das Jahre her ist, kann der Grabstein unmöglich hier in der Gegend herumgedümpelt sein, wenn überhaupt. Schließlich ist er sehr schwer, und da besteht eher die Möglichkeit, dass er untergegangen ist wie die anderen Grabsteine und die Überreste der Kapelle.«
Er wandte ihr wieder seinen Blick zu. »Warum wollen Sie auf alles eine Antwort haben? Das Meer zerstört, verschlingt und gibt wieder preis, wenn es an der Zeit ist. Und nun ist es an der Zeit. War er in einem Gestrüpp verfangen? Wurde er beim letzten Sturm wieder hochgespült? Ist das wichtig? Entscheidend ist, dass Sie ihn gefunden haben, weil Sie ihn finden sollten. Kelly …, sechzehnter September …, das ist kein Zufall, sondern Vorbestimmung.«
Jetzt bekam sie eine Gänsehaut.
»Und ist es dann auch eine Vorbestimmung, dass die andere Kelly nur fünfundzwanzig Jahre alt geworden ist? Das bin ich jetzt auch und ich …«, ihre Stimme wurde leiser, »ich habe Angst.«
Er schob seine knochige Hand über den Tisch, umschloss ihre Rechte mit einer sanften, behutsamen Geste.
»Sie müssen keine Angst haben, alles wird gut, wenn noch ein paar Widerstände überwunden sein werden.«
Er wollte sie trösten, weil er spürte, wie aufgewühlt sie innerlich war. »Danke, dass Sie mich trösten wollen, Mr ….«, jetzt fiel ihr ein, dass sie von ihm nichts als seinen Vornamen kannte und dass es etwas Außergewöhnliches in seinem Leben gegeben hatte vor seiner Zeit in Blackham Market und der Strandbude.
»Jonathan«, sagte er, »nennen Sie mich einfach Jonathan, das tun hier alle, und das reicht. Was sind schon Namen …«
Er lächelte, und so etwas auf seinem sonst mürrischem Gesicht zu sehen, war unglaublich, denn erst jetzt sah Kelly, dass er das besaß, was man einen »Charakterkopf« nannte. Und er war ganz gewiss ein äußerst attraktiver Mann gewesen mit vielen Chancen in der Damenwelt.
Ob er je verheiratet gewesen war? Hatte er Kinder?
Schon verrückt, dass ihr angesichts ihres eigenen Elends solche Gedanken durch den Kopf schossen.
»Ich will Sie nicht trösten«, sagte er, »ich weiß es. Ich weiß auch, dass Sie das Letzte unerfreuliche Kapitel Ihrer Vergangenheit sehr schnell vergessen haben werden.«
Wie gern würde sie ihm glauben.
»Wissen Sie etwas über die MacCreadys, Jonathan?«
Wieder dieses unbeschreibliche Lächeln, dann schüttelte er den Kopf.
»Nein, mag sein, dass ich jemanden von ihnen kenne, aber, wie gesagt, Namen sind bedeutungslos …, für mich. Sie allerdings … Sie werden mit diesem Namen schicksalhaft verbunden sein.«
Er erhob sich.
»Tut mir leid, ich muss mich um meine Gäste kümmern«, er deutete auf das Glas, das noch immer auf dem Tisch stand. »Sie sollten es austrinken, es ist nicht genug drin, um sich zu betrinken, und Alkoholikerin werden Sie davon auch nicht.«
Er ging zur Tür, öffnete sie, dann rief er: »Meine Herrschaften, nun stehe ich Ihnen wieder zu Diensten.«
Das wurde mit dankbarem Applaus begrüßt, denn die Gläser waren bereits wieder leer.
Sie hatte ihn nicht fragen können, woraus er sein Wissen schöpfte. Auch vieles sonst war unbeantwortet geblieben.
Dennoch fühlte Kelly sich besser. Viele seiner Worte verwirrten sie, doch sie war absolut davon überzeugt, dass er glaubwürdig war.
Er hatte gesagt, dass sie nichts hinterfragen sollte.
Sie zögerte.
Sollte sie auf eine weitere Gelegenheit warten, um mit ihm reden zu können? Das eine oder andere wollte sie schon gern wissen.
Noch während sie darüber nachdachte, kamen weitere Gäste an, die teilweise draußen Platz nahmen oder, wie sie es ja auch getan hatte, in die Strandhütte kamen.
Für Jonathan war es ein guter Tag. Gäste brachten Geld in die Kasse.
Für sie war es schlecht, denn nun würde es keine Möglichkeit mehr geben, mit ihm zu sprechen, ihm noch die eine oder andere Frage zu stellen, die ihr schon auf der Seele brannte.
Kelly erhob sich, wollte gehen, dann besann sie sich, griff nach dem Glas, trank den Whisky aus, nicht, weil sie das Gefühl hatte, ihn jetzt nötig zu haben, sondern weil er es ihr mehr oder weniger aufgetragen hatte und sie ihn nicht verärgern wollte, wenngleich dieses Argument ein wenig töricht war.
Dieser Ansturm auf seine Strandbude schreckte ihn nicht. Er ging souverän von Tisch zu Tisch, nahm die Bestellungen entgegen.
Als er wieder rein kam, lief Kelly rasch auf ihn zu und sagte: »Danke …, vielen, vielen Dank. Es ist zwar noch vieles ungeklärt, aber ich bin wenigstens nicht mehr panisch.«
Er strich ihr behutsam über die Wange. »Dazu haben Sie auch überhaupt keinen Grund, mein Kind …, es ist alles klar, es ist alles vorbestimmt, Sie müssen den Weg nur noch gehen …, alles ist gut.«
Er lief behende hinter seine Theke und begann dort zu hantieren.
Kelly wusste, dass sie hier nichts mehr verloren hatte.
Sie ging hinaus, lehnte erneut die Einladung der trinkfreudigen Gesellschaft ab, an ihrem Tisch Platz zu nehmen.
Sie machte sich auf den Weg zurück.
Auch wenn Jonathan ihr davon abgeraten hatte, alles zu hinterfragen, konnte sie es nicht lassen. Was wusste er? Was hatte er noch gesehen?
Konnte man das Schicksal eines anderen Menschen wirklich träumen?
Oder hatte er nur zu viel Fantasie, konnte sich in einen anderen Menschen hineindenken?
Nein! Das wurde ihm nicht gerecht.
Es gab da etwas Unerklärliches zwischen ihnen, das spürte Kelly, und er war auch kein Schwätzer, auch wenn sie ihm das mit dem Kennen aus einem früherem Leben nicht so richtig abnahm, weil es ihr einfach zu esotherisch war.
Doch hatte sie, nachdem sie den Grabstein gefunden hatte, nicht auch den Gedanken gehabt, mit Kelly MacCready schicksalhaft verbunden zu sein?
Ihre Gedanken schwirrten umher wie aufgescheuchte Bienen in einem Bienenstock, und dennoch kam sie zu keinem Ergebnis.
Zu welchem denn auch?
Alles war vage, und dennoch wusste Kelly, dass sich etwas verändert hatte.
War das mit Jim Adams geschehen, weil der nicht auf ihrem Weg gehörte?
Nein, jetzt nicht auch noch an Jim denken. Das Kapitel war doch abgeschlossen, warum kramte sie es wieder hervor? Weil es erfassbar, durchschaubar war, während alles Andere in einem diffusem Licht, im Nebel lag?
Sie beschleunigte ihren Schritt, dachte sogar daran, einfach abzureisen, den Grabstein zu vergessen, auch Jonathans Worte.
Sie hatte es noch nicht einmal zu Ende gedacht, als sie wusste, dass sie das niemals tun würde.
Sie konnte es einfach nicht, weil dieses Gefühl, diese Wahrheit in ihr, es einfach nicht zulassen würden.
Eines allerdings schaffte sie.
Sie bezwang sich und lief nicht noch einmal zum Grabstein, nachdem sie sich aus der Ferne davon überzeugt hatte, dass er noch immer an seinem Platz lag und davon auszugehen war, dass selbst heftige Wellen ihn davon nicht wegspülen würden.
Auch wenn es ihr schwerfiel, ging sie weiter.
Von dem Fischkadaver war nichts mehr zu sehen.
Entweder hatte das Meer sich ihn zurückgeholt, oder jemand hatte ihn hineingeworfen, weil dieser zerfledderte Fisch ziemlich unappetitlich ausgesehen hatte.
Wie waren noch Jonathans Worte gewesen?
Das Meer nahm, das Meer gab …, es riss mit sich, es gab wieder preis.
Im Grunde genommen war es wie das Leben. Es gab