vertieft, von der er nur den Rocksaum und die Schuhe sehen konnte, da Bridgetown die Sicht auf sie versperrte.
»Onkel Richard«, hörte er eine energische Frauenstimme, »ich weiß es nicht! Und nun lass mich meine Arbeit machen …«
»Mr. Bridgetown …« Alles in ihm spannte sich an, als er neben Bridgetown die Krankenschwester wiedererkannte, die zuvor zu ihm und dem Arzt getreten war. Es lag eine Entschlossenheit in ihrem Blick, in ihren dunkelbraunen Augen, die er noch nie zuvor bei einer anderen Frau gesehen hatte.
»Mr. Buchanan.« Bridgetown holte tief Luft, während er irritiert auf Ryons offenes Hemd blickte und das Tattoo auf seiner Brust wahrnahm. »Kapitän McMickan sagte mir, dass Ihr Vater an Bord war. Dass es keine Hoffnung gibt, noch Lebende aus dem Maschinenraum zu bergen. Er steht unter Schock, konnte mir nicht sagen, ob Ihr Vater unter den Verletzten ist … Sagen Sie, waren Sie etwa im Maschinenraum?«
»Ja, doch ich kam zu spät. Einer der Männer der Fire Brigade hat meinen Vater geborgen. Er ist tot.«
Bridgetown zuckte zusammen und blickte ihn erschüttert an. »Es tut mir leid …«
»Mein herzliches Beileid, Mr. Buchanan.« Bridgetowns Nichte senkte den Kopf.
Eine Pause entstand.
»Was ist das?« Sie ergriff sein Handgelenk und betrachtete die Verbrennung.
»Ich wurde angerempelt und stützte mich an einer heißen Wand ab.«
Sie hob die Brauen und schüttelte missmutig den Kopf. »Das muss behandelt werden.« Rasch wandte sie sich um, schritt zu ihrem Koffer und entnahm eine Dose. »Dies ist eine Brandsalbe, Mr. Buchanan.« Sie schraubte die Dose auf und nickte ihm aufmunternd zu. »Kommen Sie, lassen Sie sich versorgen.« Sein Herz begann zu rasen. Ihre Hand fühlte sich weich an. Er sah, dass ihre Finger gerötet waren, sie trug keinen Ring. Als er aufsah, gewahrte er, dass sie seine Tätowierung in Augenschein nahm. Er wandte den Blick ab, sah einen Mann, der trotz der schwerwiegenden Verletzung, die er von dem Unglück davongetragen hatte, bei Bewusstsein war. Ein großes Holzstück ragte aus seinem Bein heraus. Der Fremdkörper war mit einem Verband fixiert worden. Eine derartig hässliche Verwundung hatte er schon einmal gesehen. Damals war der Verletzte auf die gleiche Weise versorgt worden. Sein Blick schweifte weiter. Ein Koffer mit Tüchern, Verbänden und Medikamenten stand offen neben diesem, ebenso eine Schale mit Wasser, das rot gefärbt war. Dann kehrte sein Blick zu ihr zurück. Ihre Aufmerksamkeit galt jetzt dem Verband, den sie ihm, nachdem sie seine Hand eingesalbt hatte, anlegte.
»Mr. Buchanan, ich habe Sie noch nicht miteinander bekannt gemacht. Dies ist meine Nichte Alessa Arlington.«
»Bitte treten Sie zur Seite.« Ein paar Schiffsleute hatten sich eine der Tragen gegriffen und bahnten sich einen Weg zu den Verletzten. Voran schritt eine junge Schwester. »Wen sollen wir zuerst mitnehmen?«, fragte diese Bridgetowns Nichte.
Alessa deutete mit dem Kopf auf einen der Verletzten. »Den hier zuerst. Jack heißt er, so viel habe ich aus ihm herausbringen können. Mary, lass ihn nicht aus den Augen. Pass auf, dass er nichts macht. Das Holzstück darf auf keinen Fall bewegt werden.«
Mary nickte. »In Ordnung.«
Alessa trat zur Seite, um den Männern Platz zu machen, ebenso Ryon und Bridgetown.
»Vielen Dank für die Versorgung, Ms. Arlington.«
Alessa schraubte den Verschluss der Dose zu und reichte sie ihm, wobei sie ihm tief in die Augen sah. Sie wirkte mit einem Mal streng. »Tragen Sie die Salbe jede Stunde auf, Mr. Buchanan. Das lindert die Schmerzen und fördert den Heilungsprozess. Wenn die Blasen aufgehen, legen Sie besser wieder einen Verband an, um einer Infektion vorzubeugen.«
Er bedankte sich.
Bridgetown drängte zum Aufbruch und sie verabschiedeten sich voneinander. Bevor er Bridgetown folgend das Deck verließ, sah er sich nochmals nach ihr um. Sie stand noch immer am selben Platz. Irgendwie schien sie sich ertappt zu fühlen, als ihre Blicke aufeinandertrafen, denn sie senkte unwillkürlich die Lider und wandte sich ab.
In der Kutsche kreiste ihr Gespräch um die Explosion auf der Bothnia und den Tod seines Vaters. Sie trafen eine Verabredung für den nächsten Tag; Ryon wollte einen Blick in das Greenbook werfen, um mehr über die technischen Details der Bothnia in Erfahrung zu bringen. Für ihn stand fest, dass es sich nicht um ein Unglück, sondern um Sabotage handelte. Ryon versäumte es auch nicht, mit Bridgetown über Inspector Baker zu sprechen. »Ich bin skeptisch, ob er den Aufgaben eines Inspectors gewachsen ist. Er ist viel zu jung, besitzt vermutlich keine Erfahrung«, tat Ryon seine Zweifel kund.
Doch Bridgetown wischte seine Bedenken beiseite. »Kapitän McMickan sagte mir, er habe direkt nach der Explosion The Met, das ist der Metropolitan Police Service, verständigt. Der Leiter, Garrick Bowie, habe gesagt, er schicke einen seiner besten Männer. Möglicherweise täuscht der erste Eindruck. Warten Sie ab.«
Ryon beschloss, Bridgetowns Rat zu folgen und abzuwarten. Vielleicht hatte der junge Inspector entgegen seiner Annahme doch einiges in petto. Sein abweisendes Verhalten ihm gegenüber stand auf einem anderen Blatt.
Inzwischen war es später Nachmittag. Die Kutsche bog in die Fenchurch Street ein. Bridgetown stieg aus, verweilte aber mit einem Fuß auf der letzten Stufe, während er sich Ryon zuwandte. Auf seiner Stirn hatte sich eine tiefe Furche gebildet. »Mir ist aufgefallen, dass meine Nichte Eindruck auf Sie gemacht hat. Deshalb möchte ich Ihnen etwas über sie sagen: Alessa hat ihren Vater vor einem Jahr verloren. Er ist bei einem Brand auf einer Baumwollplantage in North Carolina ums Leben gekommen, als er diese für seine Kleidermanufaktur besichtigte. Meine Schwester, Alessas Stiefmutter, ist in großer Sorge, denn Alessa hat vielerlei Flausen im Kopf. Seit ein paar Jahren arbeitet sie in diesem Krankenhaus von Florence Nightingale, aber das scheint ihr nicht zu genügen. Sie spielt mit dem Gedanken, nach Amerika auszuwandern, zu studieren, redet von Selbstverwirklichung und Emanzipation … Ja, sie hat so ihren eigenen Kopf.« Bridgetown presste die Lippen aufeinander. »Meine Schwester ist der Ansicht, dass sie bald heiraten sollte. Und tatsächlich gibt es da auch einen Anwärter. Ich möchte, dass Sie das wissen.«
»Mr. Bridgetown, Ihre Nichte ist nicht nur eine hübsche, sondern auch eine in jeder Hinsicht wunderbare Frau, davon bin ich überzeugt. Ich schätze es zudem überaus, wenn eine Frau weiß, was sie will.«
Verwirrt blickte Bridgetown ihn an. Dann schien er zu begreifen, was Ryon ihm sagen wollte. Er nickte. »Wir sehen uns dann morgen.«
»Bis morgen, Mr. Bridgetown.«
Bridgetown schloss die Kutschentür und die Pferde trabten langsam an.
Ryons Blick wanderte zu seiner verbundenen Hand. Es gibt da einen Anwärter … Wieso gruben diese Worte sich derart verletzend in seine Gedanken? Wer war diese Frau, dass sie solche Gefühle in ihm auslöste?
KAPITEL 2
Donnerstag, 11. Juni 1874, 2:22 Uhr Mayfair Hotel
Wie auch in den Nächten zuvor schreckte Ryon plötzlich auf und war hellwach. Es mussten die Kirchenglocken sein, ihr Läuten war von durchdringender Lautstärke.
Sein nackter Oberkörper glänzte im Halbdunkel des Zimmers. Er schwitzte. Die Decke lag feucht und schwer auf seinem Unterleib und seinen Beinen. Er richtete das Knie auf. Durch das halboffene Fenster drang das Prasseln von Regentropfen an seine Ohren. Es roch nach Pflastersteinen und ein bisschen nach Alessa, obwohl sie nicht da war und der Wind nur einen Hauch ihres Duftes auf dem Schiff zu ihm hinübergetragen hatte – und er ihn eigentlich nicht wirklich kannte. Er streifte die Decke mit den Füßen von sich und richtete sich auf. Beim Versuch, sich die Haare aus der Stirn zu streichen, wurde er unsanft an seine malträtierte Hand erinnert. Die Geschehnisse auf der Bothnia waren ebenfalls mit einem Mal wieder da: der Qualm, die Hitze auf seinem Gesicht, die Beklemmung in seiner Brust, der Brandgeruch und die Panik, die auf einmal von ihm Besitz ergriffen hatte. Das Bild seines Vaters …
Er sank zurück in das Kissen