Herbert George Wells

H. G. Wells – Gesammelte Werke


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wei­ter ge­gen May­bu­ry zu fort­ge­schli­chen, in der Hoff­nung, wei­te­ren Ge­fah­ren zu ent­rin­nen, wenn er die Rich­tung nach Lon­don ein­schlug. Die Leu­te hiel­ten sich in Grä­ben und Kel­lern ver­bor­gen, und vie­le der Über­le­ben­den hat­ten sich nach Wo­king Vil­la­ge und Send auf­ge­macht. Der Mann war fast ver­schmach­tet vor Durst, bis er end­lich in der Nähe des Brücken­bo­gens der Ei­sen­bahn ein ge­bors­te­nes Was­ser­rohr ent­deck­te, aus dem das Was­ser wie aus ei­ner Quel­le sich auf die Stra­ße er­goss.

      Das war der Be­richt, den ich Stück für Stück aus ihm her­aus­be­kam. Wäh­rend des Er­zäh­lens wur­de er ru­hi­ger und ver­such­te, mir die Din­ge so an­schau­lich zu ma­chen, wie er sie ge­se­hen hat­te. Seit Mit­tag, sag­te er mir gleich an­fangs, hat­te er kei­nen Bis­sen zu sich ge­nom­men. Ich fand et­was Ham­mel­fleisch und Brot in der Spei­se­kam­mer und brach­te es ins Zim­mer. Wir zün­de­ten kei­ne Lam­pen an, aus Furcht, die Auf­merk­sam­keit der Mars­leu­te auf uns zu len­ken. Und im­mer wie­der stie­ßen un­se­re Hän­de zu­sam­men, wenn wir nach Brot oder Fleisch lang­ten. Wäh­rend er sprach, tra­ten die Ge­gen­stän­de um uns dun­kel aus der Dun­kel­heit her­aus, und die nie­der­ge­tre­te­nen Bü­sche und Ro­sen­sträu­cher drau­ßen wur­den deut­lich sicht­bar. Es sah aus, als hät­te eine Schar Men­schen oder Tie­re den Ra­sen zer­stampft. All­mäh­lich nahm ich auch das Ge­sicht mei­nes Gas­tes wahr; es war ge­schwärzt und ein­ge­fal­len, wie ohne Zwei­fel auch das mei­ne.

      Nach­dem wir un­se­re Mahl­zeit be­en­digt hat­ten, tapp­ten wir uns lei­se in mein Stu­dier­zim­mer hin­auf, und ich blick­te wie­der durch das of­fe­ne Fens­ter. In ei­ner ein­zi­gen Nacht war aus dem Tal eine Aschen­stät­te ge­wor­den. Die Feu­er wa­ren jetzt her­un­ter­ge­brannt. Wo Flam­men ge­we­sen wa­ren, sah man jetzt nur Rauch­säu­len. Aber die zahl­lo­sen Trüm­mer ein­ge­stürz­ter und ver­wüs­te­ter Häu­ser, die ge­bors­te­nen und ge­schwärz­ten Bäu­me, wel­che die Nacht ver­hüllt hat­te, er­ho­ben sich nun un­heim­lich und furcht­bar in dem un­barm­her­zi­gen Schein der Mor­gen­däm­me­rung. Hie und da aber war ein Ge­gen­stand glück­lich dem Ver­der­ben ent­ron­nen — hier ein wei­ßes Ei­sen­bahn­si­gnal, dort das Ende ei­nes Glas­hau­ses, weiß und heil in­mit­ten der Ver­hee­rung. Nie vor­her in der Ge­schich­te der Kriegs­füh­rung war eine Zer­stö­rung so wahl­los und all­ge­mein vor sich ge­gan­gen. Und be­leuch­tet von dem auf­stei­gen­den Licht im Os­ten, stan­den drei je­ner me­tal­li­schen Rie­sen bei der Gru­be. Ihre Dach­kap­pen dreh­ten sich im Krei­se her­um, als über­blick­ten sie die Ver­wüs­tung, die sie an­ge­rich­tet hat­ten.

      Mir schi­en, als hät­te die Gru­be sich er­wei­tert. Und im­mer wie­der fuh­ren Stö­ße leb­haft grü­nen Damp­fes ge­gen den hel­ler wer­den­den Him­mel auf — fuh­ren auf, dreh­ten sich wir­belnd, ver­teil­ten sich und ver­schwan­den.

      Jen­seits er­blick­te man die Feu­er­säu­len von Chob­ham. Sie wur­den Säu­len blu­tig ro­ten Rau­ches beim ers­ten Strahl des Ta­ges.

      1 Kampf­tak­tik, um den Geg­ner durch an­dau­ern­den, wenn auch in­ef­fek­ti­ven Be­schuss zu bin­den. <<<

      2 Das Ma­xim-Ma­schi­nen­ge­wehr (fran­zö­sisch Ma­xim-Mi­trail­leu­se, eng­lisch Ma­xim Gun) war das ers­te selbst­la­den­de Ma­schi­nen­ge­wehr. <<<

      XII. Die Zerstörung von Weybridge und Shepperton

      Als es hel­ler wur­de, zo­gen wir uns vom Fens­ter, von dem wir die Mars­leu­te be­ob­ach­tet hat­ten, zu­rück und gin­gen lei­se die Stie­ge hin­ab.

      Der Ar­til­le­rist stimm­te mit mir über­ein, dass das Haus nicht der Ort sei, um dort zu ver­wei­len. Wie er mir mit­teil­te, hat­te er vor, die Rich­tung nach Lon­don ein­zu­schla­gen, um dort mit sei­ner Bat­te­rie — Nr. 12 von der rei­ten­den Ar­til­le­rie — zu­sam­men­zu­tref­fen. Mei­ne Ab­sicht war es, so­fort nach Lea­ther­head zu­rück­zu­keh­ren; und so mäch­tig war der Ein­druck, den die Kraft der Mars­leu­te auf mich ge­macht hat­te, dass ich fest ent­schlos­sen war, mei­ne Frau nach Ne­wha­ven zu brin­gen, um dort mit ihr, und zwar ohne Ver­zug, das Land zu ver­las­sen. Denn das hat­te ich schon klar be­grif­fen, dass die Ge­gend um Lon­don un­ver­meid­lich der Schau­platz ver­häng­nis­vol­ler Kämp­fe wer­den müs­se, ehe Ge­schöp­fe wie die­se ver­nich­tet wer­den konn­ten.

      Aber zwi­schen uns und Lea­ther­head lag der drit­te Zy­lin­der un­ter der Ob­hut der Rie­sen. Wäre ich al­lein ge­we­sen, so hät­te ich, glau­be ich, al­les in die Schan­ze ge­schla­gen, und hät­te quer­feld­ein mei­nen Weg ein­ge­schla­gen. Aber der Ar­til­le­rist riet mir da­von ab: »Ei­ner rech­ten Frau«, sag­te er, »er­weist man kei­nen Ge­fal­len, wenn man sie zur Wit­we macht.« Und schließ­lich ließ ich mich über­re­den, un­ter dem Schutz der Wäl­der mit ihm nörd­lich bis Street Chob­ham zu ge­hen. Dort woll­ten wir uns tren­nen. Dann woll­te ich einen großen Um­weg über Ep­som ma­chen, um Lea­ther­head zu er­rei­chen.

      Ich wäre auf der Stel­le auf­ge­bro­chen, aber mein Ge­fähr­te war in ak­ti­vem Dienst ge­stan­den und er ver­stand es bes­ser. Er ver­an­lass­te mich, das gan­ze Haus nach ei­ner Feld­fla­sche zu durch­stö­bern, die er mit Whis­key füll­te; und jede mög­li­che Ta­sche stopf­ten wir mit Päck­chen Zwie­back und Fleisch­schnit­ten an. Dann schli­chen wir uns aus dem Hau­se her­aus und lie­fen, so schnell wir konn­ten, die schlech­te Stra­ße hin­ab, auf der ich die Nacht vor­her ge­kom­men war. Die Häu­ser schie­nen ver­las­sen. Auf der Stra­ße lag eine Grup­pe drei­er vom Hit­ze­strahl ge­trof­fe­ner, dicht ne­ben­ein­an­der­lie­gen­der Lei­chen; und hie und da sah man Ge­gen­stän­de, wel­che die Leu­te auf ih­rer Flucht ver­lo­ren hat­ten —- eine Uhr, einen Pan­tof­fel, einen Sil­ber­löf­fel und ähn­li­che arm­se­li­ge Kost­bar­kei­ten. An der Ecke ge­gen das Post­amt zu stand ein klei­ner Kar­ren, mit Kof­fern und Haus­ge­rät be­packt, ohne Pferd, halb um­ge­stürzt mit ei­nem ge­bro­che­nen Rad. Eine Geld­scha­tul­le war has­tig auf­ge­bro­chen und in den Wirr­warr zu­rück­ge­schleu­dert wor­den.

      Au­ßer dem Pfört­ner­häus­chen beim Wai­sen­haus, das noch im­mer brann­te, hat­te kei­nes der Häu­ser hier sehr ge­lit­ten. Der Hit­ze­strahl hat­te die Schorn­stei­ne ab­ge­schla­gen und war wei­ter­ge­fah­ren. Den­noch schi­en es au­ßer uns kei­ne le­ben­de See­le am May­bu­ry-Hü­gel zu ge­ben. Die Mehr­heit der Be­woh­ner hat­te auf der Old Wo­king Road — der­sel­ben, auf der ich nach Lea­ther­head ge­fah­ren war — ihr Heil in der Flucht ge­sucht, oder sie hielt sich ver­bor­gen.

      Wir gin­gen den klei­nen Feld­weg hin­ab, an der Lei­che des Man­nes in Schwarz, die jetzt vom nächt­li­chen Ha­gel­schlag ganz durch­nässt war, vor­über, und schlu­gen uns am Fuß des Hü­gels in das Ge­hölz. Wir ar­bei­te­ten uns bis zur Ei­sen­bahn hin­durch, ohne ei­ner le­ben­den See­le zu be­geg­nen. Das Wäld­chen jen­seits des Ei­sen­bahn­dam­mes war nichts als ein Hau­fen zer­schmet­ter­ten und ver­kohl­ten Hol­zes; zum größ­ten Teil wa­ren die Bäu­me um­ge­stürzt, aber eine ge­rin­ge An­zahl stand noch da, trost­lo­se graue Stäm­me mit dun­kel­brau­nen statt grü­nen Na­deln.

      Auf un­se­rer Sei­te wa­ren kaum an­de­re Spu­ren des Feu­ers wahr­zu­neh­men, als dass ei­ni­ge nä­her­ste­hen­de Bäu­me ver­sengt wa­ren; doch nicht ge­nü­gend,