nennen ließ. Auch Michail Gorbatschow und Raissa Titarenko waren aufgewachsen mit der Losung: „Danke Genosse Stalin für unsere glückliche Kindheit.“
Insofern war die Entstalinisierung auf dem Parteitag von 1956 für die meisten Parteimitglieder, aber auch für große Teile der Bevölkerung ein Schock. Stalin war es gelungen, dass die unübersehbaren Repressionen gegen die eigene Bevölkerung nicht – oder nur in geringem Maße – mit ihm in Verbindung gebracht wurden. Ähnliches hatte im Zusammenhang mit Hitler und dem Holocaust in Deutschland stattgefunden, wo es aus vieler Munde hieß: „Der Führer hat’s nicht gewusst. Und wenn er davon erfahren hätte, dann …“ Entsprechend war der XX. Parteitag ebenfalls für Gorbatschow „ein Schock“, wie er bekennt. „Aber das war nicht etwas, was ich als Verlust der Orientierung empfand. Ich habe es nicht als Zusammenbruch, sondern als Chance und Beginn von etwas Neuem wahrgenommen. Als neue, riesige Möglichkeit für die Zukunft.“27
Wie treu Gorbatschow damals gegenüber dem System und der neuen Führung war, zeigte sich auch daran, dass er im Herbst 1956 die Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn für berechtigt hielt, wo sowjetische Panzer gegen eine Bevölkerung vorgingen, die den Sozialismus nicht als Segen der Menschheit ansah, sondern Freiheit wollte. Die Niederschlagung des Aufstandes sei notwendig gewesen, so Gorbatschows damalige Sicht, weil der Westen danach strebte, „das Rad der Geschichte zurückzudrehen, wogegen wir uns wehrten.“28 Glaubt man seiner retrospektiven Darstellung aus den 1990er-Jahren, kamen ihm aber schon kurz nach dem Ungarn-Aufstand Zweifel an der Richtigkeit der Niederschlagung. Zahlreiche sowjetische Publikationen seien damals mit der klaren Absicht verfasst und unter die Leute gebracht worden, die Ereignisse in Ungarn als die notwendige Verteidigung gegen die Konterrevolution darzustellen. Gerade die Vielzahl der Publikationen habe bei ihm jedoch das Gegenteil bewirkt und Zweifel genährt.
So oder so hätte sich ein 25-jähriger, aufstrebender Komsomol-Funktionär wie Gorbatschow ohnehin nicht gegen die Parteilinie stellen, ja nicht einmal vorsichtige Zweifel äußern können. Im Statut des Jugendverbandes war als wichtigste Aufgabe niedergelegt, „junge Menschen im Geiste des Kommunismus zu erziehen“ und sie zur „aktiven Unterstützung der Partei“ anzuleiten.29 Insofern blieb Gorbatschow ein „Hundertprozentiger“, musste es bleiben, um seine Position nicht zu gefährden. Ob er diese Haltung nur gezwungenermaßen nach außen hin zeigte oder aber nach wie vor verinnerlicht hatte, ist nicht mehr zu beurteilen.
Privat kündigte sich 1956 ein hoch erfreuliches Ereignis an: Raissa war erneut schwanger. Nach der medizinisch erforderlichen Abtreibung zwei Jahre zuvor mischte sich in die Freude allerdings auch die große Sorge und Angst, ob alles gut gehen würde. Diesmal verlief alles normal: In der Nacht vom 6. Januar 1957 gebar sie daheim Tochter Irina. Das junge Paar war überglücklich. Das freudige Familienereignis trug auch dazu bei, das Verhältnis zwischen Gorbatschows Mutter und Raissa deutlich zu verbessern. Maria Pantelejewna war Großmutter geworden und fortan milder gestimmt. Doch wie sollte die Kleinfamilie weiterhin in einem Elf-Quadratmeter-Zimmer wohnen? „Dank der Anstrengungen von Michail Sergejewitschs Kollegen bekamen wir im selben Jahr eine staatliche Wohnung“, erzählte Raissa 1991.30 Es handelte sich um zwei Zimmer in einer Kommunalka, einer riesigen Gemeinschaftswohnung, die sich in einem mehrstöckigen Gebäude befand. Diese bestand aus insgesamt acht Zimmern mit einer gemeinsamen Küche und einem gemeinsamen Bad. Sowjetischer geht es nicht mehr.
Michail und Raissa lernten das raue Leben des real existierenden Sozialismus jetzt auch von dieser Seite kennen. Sie wussten also später auf dem Gipfel der Macht, wovon sie sprachen, wenn in der Politik die Rede „vom Leben der Menschen“ war. In der Kommunalka wohnte ein Alkoholiker mit seiner Mutter, ein Mechaniker einer Bekleidungsfabrik, ein Gasschweißer, ein Oberst im Ruhestand – alle mit Familie. Und vier Single-Frauen. „Das war ein Staat mit seinen ungeschriebenen, aber klaren Gesetzen für alle. Hier arbeiteten und liebten wir, gingen aneinander vorbei. Wir tranken auf Russisch, stritten auf Russisch und vertrugen uns auf Russisch, spielten abends Domino, feierten gemeinsam Geburtstage“,31 erinnerte sich Raissa, die drei Jahre mit Mann Michail und der kleinen Irina in der Kommunalka lebte.
Es waren schwierige Jahre der Enge und der Armut. Und doch fielen sie in eine Zeit der Euphorie und Aufbruchsstimmung im Land. Eine entscheidende Ursache dafür waren die sowjetischen Erfolge in der Raumfahrt. Der Start des ersten künstlichen Erdsatelliten Sputnik 1 am 4. Oktober 1957 war ein Schock für den Westen, insbesondere für die USA. Wie konnte es sein, dass ein Land mit Planwirtschaft solch eine wissenschaftliche Pionierleistung vollbrachte?
„Gott, was haben wir damals gejubelt und triumphiert“, beschreibt Raissa Gorbatschowa das kollektive Gefühl.32 Und ihr Mann Michail: „Das hat auch mich bewegt und nicht nur mich, sondern eine Vielzahl von Menschen. Wir waren damals sehr aufrichtige Anhänger der Politik Chruschtschows.“33 Vor allem in den USA breitete sich ein Bedrohungsgefühl aus, was zunächst zu Veränderungen in der Bildungspolitik führte und zu einer beträchtlichen Steigerung der Forschungsausgaben, natürlich auch im Bereich der Rüstung: Die Gründung der NASA 1958 kann als direkte Folge des sowjetischen Sputnik-Erfolgs angesehen werden. Zweifellos war die sowjetische Bevölkerung und ihre politische Führung zu diesem Zeitpunkt überzeugt, der Sozialismus/Kommunismus sei dem westlichen System tatsächlich überlegen und die eigene Propaganda spiegele nur die Wirklichkeit.
In einen wahrhaften Siegestaumel geriet das Land, als der Kosmonaut Juri Gagarin am 12. April 1961 mit dem Raumschiff Wostok 1 als erster Mensch ins Weltall flog und die Welt umrundete. „Pojechali!“, auf geht’s, waren seine legendären Worte unmittelbar vor dem Abflug, was sich jedem Kind und jedem Erwachsenen in der Sowjetunion und in den Nachfolgestaaten eingeprägt hat. Das Ereignis hatte eine einigende Wirkung und schuf einen „sowjetischen“ Nationalstolz. Die Namensgebung Wostok (Osten) für das Raumschiff war vor dem Hintergrund des Kalten Krieges selbstverständlich ideologisch.
Nicht nur Einzelpersonen, sondern ganze Völker hatte Stalin nach Sibirien und anderswo deportieren lassen, darunter Karatschaier, Kalmücken und Krimtataren. Diese Völker holte Chruschtschow ab 1957 zurück in ihre angestammten Regionen und sorgte für ihre Rehabilitierung. Doch all diese Menschen mussten nun auch irgendwo unterkommen. Viele von ihnen stammten aus der Region Stawropol, wo der Wohnraum schon zuvor knapp gewesen war. Dem Komsomol-Mann Gorbatschow fiel die Aufgabe zu, das Netz von kommunistischen Jugendorganisationen auszubauen, um ausgerechnet den Kindern dieser Rückkehrer die Ideen Lenins nahezubringen. Doch vom Kommunismus und von allem, was damit zusammenhing, hatten die Deportierten mehr als genug.
Im April 1958 stieg Gorbatschow erneut innerhalb des Komsomol auf: Er wechselte von der Stadtebene auf die Regionsebene, zunächst als Zweiter und ab März 1961 als Erster Sekretär. In dieser Zeit bekamen er und seine Frau endlich auch die erste richtige Wohnung zugeteilt: 38 Quadratmeter, zwei Zimmer, eine eigene Küche und ein eigenes Bad. Es ging aufwärts, endlich auch beruflich für Raissa, die eine Stelle als Philosophie-Dozentin am Institut für Medizin antrat. Raissa Gorbatschowa zählte auf, zu welchen verschiedenen Themenfeldern sie Vorlesungen hielt: Werke oder Theorien von Hegel, Lenin, Kant, soziologische Konzepte und die Rolle von Persönlichkeiten für den Lauf der Geschichte. Ihre Dissertationsschrift von 1967 hatte hingegen unserem Verständnis nach ein eindeutig soziologisches Thema: Herausbildung neuer Merkmale der Lebensweise der Kolchosbauern auf der Grundlage soziologischer Forschungen in der Region Stawropol. Der Begriff ‚Philosophie‘ war in der Sowjetunion sehr weit gefasst. Selbst Lenin galt damals als Philosoph und Denker, natürlich als ein ganz großer.
Bis zu ihrer Anstellung 1961 hatte die fleißige und ehrgeizige Raissa in Stawropol beruflich nicht Fuß fassen können. Aufgrund der noch niedrigen Karrierestufe ihres Mannes war auch auf Protektion und Beziehungen nicht zu hoffen gewesen. „Der berufliche Schmerz“ sei lange groß gewesen, bekannte sie. Auch sei es bei der Stellenvergabe oft nicht um Qualifikation gegangen; einige Dozenten seien schlicht „unfähig“ gewesen, und es habe niemanden gekümmert, dass die Studenten mit den Vorlesungen unzufrieden gewesen seien. Freie Stellen in den Instituten seien in der Regel intern vergeben worden. Sie selbst habe zunächst, wenn überhaupt, nur befristet oder als Aushilfe gearbeitet. „Vier Jahre lang hatte ich keine feste Arbeit.“34 Sich nach der Geburt ihrer Tochter ausschließlich um die Familie zu kümmern, kam für