Tränen in die Augen steigen. Oh Gott, jetzt fängt sie wieder an zu flennen, sagt Bernd. Aber weißt du was? Wir geben dir noch eine Chance. Heut Abend machen wir dort hinten ein Feuerwerk. Und du fängst vorher die Katze, dass wir ihr einen Kracher an den Schwanz binden können. Zufrieden schaut er von Kathi zu Tom. Die nicken begeistert. Ich schluchze auf. Ich muss heim, sag’ ich. Ich lass’ den Eimer stehen und renne los. Wir holen dich um sieben ab, schreit Bernd mir hinterher. Und wehe, du kommst nicht mit. Dann kannst du was erleben. Kathi ruft noch: Ohne uns hast du hier verschissen. Das ist dir klar, oder? Heulend laufe ich nach Hause.
Mein Vater ist nicht da, aber ich hab’ den Schlüssel. Das große Haus atmet laut, der Boden ächzt unter meinen Schritten. Mir ist übel, und ich renne ins Bad und beuge mich grade noch rechtzeitig über die Kloschüssel. Schokoladenstückchen schwimmen im Erbrochenen. Ich heule so sehr, dass Schleim aus meiner Nase tropft. Ich ziehe die Spülung und schnäuze meine Nase. Ich renne die Treppe hoch in mein Zimmer und reiße die Schublade auf, wo ich meine Gedichte unter der Unterwäsche versteckt habe. Ich zerfetze sie, immer noch laut weinend. Vielleicht hätten sie meiner Mama gefallen, aber meine Mama ist tot. Ich friere. Im Bett ist es warm. Ich warte, dass mein Vater zurückkommt. Ich muss eingeschlafen sein, denn ich höre ihn nicht kommen. Er sitzt an meinem Bett und fühlt mir die Stirn. Du hast Fieber, Häschen, sagt er bestürzt. Ich werfe mich in seine Arme. Papa, flüstere ich. Du hast doch gesagt, wir könnten in die Stadt ziehen. Bitte, bitte, such uns eine Wohnung. Er hält mich erstaunt von sich. Was ist passiert?, fragt er. Ich senke den Kopf. Nichts, flüstere ich. Ich hab’s mir nur überlegt. Er sagt, Willst du deinem alten Papa nicht erzählen, was geschehen ist?
Nichts ist geschehen, sage ich. Gar nichts.
Er umarmt mich fest. Ich kümmer’ mich drum, sagt er. Versprochen. Vielleicht hab’ ich schon was. Aber nun werd erst mal wieder gesund.
Bitte mach, dass es schnell geht, sage ich. Es klingelt. Es ist sieben Uhr.
avernakø
Er ist auf der Insel angepflockt wie eine Ziege am Pfosten. Die Insel ist nur sechs Quadratkilometer groß. Und auf der hat er immer gelebt. Er will nicht fort, und er kann nicht fort. Er akzeptiert das Seil, das ihn festhält, es besingt es und verdammt es, er zerrt daran und lässt sich halten. Segen ist sie, die Insel, und Fluch zugleich.
Er geht in das Stück Garten, das er für die Hühner abgegrenzt hat. Eins hat einen nackten Arsch, keine Ahnung, warum. Sie scharen sich flatternd und gackernd um ihn, weil er einen Eimer mit Getreide dabeihat. Er fasst mit der Hand hinein und spürt die kühlen Körner, die einen leicht modrigen Duft verströmen. In diesem Jahr steht der Weizen hoch, aber es kann ihm egal sein. Er ist kein Bauer mehr. Seine Scheune ist vor sechs Jahren abgebrannt und hat seine gesamte Ernte vernichtet. Da hat er aufgegeben und sein Land verpachtet. Sein Nachbar, der neue Pächter, hat ihm auf die Schulter geklopft. Vielleicht kann ich jetzt überleben, hat er gesagt. Kriegst ja kaum was für das Getreide. Er hat sorgenvoll den Kopf geschüttelt. Und wie geht’s jetzt bei dir weiter? Niels hat die Achseln gezuckt. Ich mach’ mich nützlich, hat er gesagt. Viel brauchen wir ja nicht, meine Mutter und ich.
Er langt in die Nester und sammelt die noch warmen Eier ein. Am Nachmittag muss er ein paar öffentliche Rasenflächen mähen und den Lieferwagen für den nächsten Tag fertigmachen. Montags und donnerstags holt er frische Lebensmittel von Fünen herüber, für den kleinen Kaufladen. Die Fahrzeit auf der Fähre beträgt eine Stunde. Eine Stunde, die ihnen allen hier Stille garantiert und Gleichmaß. Man könnte auch sagen, Langeweile und Einsamkeit. Hundert Einwohner sind sie auf Avernakø. Touristen verirren sich nicht zu ihnen. Was sollen sie hier auch machen. Im Meer baden, gut, einmal um die Insel radeln. Viele der ehemaligen Bauern arbeiten in Fåborg in den Fabriken. Also ist es tagsüber noch stiller als still. Nur der Wind fährt durch die Pappeln. Vereinzelt hört man eine Kettensäge oder eine Fräse oder einen Hund oder das Maunzen einer Möwe. Er seufzt. Er hat das Gefühl, dass seine Haut an ihm herabhängt wie ein zu großer Mantel. Seine Schritte hallen im dunklen Flur. Er stößt die Tür zur Küche auf und stellt den Korb mit den Eiern auf den Tisch. Mach die Tür zu, es zieht, sagt seine Mutter. Sie schnuffelt. Du weißt doch, dass mir Zug nicht bekommt. Wortlos schließt er die Tür. Das Fenster ist beschlagen vom Dampf, der aus einem der Töpfe aufsteigt. Er geht hinters Haus und jätet das Unkraut im Kartoffelacker. Zahme Feldhasen sehen ihm dabei zu.
Seine Mutter sagt beim Mittagessen: Bring morgen Fisch mit, und er nickt. Wässrige rotgeränderte Augen schauen aus einem von Falten völlig zerknitterten Gesicht. Er denkt: Wenn sie tot ist, bin ich ganz allein. Diesen Gedanken hat er in der letzten Zeit öfter, weil sie langsam vor seinen Augen verlischt. Als er in Fåborg auf die Hauptschule ging, hat er immer mal wieder ein Mädchen gehabt. Was, du bist von Avernakø? Das war das Ende. Meine Güte, wie lange das her ist. Sein Vater war in dem Alter, in dem er jetzt ist – achtundfünfzig – schon tot. Selbst durch das geschlossene Fenster hört man das unwirsche Rufen eines Fasans. Seine Mutter ist ihr gesamtes Leben nie übergesetzt, sie wird auf dem kleinen Friedhof neben ihrem Mann liegen, wenn es soweit ist. Dem Friedhof, dessen Kieswege er harkt. Mädchen für alles ist er, es ist ein Jammer, aber immer noch besser als Fabrik. Er sieht doch, was die Fabrik aus den anderen macht. Kettenraucher und Trinker, Männer und Frauen, die auf der Fähre schon die Bierdosen in der Hand haben, die den Rauch so gierig inhalieren, als hinge ihr Leben davon ab. Oder das, was davon übrig ist, und das ist nicht viel.
Am nächsten Morgen nimmt er mit ihnen die erste Fähre früh um sieben. Die meisten legen ihre Arme auf die Tische und den Kopf darauf und schlafen noch ein Stündchen. Er hat sein Buch dabei, das er in der Bücherei in Fåborg ausgeliehen hat und zurückbringen muss, einen historischen Roman über Karl den Großen. Er glaubt, er ist der Einzige, der auf Avernakø Bücher liest. Er wäre gern weiter zur Schule gegangen, aber er wurde auf dem Hof gebraucht. Das Buch riecht nach Staub, die Seiten sind vergilbt. Er lauscht dem Brummen des Schiffsmotors, bevor er zu lesen anfängt, fühlt das leichte Schaukeln, der Wind hat noch zugelegt über Nacht, die Sonne scheint hell und weiß. In der Nacht hat eine Kuh des Nachbarn gekalbt, er ist von ihrem Schreien aufgewacht und hat lange nicht mehr einschlafen können. Auf der Insel gibt es nur kleine Herden, er selber hatte fünf Kühe, die den Sommer lang auf der Weide grasten. Vorbei, alles vorbei.
In Fåborg besorgt er frische Lebensmittel und Fisch und lädt alles in den Lieferwagen. Als er langsam durch die Straßen läuft und Paare sieht und Kinder, verwünscht er die Tatsache, dass er auch noch dankbar sein muss für diesen Job. Er geht dicht an einer Schaufensterscheibe vorbei. Ja, das ist er, dieser kleine gedrungene Mann mit den schlohweißen Locken, die er selber schneidet, den zu kurzen Cordhosen, den abgetretenen Schuhen. Die Hose ist zu weit hochgezogen. Auf der Insel ist ihm das egal. Aber hier … Hier ist es, als wäre ein Vergrößerungsglas auf ihn und sein dummes Leben gerichtet. Das geht so weit, dass er stottert, als er sich später in einer kleinen Kneipe ein Bier bestellt. Er sieht auf die Uhr. Die Fähre geht in einer halben Stunde, gottlob, der Tag wird bald vorüber sein.
Er hat seinen Lieferwagen im Schiffsbauch geparkt, die Handbremse fest angezogen, ist nach oben aufs Deck. Die Sonne scheint immer noch, nur ist ihr Licht jetzt wärmer, beinah honigfarben, bescheint die vielen kleinen Inseln, die unbewohnt sind, der Sand leuchtet golden auf. Die Arbeiter sitzen in einer Gruppe zusammen um einen Tisch, sie trinken und rauchen, und er grüßt sie freundlich. Unten wird die Rampe hochgefahren, die Fähre legt ab, nimmt Fahrt auf, er schaut über das türkisgrüne Wasser, vom Wind zu kleinen Kämmen geriffelt, langsam, aber stetig entfernen sie sich von der Stadt, von dem Lärm, von den Menschen, von dem Gefühl des Scheiterns, von den Hirngespinsten, was hätte sein können oder hätte sein sollen, jetzt ist wieder alles so, wie es eben ist. Er kehrt heim. Er lehnt sich zurück, spürt die Sonne auf Kopf, Nacken und Schultern, da öffnet sich die Tür, und eine Frau tritt blinzelnd auf das Deck. Er hat sie noch nie gesehen, sie gehört nicht auf die Insel. Ihre kurzen dunklen Haare sind mit grauen Strähnen durchsetzt, sie muss in seinem Alter sein. Sie trägt Jeans und eine weit fallende, dunkelblaue Bluse. Ihr Blick geht über das Grüppchen der Arbeiter, fällt dann auf ihn, schweift weiter, kehrt zurück, sie schaut, fragend erst und dann nicht mehr fragend, eher so, als ob sie ihn kennte, ihre Mundwinkel heben sich zu einem schwachen Lächeln, und sie zittern, die Mundwinkel, und meine Güte, was ist er verwirrt. Verwirrt und gleichzeitig