anrufen und sich von Hubs verabschieden können. Und denk doch an die Kinder, Thomas! Angeblich hat sie beide so liebgehabt. Und dann verschwindet sie einfach so.«
»Angeblich«, wiederholte er ironisch. »Ja, den Schein hat sie zu wahren gewußt, Angie. Aber Schein ist eben nicht alles.«
»Wieso? Was weißt du über Nora Anderson?«
Er drückte ihren Arm zärtlich. »Nichts, Angie. Gar nichts.«
Unwillkürlich rückte sie ein Stückchen von ihm ab. Zwischen ihnen stand etwas. Angie wehrte sich mit aller Macht gegen den Gedanken, daß auch hier Nora im Spiel war. Und doch mußte sie mehr erfahren. Sie liebte Thomas doch. Dieses Gefühl war wie ein Orkan über sie gekommen, und sie stemmte sich mit der Kraft der Liebe gegen dieses Unbehagen, das sie ergriff. Sie wollte glücklich sein. Und darum mußte sie alles tun, um die dunklen Wolken, die auch ihr Glück bedrohten, zu verscheuchen.
»Du weißt mehr über Nora Anderson, als du mir verraten willst, Thomas. Komisch, ich habe es von Anfang an geahnt.«
Thomas holte tief Atem. »Ich weiß doch kaum mehr als du, Angie. Sie ist Schwedin und hat in Lüttdorf Ferien gemacht. Dabei hat sie deinen Sohn kennengelernt. Er hat sich in sie verliebt. Und weil er sie täglich um sich haben wollte, schlug er dir vor, Nora als zusätzliche Hilfe ins Haus zu holen.«
Sie hob das Gesicht und sah ihm in die Augen. Sie waren grau, aber so sanft wie sonst wirkten sie nicht. Ob das am Dämmerlicht lag?
»Wie gern würde ich dir glauben«, flüsterte sie. Als sie weitersprach, wurde ihre Stimme wieder lauter und energischer. »Du bist seit einem Vierteljahr als Arzt in Lüttdorf tätig. Da du ein guter Arzt bist, viele Menschen kennengelernt hast und schnell das Vertrauen der Leute erringst, erfährst du sehr viel. Darum wirst du auch längst erfahren haben, was mit dieser Nora los ist. Sie muß doch ein berüchtigtes Mädchen sein, sonst wäre Gerd nicht so wütend geworden, als er sie an Wolfis Bett entdeckte.«
»Du mußt ihn selbst fragen.«
»Er weicht mir aus, Thomas.«
Thomas beugte sich vor und schaute sie lächelnd an. So, als wäre dies eine heitere Plauderstunde. »Warum ziehst du so ein Gesicht? Hast du eine Mücke auf der Nase?«
»Nein, ich habe nur nachgedacht. Jetzt ahne ich auch, wer Klarheit in dieses Dunkel bringen kann.«
Über ihnen sang eine Amsel. Frieda rief nach den Kindern. Wolfi und Xenia mußten ins Bett.
Angie hob den Kopf und lauschte zum Haus hinüber. Nein, Hubs’ Stimme war nicht zu hören, er hatte sich den ganzen Tag nicht blicken lassen. Ein Schmerz durchzog ihr Inneres. Sie wußte, was Einsamkeit bedeutete und wie Enttäuschung quälen konnte. Gerade jetzt, da sie bei Thomas saß und er ihr doch so fremd erschien.
»Wer kann denn Licht in das Dunkel um Nora Anderson bringen?« fragte er mit betont lustiger Stimme.
»Ich werde Gerds Frau bei ihrer Mutter anrufen. Natalie war doch schon einige Tage in Lüttdorf. Vielleicht weiß sie etwas über Nora. Da Gerd die Schwedin kannte, hat er seiner Frau doch gewiß einiges von ihr erzählt.«
Sie merkte, daß sich Thomas’ Haltung veränderte. Er setzte sich aufrecht hin, und der Arm, der sie immer noch umschlungen hielt, preßte sich mit ungewöhnlichem Druck gegen ihre Taille.
»Das würde ich nicht tun, Angie. Du hast selbst gesagt, daß die Mutter deiner Schwägerin krank ist.«
»Darauf kann ich jetzt keine Rücksicht mehr nehmen. Mein Sohn ist auch krank.«
»Sein Liebeskummer wird vorübergehen. Die Launen eines Sechzehnjährigen berechtigen noch nicht zu einer unbedachten Tat.«
»So unbedacht handele ich nicht, Thomas. Ich bin seit mehr als drei Wochen hier. Natalie ist die Mutter von Wolfi und Xenia. Wir haben uns immer sehr gut verstanden, ja, wir sind Freundinnen. Und jetzt, da mein Bruder schon wieder abgefahren ist und ich nicht weiß, wann er zurückkommen wird, muß ich wissen, was hier eigentlich gespielt wird.«
»Du willst nur wissen, was mit Nora los ist. Selbst wenn du es erfährst, nützt es nichts. Keiner kann dir sagen, wann dein Bruder zurückkommt.«
Angie beschlich ein merkwürdiges Gefühl. Es mußte ein aufkeimendes Mißtrauen sein. Warum hatte Gerhard Thomas einen Spinner genannt?
Was ging zwischen den beiden Männern vor?
»Hast du gewußt, daß mein Bruder Nora Anderson kennt?«
Thomas’ Arm glitt von ihrem Rücken. Er erhob sich, und die morschen Bretter des kleinen Stegs knarrten unter seinem Gewicht.
»Ich muß noch zu einem Patienten, Angie. Wenn du willst, rufe ich dich gleich morgen an.«
»Und was ist morgen?« fuhr sie auf und stand plötzlich mit einem vor Erregung geröteten Gesicht neben ihm. »Wirst du mir morgen erklären, was du von Nora Anderson weißt? Schon neulich hast du ausweichend geantwortet. Das ist nicht fair. Lüttdorf ist ein kleiner Ort. Hier bleiben Geheimnisse nicht lange verborgen. Du hast viele Patienten in der Stadt. Wenn du wolltest, könntest du einiges erfahren und es mir weitererzählen.«
»Und was hättest du davon, Angie?«
»Ich säße hier nicht so verloren und verlassen herum. Hubs würde endlich aus seinem Zimmer kommen. Er grollt meinem Bruder und hat Liebeskummer. Wenn das so weitergeht, kann ich ihn nicht einmal dazu überreden, für seine Prüfung zu arbeiten. Er hört sowieso kaum auf mich, seitdem Nora aufgetaucht ist.«
Wortlos wandte Thomas sich dem Garten zu. Er bog die Zweige des Dickichts auseinander, damit sie ihm folgen konnte. Wütend sah Angie auf seinen Rücken. Das Mißtrauen in ihr wurde immer quälender, und plötzlich ergab sich für sie die Frage, ob Nora nicht vielleicht mit Thomas Hassberger unter einer Decke steckte? Aber warum? Was hatten die beiden im Schilde geführt? Und wenn es so wäre, dann richtete sich deren Plan doch höchstens gegen Gerhard. Ob es um Geld ging?
»Woher kennst du Nora Anderson?« fragte sie noch einmal, als sie das Dickicht hinter sich gelassen hatte.
Thomas blieb stehen. Er lächelte erstaunt. »Warum stellst du mir so alberne Fragen, Angie? Ich habe Nora zum erstenmal bei dir gesehen. Ich war sehr froh, daß sie dir zur Hand ging. Sonst wären wir einander nicht so nahe gekommen.«
»Ja«, erwiderte Angie bitter. »Ja, so ist es.«
Sie gingen durch den Garten. Auf dem Giebel der Villa saß eine Drossel, und sie sang mit der unten am See um die Wette. Die Luft war mild, ein süßlicher Duft lag über allem. Trotzdem erschien Angie dies Paradies von einer nicht erkennbaren Gefahr bedroht. Kein Mensch konnte ihr helfen, Nun gut, das war sie gewohnt. Aber daß Thomas sich so gleichgültig verhielt, tat ihr weh.
Wahrscheinlich liebte er sie gar nicht. Sie war doch schon vierzig, eine Witwe mit feinen Fältchen in den Augenwinkeln.
»Gute Nacht«, sagte sie.
Thomas hob den Arm, um ihn auf ihre Schulter zu legen und sie zum Abschied zu küssen. Aber sie duckte sich blitzschnell und lief ins Haus. Dort schloß sie die Tür. Sie mußte herausfinden, wie Thomas zu Nora stand. Irgend jemand log hier. Und da sie Gerhard nicht zur Rede stellen konnte, blieb ihr doch nur das Telefongespräch mit Natalie.
*
Die Professorenwitwe Rosa Kibeling bewohnte eine große Wohnung etwas außerhalb von Baden-Baden. Von ihrem Balkon aus konnte sie hinunter auf die Stadt blicken, und jetzt am Abend war es besonders schön, wenn dort unten die Lichter angingen und der Himmel sich hinter den Hügeln langsam von Rosa zu Violett färbte.
Frau Rosa Kibeling liebte es darum, hier am Abend zu sitzen und ihren Wein zu trinken. Gerade hatte das Dienstmädchen Dorle eine Flasche entkorkt und sie mit zwei Gläsern auf den kleinen Tisch gestellt.
Als sie gehen wollte, fragte Frau Kibeling: »Wo ist meine Tochter?«
Dorle hob die Schultern. »Ich glaube, Frau Stellmann hat sich in ihr Zimmer zurückgezogen.«
Die