die Nachwelt fest. Eine erinnerungsverstärkende App, die Kade zusammen mit den Dateien aus dem Netz in Shivas Jet geladen hatte, kategorisierte den Mann vor ihm.
[Rakesh Aggarwal]
[Sonderbeauftragter des Außenministeriums]
Sonderbeauftragter, dachte sich Kade. Ein Fix-it-Typ. Ein Reinemacher. Das könnte gut für sie sein. Oder auch äußerst schlecht.
Die Tür schloss sich hinter Aggarwal und Kade war nun alleine mit ihm im Raum, bewaffnete Wärter auf der anderen Seite der Tür. Schon wieder ein Faraday’scher Käfig, der ihn von der Außenwelt abschnitt. Feng und Sam waren in separaten Befragungszimmern und die Kinder unter vorübergehender Aufsicht von Thai sprechenden Sozialarbeitern.
Kade kam gleich zum Punkt. »Mr. Aggarwal, ich möchte hiermit offiziell um Asyl hier in Indien bitten. Für mich, für meine Begleiter und für alle Kinder, die wir bei uns haben.«
Aggarwal erstarrte für einen Augenblick. Dann ließ er sich auf dem Stuhl am anderen Ende des Tisches nieder und signalisierte Kade, es ihm gleichzutun.
Kade nahm wieder auf seinem Stuhl Platz, noch langsamer, als er sich von ihm erhoben hatte, und zuckte erneut unter den Schmerzen in seinen Rippen zusammen.
»Mr. Lane«, begann Aggarwal. »Sie sollten sich im Klaren sein, dass Indien ein wechselseitiges Auslieferungsabkommen mit den Vereinigten Staaten hat, wo die Regierung wegen Terroranschlägen nach Ihnen fahndet.«
Kade nickte lächelnd und versuchte seine Müdigkeit zu kaschieren. »Ja. Deswegen ersuche ich offiziell um Asyl.«
Aggarwal schürzte seine Lippen. »Mr. Lane, bestimmt besteht theoretisch die Möglichkeit für Indien ein politisches, religiöses oder menschenrechtliches Asyl zu gewähren, das eine Auslieferung oder andere Abkommen aushebelt. Um das zu erreichen, müssten Sie jedoch eine Klage erheben, die sich dagegen richtet, dass ihre Heimatregierung Sie aus Gründen verfolgt … die Indien als rechtsungültig ansieht. Welche Klage möchten Sie in diesem Fall erheben?«
Kade fing den Blick des Sonderbeauftragten ein. »Mr. Aggarwal, meine Landesregierung, die Regierung der Vereinigten Staaten, verfolgt mich dafür, dass ich Männer und Frauen mit Werkzeugen ausstatte, die ihre eigenen Bewusstseine bereichern und ihre Verbindungen zueinander verbessern.«
Aggarwal schüttelte ganz leicht den Kopf, wobei er Kade nicht aus den Augen ließ. »Mr. Lane, wie Ihnen bekannt sein müsste, ist Indien Unterzeichner des Kopenhagener Abkommens, welches ausdrücklich bestimmte Formen menschlicher Aufwertung untersagt. Wovon Sie hier sprechen ist diesem Abkommen nach auch in Indien ein Verbrechen. Wir können Ihnen auf dieser Grundlage kein Asyl gewähren.«
Kade lehnte sich zu ihm vor, wobei er noch fest in die Augen des Mannes sah, und faltete seine Hände auf dem Tisch übereinander. Die gesunde Linke über die bandagierte Rechte. »Aber wenn Indien aus dem Kopenhagener Abkommen aussteigt«, sagte er zum Sonderbeauftragten, »dann könnten Sie uns Asyl gewähren.«
Aggarwal starrte ihn an. Seine Lippen öffneten sich. Er runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen. Sein Blick war von einer solch tiefen Abscheu, dass Kade sich wunderte, ob er die Situation falsch eingeschätzt hatte. Ob er so falsch liegen konnte.
»Warum sollte Indien wohl aus dem Kopenhagener Abkommen aussteigen?«, fragte Aggarwal. »Einfach nur zu Ihrem Vorteil, Mr. Lane?«
Kades Blick wich nicht von dem Mann. Er erhob sich, während er seine Hände immer noch auf dem Tisch abstützte.
»Im September haben Nachrichtenquellen berichtet, dass Indien ein Geheimprogramm durchgeführt hat, das mit Nexus experimentierte, indem es die Droge einsetzte, um Lernvorgänge bei Kindern zu beschleunigen«, teilte Kade Aggarwal mit. Er wartete einen kurzen Moment, bevor er weitersprach. »Mr. Aggarwal, ich weiß, dass das der Wahrheit entspricht. Ich habe die Bewusstseine der Schüler dieses Programms berührt. Und die der von der Regierung eingestellten und trainierten Lehrer.«
Der Sonderbeauftragte runzelte die Stirn.
»Sie sind bereits auf dem besten Wege aus dem Kopenhagener Abkommen auszutreten«, sagte Kade. »Nexus gibt Ihnen endlich den Technologievorsprung, der einen Austritt wert ist. Einen Vorsprung, deren Anwendung einfach genug ist und Ihnen große wirtschaftliche Vorteile bringt. Der Nutzen, den Nexus Ihrem Land bringt, überwiegt bei Weitem die Kosten, die ein Bruch mit den USA, Europa und China mit sich bringt. Sie können doch eins und eins zusammenzählen. Und nun ist es nur noch eine Frage der Zeit.«
Vermutungen, reine Vermutungen. Aber sie mussten einfach stimmen. Davon hing alles ab.
Aggarwal schüttelte den Kopf. »Mr. Lane, selbst wenn diese … haltlosen Behauptungen der Wahrheit entsprechen würden … was zählt, ist nicht, ob wir das Kopenhagener Abkommen zu einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft verlassen. Was zählt, ist, was jetzt gerade passieren soll.«
Kade hielt an seinem Standpunkt fest. Im Endeffekt lief doch alles darauf hinaus, sagte er sich selbst.
»Mr. Aggarwal«, sagte er, wobei er seine Worte sorgfältig betonte. »Ich weiß, dass die indische Regierung hart an der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Landes gearbeitet hat. Und das seit … nun … 2024.«
2024. Das Jahr, in dem Indien die Welt durch eine Erfolgswelle bei den Olympischen Spielen in Atem hielt. Das Jahr, in dem Indien doppelt so viele Goldmedaillen nach Hause holte als in irgendeinem Jahr zuvor. Und das auf Grund von Shivas Geheimnis in Form von hochillegalen biotechnischen Optimierungen. Optimierungen, die Shivas Gesellschaften die ganze Zeit über bis zu den Sommerspielen 2040 in Doha geliefert hatten.
»Tatsächlich weiß ich eine ganze Menge, von dem ich sicher bin, dass die Regierung es nur ungern auffliegen sehen würde. Das meiste davon verstößt gegen das Kopenhagener Abkommen.«
Er ließ diese Drohung unausgesprochen im Raum stehen.
Aggarwal starrte ihn einfach nur an.
»Mr. Aggarwal«, führte Kade fort. »Das Letzte, was ich will, ist Indien zu schaden. Ich bin mir sicher, es liegt im strategischen Interesse Ihres Landes, mit dem Einsatz von Nexus voranzuschreiten und Kopenhagen hinter sich zu lassen. Ich bin mir sicher, Ihre Regierung ist bereits längst zu diesem Schluss gekommen. Wenn dies also wirklich nur eine Frage des Timings ist, dann könnten wir die Sache vielleicht etwas beschleunigen.«
Nach dieser Unterredung saß Kade eine Zeit lang alleine in dem Raum. Aggarwal war gegangen, um sich mit seinen Vorgesetzten zu beratschlagen. Er verbarg seine Verachtung kaum. Stunden vergingen.
Der Plan stammte eigentlich von Sam. Sie hatten irgendwo hinfliegen müssen. Sie hatten davon ausgehen müssen, dass, wo auch immer sie landen würden, die CIA Wind davon bekommen würde. Nakamura hatte Kade bis hin zu Shivas Haus auf Apyar Kyun aufspüren können, was bedeutete, dass die CIA ebenfalls von seinem Aufenthaltsort gewusst hatte. Das Feuergefecht und Nakamuras Tod hätte so einige Alarmglocken läuten lassen müssen. Der Start von Shivas Flugzeug und sein letzter Landeort waren wohl kaum unbemerkt geblieben.
Thailand war eine Option gewesen. Die Thailänder hatten das Kopenhagener Abkommen – sehr zum Missfallen der USA – bereits verlassen. Die Machthaber hatten für Kade, Feng und Sam nach dem Anschlag auf Anandas Kloster vor sechs Monaten ein Auge zugedrückt, zumindest für ein paar Tage. Doch das hatte ihnen genug Zeit gegeben, um sich aus dem Staub zu machen. Aber was nun? Nun, da ein hochrangiger CIA Funktionär tot war? Nun, da die Öffentlichkeit in den USA Kade für die terroristischen Attacken der PLF verantwortlich machte und sich insgeheim auf die Jagd nach seinen Programmhintertüren machte? Welche Art von Druck würde die US Regierung auf Thailand ausüben, um eine Auslieferung Kades und Sams zu bewirken? Wirtschaftssanktionen? Eine Beschlagnahme von Vermögenswerten in US-amerikanischem Besitz?
Und wie viel schwieriger würde es werden, mit fünfundzwanzig Kindern im Schlepptau zu entwischen?
Indien war da anders. Indien war eine aufsteigende Großmacht: die drittgrößte Volkswirtschaft auf diesem Planeten. Das bevölkerungsreichste Land der Welt. Es war kein Land, das die USA