Schweigen.
Dann wandte sich Ike um und lehnte sich mit dem rechten Ellbogen auf das Thekenblech. Während er seinen Blick wieder durch den Schankraum schweifen ließ, fragte er noch einmal…
»Wo ist Phin?«
Da stand einer der Männer auf und machte drei Schritte auf ihn zu. Es war ein kleiner Mann mit langem, hagerem, kränklichem Gesicht und tief in den Höhlen liegenden Augen.
»Wyatt Earp war hier, Mr. Clanton!«
»Das wollte ich nicht wissen, Mann. Ich habe gefragt, wo Phin ist.«
Der gnomenhafte Mann druckste herum: »Der Marshal suchte hier irgendeinen Mann, und dann hatten sie draußen einen schweren Gunfight. Mehrere Leute sind verletzt worden. Und dann ging Phin hinaus.«
»Und?«?schleuderte ihm der Desperado entgegen.
»Er ging auf die Straße und sprach mit dem Marshal. Vielleicht hatte er es sich zu leicht gedacht. Jedenfalls stand plötzlich Doc Holliday hinter ihm.«
»Holliday!« entfuhr es Ike.
Es war totenstill im Schankraum.
Ike stieß sich von der Theke ab und ging mit dröhnenden Schritten auf den kleinen Mann zu. Dicht vor ihm blieb er stehen: »Rede weiter, Mann!«
»Si, Señor. Wyatt Earp nahm sie alle fest und brachte sie ins Jail.«
»Und dann?«
»Dann ritt er weg – mit Doc Holliday.«
»Willst du mir erzählen, daß Phin jetzt noch im Jail steckt?«
»Nein, Señor. Natürlich nicht mehr.«
»Was heißt natürlich? Wer hat ihn herausgelassen?«
»Ich!« kam es da heiser hinter Ikes Rücken von der Theke her.
Ike blickte sich um und sah den Keeper mit verstörtem Gesicht an der Theke lehnen.
»Du hast ihn rausgelassen?«
»Ja.«
»Wie kommst du dazu?«
Der Mann schluckte.
»Er ist ein Freund von uns.«
»Ein Freund?« Ike maß ihn verächtlich. »Ja, ganz sicher.« Dann sah er sich im Kreise um. »Ihr seid seine Freunde, hahahaha!«
Er machte kehrt und ging auf den Ausgang zu.
Wyatt Earp und Doc Holliday standen im tiefen Dunkel des Vordaches.
Ike Clanton kam aus der Schenke heraus, zog sich in den Sattel und ritt aus der Stadt.
Die beiden warteten eine Weile und folgten ihm dann.
Es war jetzt nicht so wichtig, daß Phin aus dem Jail von Martini entflohen war. Wichtig war jetzt nur Ike.
Wo ritt er hin? Sein Auftritt in der Cantina war wieder sehr zwielichtig gewesen.
Schon hatte der Missourier den Verdacht, daß der Rancher ihn und Doc Holliday bemerkt haben könnte. Denn die Art, in der er in der Schenke aufgetreten war, ließ kaum darauf schließen, daß man ihn hier in Martini erwartet hatte.
Aber das wollte nicht viel bedeuten, denn die Männer, die ihn erwartet hatten, nämlich Enrique und die anderen Graugesichter, waren ja zusammen mit Phin aus dem Jail entkommen. Vielleicht wußte Ike, wohin sie geritten waren und folgte ihnen jetzt.
Wyatt hätte Ike festnehmen können. Aber damit war nichts erreicht. Wie überhaupt bisher nichts mit der Festnahme dieses Mannes gewonnen worden wäre. Immer, wenn der Marshal ihn traf, war die Situation so, daß eine Festnahme Ikes nichts erbracht hätte. Auch heute war es nicht anders. Vielleicht hatte er die beiden Männer in seinem Rücken bemerkt und sich darum so verhalten. Jedenfalls hätte es nichts genützt, wenn Wyatt ihm entgegengetreten wäre. So aber konnte der Marshal hoffen, daß Ike ihn – ohne es zu wollen – zum geheimen Camp der Verbrecher bringen würde.
*
Tombstone hatte einen neuen Sheriff. Luke Short!
Wyatt Earp und John Clum hatten dafür gesorgt, aber auch die Mehrheit der Stadtväter war für seine Wahl gewesen.
Nur widerwillig und erst nach gutem Zureden des Marshals hatte der riesige Texaner die Wahl angenommen.
Und einen Tag nachdem Wyatt Earp die Stadt verlassen hatte, war John Clum mit überzeugender Mehrheit in Tombstone wieder zum neuen Bürgermeister gewählt worden. So hatte die Stadt also am gleichen Tag einen neuen Sheriff und einen neuen Bürgermeister bekommen, gewiß kein Freudentag für manche Leute.
Solange der laue McIntosh Mayor in Tombstone gewesen war und drüben, im jetzt verlassenen Sheriffs Office, der papierne Jonny Behan gesessen hatte, war man mehr »unter sich« gewesen und hatte tun und lassen können, was einem beliebte. Das sah jetzt anders aus. Man war nicht mehr so laut auf der Straße, und in den Schenken ging es längst nicht mehr so wild und rüde her wie zuvor. Und was die Wirte am meisten verstimmte: es war sehr früh Feierabend.
Niemand hatte die Absicht, sich in eine Rauferei oder gar in eine Schießerei verwickeln zu lassen, die dem herkulischen Sheriff Grund zum Eingreifen gegeben hätte.
Schon am Mittag des nächsten Tages aber ereigneten sich Dinge, mit denen Luke Short nicht gerechnet hatte. Er hatte vor allem deshalb das Amt des Sheriffs angenommen, um die vier wichtigen Gefangenen bewachen zu können, die der Marshal ins Jail gebracht hatte. Nämlich die Brüder Hal und Edward Flanagan, den Raubrancher Oswald Shibell und den Kreolen Jimmy King. Jetzt, gegen elf Uhr, kurz nach der Verkündung der Wahl des Mayors, trat ein struppiger alter Mann ins Office und schob sich den zerfransten Hut aus der Stirn.
»Mein Name ist Callhaun, Sheriff.« Er reichte dem Texaner die Hand. »Ich habe eine Farm draußen, sechs Meilen vor der Stadt. Heute nacht sind mir zwei Pferde gestohlen worden, Sheriff.«
Luke stieß einen leisen Pfiff durch die Zähne. Auch das noch! Jetzt kamen sie mit tausend Bitten. Und er mußte doch das Jail bewachen!
»Vielleicht könnten Sie einmal herauskommen im Laufe des Tages, Sheriff.«
Luke nickte. »Ja, entweder komme ich, oder ein Vertreter von mir.«
»Ist gut, Mr. Short.« An der Tür blieb der alte Farmer stehen und wandte sich noch einmal um: »Es wäre mir natürlich sehr lieb, wenn Sie selbst kämen.«
»Ja, ja, Mr. Callhaun.«
Als der Mann gegangen war, stand Luke auf, schloß das Office hinter sich ab, und genau in dem Augenblick preschte ein Reiter die Straße hinunter und hielt in einer Staubwolke vor dem Vorbau des Marshals Bureaus.
»Sheriff! Sheriff!« rief er schon von weitem.
»Was gibt es denn?« Luke blieb ahnungsvoll stehen.
»Sie müssen sofort mitkommen. Unten in der Sägerei…«
»Was gibt es da?«
»Eine fürchterliche Prügelei.«
»Der Teufel soll es holen! Ihr werdet eure Prügeleien doch alleine austragen können.«
»Sheriff, der Boß schickt mich!«
»Herrgott noch mal.« Luke sah sich noch nach dem Office um und nickte dann. »Well, ich komme.«
»Sie können mein Pferd nehmen, Sheriff.«
»Ja, ja, schon gut«, der Texaner schwang sich auf den braunen Wallach des Sägewerkarbeiters und ritt davon.
In der Sägemühle war tatsächlich eine fürchterliche Prügelei im Gange, die der Riese jedoch bald beendet hatte.
»Sie müssen mir den Gaul noch einmal leihen, Mister«, rief er dem Arbeiter zu. »Sie können ihn sich am Office abholen.«
In gestrecktem Galopp preschte Luke durch die Allenstreet, schwang sich vorm Office aus dem Sattel