen lagen zweifellos dazwischen, denn die Orte kreisten gegen den Uhrzeigersinn um die Nordsee, um Jütland herum und im Uhrzeigersinn um die Ostsee bis zur Halbinsel Hel. Bald entstand nach der Meldung des Luftdrucks der einzelnen Stationen ein Bild in meinem Gehirn, das man wissenschaftlich die Isobaren nennt, also die Linien gleichen Luftdrucks. Es genügte nun ein Satz aus dem Segelhandbuch, das auch Grundbegriffe der Meteorologie beinhaltete, wonach der Wind auf der Nordhalbkugel aus dem Hoch heraus im Uhrzeigersinn von der Corioliskraft abgelenkt und gegen den Uhrzeigersinn ins Tief hineinweht, um die Windrichtung vorherzusagen. Als ich dann noch las, dass sich mittels der Isobaren-Abstände der Gradient berechnen ließ, war die Grundlage für die Erstellung der Seewettervorhersage gelegt. Ich kann sagen, dass derjenige, der seine gesamte Lebenszeit nicht ausschließlich mit Erwerbsarbeit vertrödelt, sondern sich ihn interessierenden Wissensgebieten intensiv widmet, durchaus entsprechende Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben kann. In Umkehrung des Ergehens vieler Sanitäter während des Krieges, die mit dem Skalpell auf den Feldsanitätsplätzen agierten, Verwundete behandelten, dabei Erfolge erzielten und nach dem Krieg nicht als Chirurgen tätig sein durften, weil sie die medizinische Theorie nicht an der Universität studiert hatten, hatte ich mir bald autodidaktisch die Navigation beigebracht, ohne jemals praktisch auf der Kommandobrücke eines Schiffes gestanden zu haben und mich nun auch nicht Navigator nennen darf.

      Zeitparallel zu meinen theoretischen, nautischen Vorbereitungen eines Grenzdurchbruchs über die Ostsee unternahm ich auch legale Versuche einer Ausreise. Im Dezember 1981 bereits stellte ich einen Antrag auf Mitgliedschaft in der Liga für Völkerfreundschaft, Sektion „Italien“. Das neue Jahr war erst wenige Wochen alt, als ich schon ein Ablehnungsschreiben in meinem Briefkasten fand. Mir wurde darin mitgeteilt, dass die Liga für Völkerfreundschaft nicht für private Interessen gedacht sei, sondern für Delegierte der gesellschaftlichen Massenorganisationen der DDR, welche die Politik von Partei und Regierung in den entsprechenden Ländern zu vertreten hätten. Mir war schon vorher klar, dass ich auf legalem Wege nie aus dem Käfig hinauskommen würde, ich führte aber auch später noch meine Antragsflut fort, nicht in der Hoffnung auf Erfolg, sondern um das Bild des naiven Antragstellers zu festigen, der, unfähig zur couragierten Tat, leicht abzuwimmeln, weil harmlos ist.

      Mit dem hereinbrechenden Frühjahr rückte die praktische Vorbereitung meines Planes immer dringlicher in den Fokus. Private Segelschulen gab es in der DDR nicht, ich musste mich also zeitweise einer sogenannten Betriebssportgemeinschaft (BSG) anschließen. Diese gab es jedoch als Segelsparte in den direkt an der Ostsee gelegenen Orten nicht. Der Rostocker Universitätssegelclub oder die in Warnemünde ansässigen Segelvereine waren für mich nicht zugänglich. Ich wollte das Segeln natürlich auch nicht in binnenländischen Gewässern oder in mitteldeutschen Talsperren erlernen und praktizieren.

      Es hieß für mich, in den Boddengewässern entsprechenden Anschluss zu finden. In der Betriebssportgemeinschaft des Fischereikombinats Saßnitz, die im Großen Jasmunder Bodden einen kleinen Seglerhafen hatte, wurde ich schon bei meiner freundlichen Begrüßungsrede von einem schrecklichen Rüpel, der dort wohl Vereinsvorstand war, ‚weggebissen‘. In den Rostock nahen, kleinen Hafenstädten Ribnitz und Barth verlangte man von mir, den Hauptwohnsitz im Ort zu haben, was ich in beiden Fällen freilich nicht wollte.

      Mehr Erfolg zeigte sich für mich in Groß Zicker, wo die Fischereiproduktionsgenossenschaft (FPG) des Mönchgutes in ihrer BSG ein halbes Dutzend 420er Jollen und eine Baracke für das Segelzubehör zu liegen hatte. Der hier Zuständige machte mir Hoffnung, als vorübergehendes Mitglied am Boddensegeln teilnehmen zu können, wenn ich im Kreis Rügen eine Saisonarbeiterstelle annehmen würde. Das war für mich die Chance.