auf ihn zu. Sie trugen lange Bärte und Hauben auf ihren Köpfen. Es waren Priester des Ono. Das Zittern, so hatte er gelesen, war für sie ein Ausdruck von Gottesfurcht und tiefem Glauben.
„Was suchst du hier, Fremder?“, fragte ihn einer der beiden Männer.
„Ich suche nach dem wahren Gott“, antwortete Daniel, eingedenk des Rats, den ihm Alexander gegeben hatte.
„Dann bist du bei uns richtig“, erwiderte der Mann. Der andere aber sagte: „Kenne ich dich nicht? Gehörtest du nicht auch zu den Schülern des ‚Alten vom Berge‘? Auch ich habe bei ihm studiert. Er war ein Heiliger. Ich hatte das Glück, noch seine Weihe zu erhalten. Kurz danach ist er leider verstorben, und viele andere, so wohl auch du, mussten ihre Ausbildung abbrechen. Willkommen bei uns. Wenn du willig bist, kannst du bei mir nachholen, was dir beim ‚Alten‘ entgangen ist.“
Diese Worte des Priesters beruhigten Daniel und irritierten ihn zugleich. Er war ihm nie in seinem Leben begegnet. Hatte der fromme Mann ihn mit jemand anderem verwechselt, wollte er sich vor seinem Kollegen wichtigmachen, hatte ihn vielleicht sogar Alexander bestochen? Dem traute Daniel inzwischen jeden Ränkezug zu.
„Mein Name ist Tamrud, und mein Bruder hier ist Selass. Sag uns nun auch, wie du heißt, Fremdling.“
„Ich bin Lukas und stamme aus Gelsenkirchen in Deutschland“, sagte Daniel, so wie es in seinem neuen Pass stand.
„Wir laden dich zum Essen ein“, fuhr Tamrud fort. „Wenn du willst, können wir dich auch beherbergen. Wir freuen uns immer über Gäste, vor allem, wenn sie auf dem Weg zu Ono sind. Sein Name sei allezeit gepriesen.“
Daniel willigte ein. Er sah keine Alternative und war sich klar darüber, dass eine Falle über ihm zugeschnappt war.
Alexanders Rat entsprechend verlegte er sich aufs Fragen. „Hat uns der ‚Alte vom Berge‘ nicht Mitleid gelehrt? Wieso wird einer, der nur versehentlich geniest hat, mit 24 Peitschenhieben bestraft?“
„Wäre er einer von uns, so hätte er mit einer höheren Strafe rechnen müssen“, antwortete Selass. „Niesen ist zwar lange nicht so gotteslästerlich wie furzen oder der Beischlaf zwischen Unverheirateten, doch der Verurteilte soll es während einer Gebetsstunde getan haben. Beim Gottesdienst oder an Feiertagen ist das Niesen kaum verzeihlich.“
„Was heißt das, dass er nicht zu euch gehört?“
„Er ist ein Belite, so heißen die, welche vom wahren Glauben abgefallen sind.“
„Ich habe über sie gelesen, und in dem Buch hat es geheißen, dass auch sie an Ono glauben, sich aber im 18. Jahrhundert von der alten Religion abgespalten hätten. Beli war der Prophet, der sie angeführt hat. Ich habe nicht recht verstanden, was der Grund für die Abspaltung war.“
„Gott ist einzigartig und ist uns durch die alten Schriften unzweifelhaft als Ono – sein Name sei gepriesen – überliefert. Beli aber verstieg sich dazu, seinen Namen mit zwei ‚n‘, also ‚Onno‘ zu schreiben und auch so auszusprechen. Kann es eine schlimmere Verirrung geben? Ono ist allmächtig und allumfassend. Es gibt nur ihn. An ihm darf nicht gezweifelt werden. Er ist Ono und nur dies allein. Seinen Namen mit zwei ‚n‘ zu schreiben, ist anmaßend und eine schwere Sünde.“
„Ich verstehe“, antwortete Daniel. „Es müsste aber doch möglich sein, eine Einigung zwischen den beiden Religionen zu finden.“
„In den meisten Glaubensregeln stimmen wir überein“, erwiderte Selass. Doch auf das zweite ‚n‘ können wir uns nicht einlassen. Das wäre dann nicht mehr unser Gott.“
„So bleibt’s unverbrüchlich bei Ono – sein Name sei gepriesen!“, erwiderte Daniel.
„Wir verstehen uns“, stellte Tamrud fest, während sie mit dem gemeinsamen Mittagessen begannen, und Selass ergänzte: „Ja, Lukas, du befindest dich auf dem richtigen Weg.“
Fürs Erste schien er gerettet. Er bat die beiden Priester, ihn im Glauben zu unterweisen und ihm eine Aufgabe zu übertragen. Sie kamen überein, dass er für die Ordnung im Gebetshaus die Verantwortung übernehmen sollte. Die bestand vor allem darin, dass die Räume sauber waren, nichts auf dem Boden herumlag, die heiligen Schriften nur den Priestern und ihren Schülern zugänglich waren, dass die Besucher der Sakralräume zum Spenden aufgefordert wurden, in allen Räumen Kerzen brannten und abends die Türen verschlossen wurden.
Daniel standen zwei Bedienstete zur Seite. Die beiden Priester jedoch erschienen meist nur zum Gottesdienst. Sie hatten Frauen und Kinder und waren häufig unterwegs, um auch außerhalb des Gotteshauses den Glauben an Ono zu verbreiten oder zu stärken. So war Daniel immer mal wieder allein.
Er fürchtete sich, in die Stadt zu gehen. Einen Monat wollte er warten, dann den Uhrmacher besuchen, um von ihm dann hoffentlich zu erfahren, dass die deutsche Polizei den Mörder von Frau Nelles ausfindig gemacht hatte. Immer wieder musste er an Ines denken. Ob sie Verständnis für ihn hatte? Und was dachten seine Eltern inzwischen? Sicher waren sie verhört worden, und Gerichtsreporter hatten sie bedrängt, um einiges über das Leben ihres Sohns zu erfahren. Sie hatten all das auszustehen, wovor er geflohen war.
Er versuchte, sich abzulenken. Da er die heiligen Texte, für deren Betreuung er zuständig war, nicht verstand, bat er einen Religionsschüler, ihm daraus vorzulesen. Der Sprachcomputer, den ihm Lore geschenkt hatte, übersetzte ihm dann die gesprochenen Worte. Daniel verstand die Inhalte oft nicht. Er wunderte sich, wie man aus einem solchen Wirrwarr ableiten konnte, dass nur Verheiratete miteinander schlafen durften und es gotteslästerlich war, zu niesen.
Bald aber musste er erleben, wie ernst Tamrud und Selass es mit ihren Glaubenssätzen hielten. In höchster Erregung teilten sie ihm mit, dass Ena und Solo, zwei Mitglieder ihrer Gemeinde, miteinander Ehebruch begangen hätten. Der betrogene Ehemann fordere Genugtuung. Ena müsse sofort gesteinigt werden.
„Warum nur sie?“, fragte Daniel. „Zum Ehebruch gehören doch mindestens zwei. Was ist mit Solo?“
„Auch er ist verheiratet“, erwiderte Selass. „Doch die göttlichen Gesetze sehen vor, dass nur die Ehebrecherin gesteinigt wird. Das ist doch logisch. Wenn sie sich nicht darauf eingelassen hätte, wäre es nie zum Ehebruch gekommen. Ono verlangt von den Frauen, dass sie Sitte und Anstand in Ehren halten. Auch Männer dürfen nicht die Ehe brechen. Pflicht der Frauen aber ist es, sie vor dieser Sünde zu bewahren. Sie aber hat ihn im Gegenteil verführt. Die Gemeinde ist aufgebracht. Sie verlangt die sofortige Vollstreckung der Steinigung. Kommt mit, wir müssen das bezeugen.“
Sie verließen das Gotteshaus und gingen zu einem nahen Platz. Dort war eine junge Frau bis zum Nabel in die Erde eingegraben. Ihr Körper war nur mit einem groben Leinenhemd bedeckt. Im Abstand von wenigen Metern liefen Männer aufgeregt gestikulierend hin und her. Alle hielten Steine in den Händen und schrien durcheinander. Der Sprachcomputer übersetzte ihm ihre Flüche und Obszönitäten. Daniel konnte es nicht fassen. Tamrud schaute an der aufgebrachten Menge vorbei und wirkte unbeteiligt. Selass aber rief der Eingegrabenen zu: „Du hast den Tod verdient. Gottes Gebote dulden keine Verstöße.“ Dann gab er ein deutliches Zeichen, mit der Steinigung zu beginnen.
Daniel hob abwehrend seine rechte Hand und rief mit fester Stimme: „Einen Augenblick noch. Ono ist durch Ena beleidigt worden. Das schreit nach Sühne. Doch der ‚Alte vom Berge‘ hat uns gelehrt, dass nur diejenigen mit Steinen werfen dürfen, die selbst ohne Sünde sind. Er hat das auch begründet. Wenn Ono beleidigt wurde, dann kann das nicht von Leuten gerächt werden, die vorher selbst gesündigt und sich damit von Gott entfernt haben. Nur wer von euch ganz ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“
Die Männer, die vorher noch wütende Lästerungen ausgerufen hatten, waren plötzlich irritiert. „Ihr wisst alle von dem ‚Alten vom Berge‘, setzte Daniel hinzu. „Er war ein untadeliger Gottesdiener und ein von Gott bestimmter Prophet. Tamrud und ich sind bei ihm in die Schule gegangen. Der Alte hat uns das, was ich gesagt habe, so gelehrt. Habe ich Recht, Tamrud?“
Daniel schaute gespannt auf die beiden Priester. Selass rang nach Worten und traute sich nicht, die Autorität des „Alten vom Berge“