schneidet den Trimmer ab, was eine große Erleichterung ist. Schließlich seufzt er und verschwindet in die Küche. Im Spiegel begegne ich meinem eigenen Blick. Kurze kleine Zotteln stehen vom Kopf ab. Hinterm Ohr sind die Haare so kurz, dass die Haut darunter durchleuchtet. Und die ist inzwischen pinkfarben. Auf der anderen Seite hängen mir die Haare immer noch über die Schulter.
»Einmalige Frisur – immerhin!«, sagt Märta und versucht, aufmunternd zu klingen.
»Ja, total«, sage ich und starre mein Spiegelbild an. »Ich seh aus wie eine Irre.«
»Haare wachsen nach!«
»Ja.«
»Haare sind bloß Haare«, sagt Märta und sieht schuldbewusst aus.
»Ja.«
»Das Einzige, was deine Haarwurzeln für den Rest ihres Lebens tun wollen, ist, neue Haare für dich zu produzieren. Vergiss das nicht«, sagt Märta mit ernster Stimme.
»Mhmm.«
»Es hätte schlimmer sein können«, sagt Märta.
»WIE DENN? Wie könnte es schlimmer sein?«
»Äh … du hättest … äh … Donald Trumps Haare haben können?«
Darüber denke ich kurz nach, dabei entstehen in meinem Innern GRAUENHAFTE Bilder. Obwohl das Schlimmste an Trump nicht direkt seine Haare zu sein scheinen.
»Stimmt. Bringen wir es zu Ende?«, frage ich.
»Bist du übergeschnappt? Also, das trau ICH mich jedenfalls nicht! Dieser Trimmer hätte dich ja fast skalpiert!«
»Aber so kann ich doch nicht durch die Gegend laufen?! PAPA! PAPAAA!«
Papa öffnet die Tür zum Badezimmer. Inzwischen hat er seine Jacke ausgezogen, jetzt beißt er gerade herzhaft in einen grünen Apfel. Der Apfel ist so saftig, dass es nur so spritzt, als Papa schmatzend fragt:
»Willst du weiter so aussehen oder willst du lieber zum Frisör? Der Frisör ist gleich unten neben der Bibliothek. Er hat jetzt gerade Zeit.«
»Danke, lieber GOTT!«, seufze ich.
»Es reicht, wenn du mich Papa nennst«, sagt Papa. Eine echt komische Bemerkung, finde ich. Ob sich wohl ein Witz daraus machen lässt?
Später gehen Märta und ich den Hägerstensväg entlang und lutschen an je einem Lolli. Lollis sind eigentlich etwas für jüngere Kinder, aber ich sagte, von der Skalpierung sei ich schockgeschädigt und ich hätte gehört, nach einem Schädeltrauma sei Zucker heilsam. Der Wind bläst kalt um meinen halbkahlen Kopf, als wir vor einem Fotoladen stehen bleiben. Ich spiegle mich im Schaufenster. Der Frisör hat die Haare an den Schläfen abrasiert – es blieb ihm wohl nichts anderes übrig – aber oben auf dem Kopf sind sie ein klein bisschen länger. Das Ganze sieht okay aus. Ganz okay. Wenigstens versuche ich mir das einzureden. Vielleicht muss ich mir auch eine Baseballkappe zulegen.
»Kurze Haare stehen dir gut«, sagt Märta und fährt mir mit den Fingern durchs Haar, ohne in irgendwelchen verfilzten Knoten hängen zu bleiben.
»Danke«, sage ich. »Lange Haare stehen dir gut.«
Sie lächelt, wird aber plötzlich ernst.
»Ich muss mich entschuldigen«, flüstert Märta.
»Sag jetzt nicht schon WIEDER, dass dir das mit dem Trimmen leidtut! Das verbiete ich dir!«, sage ich.
»Nein, das ist es nicht … es ist nur, dass … vorhin hab ich gesagt … also, ich sagte: Jetzt sterbe ich. Als dein Papa kam.« Sie spricht stoßweise und so schnell, dass man kaum versteht, was sie sagt. Den roten Lolli hat sie aus dem Mund genommen, jetzt dreht sie ihn nervös zwischen den Fingern. Sie schaut mich unglücklich an. Ich runzle die Stirn. Kapiere nicht, was sie meint.
»Es tut mir leid, dass ich so was gesagt hab.«
Da geht mir ein Licht auf.
»Mensch, Märta. Klar musst du sagen dürfen: ›Jetzt sterbe ich.‹ Komm, wir gehen jetzt heim, was essen. Wer nichts isst, der stirbt! Stimmt doch, oder?«
Meine Stimme klingt erschreckend forsch. Punkt 1. Haare abschneiden. Check!
UNFREIWILLIG EINMALIG
Es ist der zwanzigste März, also habe ich heute Geburtstag! Ich werde zwölf. Ich gehe von elf, was die Atomnummer für das Element Natrium ist, zu zwölf, das ist die Atomnummer für das Element Magnesium. In der Schule nehmen wir zurzeit die Elemente durch. Oder die GRUNDELEMENTE, wie Cecilia übertrieben begeistert betont. Natrium finde ich gut, weil das so was wie Salz ist. Und ich liebe Salz. Wenn ich mich für den Rest meines Lebens zwischen süß oder salzig entscheiden müsste, würde ich auf jeden Fall salzig wählen. Fast alle in meiner Klasse würden süße Sachen wählen. Auf die Art bin ich einmalig. Leider bin ich auch auf andere Art einmalig. Unfreiwillig einmalig.
Papa ist siebenundvierzig, und das ist die Atomnummer für Silber, das gefällt mir.
Aber ich weiß nicht, was ich von Magnesium halten soll, weil ich noch nichts darüber weiß.
Ich liege unter der Bettdecke und stelle mich schlafend. Draußen in der Küche klappern Papa, Omi und Papas Bruder Onkel Ossi mit dem Geschirr und unterhalten sich flüsternd. Das Wort Onkel klingt irgendwie so alt, aber Ossi ist viel jünger als Papa, ungefähr neunundzwanzig oder dreißig, hab vergessen, wie alt genau, darum weiß ich nicht, welches Element er eigentlich ist.
Ein kleiner Spalt grauweißes Licht an der Seite des Rollos erhellt das Zimmer. Papa muss alles, was auf dem Boden herumlag, aufgesammelt haben, nachdem ich gestern eingeschlafen bin. Das macht mich immer wieder leicht verwirrt. Beim Einschlafen – schlimmstes Durcheinander. Beim Aufwachen – pedantische Ordnung.
Die Ziffern auf dem Darth-Vader-Wecker stehen bei 06.47. Und jetzt immer noch bei 06.47.
Und immer noch. Wie kann es so lange 06.47 Uhr sein? Unfassbar! Papa nennt solche langsamen Minuten S-Bahn-Minuten. Und zwar, weil, wenn wir S-Bahn fahren wollen, steht manchmal »3 Minuten« leuchtend rot auf der Anzeigentafel am Bahnsteig, und dann, drei Minuten später, steht IMMER NOCH »3 Minuten« auf der Tafel. S-Bahn-Minuten, das bedeutet die langsamsten Minuten der Weltgeschichte.
Immer noch 06.47. Haben sich die Ziffern vielleicht verhakt? Ich schüttle Darth, doch das hilft nichts, also stelle ich ihn wieder hin. Er guckt mich mit seinen schwarzen glänzenden Augen an.
»Auf geht’s, Darthy boy«, flüstere ich.
Und da endlich: 06.48.
Und plötzlich höre ich:
»Lang soll sie leben, lang soll sie leben, lang soll sie leben, Hunderte von Jahr!«
Ist doch echt krass, dass manche Sachen einen die ganze Zeit nur an das erinnern, woran man nicht denken will! Hundert Jahre leben. Ja, wenn Mama das hätte tun dürfen, das wäre schön gewesen. Hundert Jahre. Oder wenigstens fünfzig. Dann wäre ich bei ihrem Tod erwachsen. Das wäre doch einfacher? Oder? Es fällt mir schwer, nicht an meinen letzten Geburtstag zu denken, als ich elf wurde. Daran, wie Mama in mein Zimmer kam und sang. Und typisch nach Mama roch, wie immer, wenn sie gerade aufgewacht war. Immer, wenn sie mich dann in den Arm nahm, presste ich meinen Kopf an ihren Hals und schnupperte an ihren Nackenhaaren. Dort roch sie am meisten nach Mama. Da musste sie lachen, sagte, das würde kitzeln. Ich hab solche Angst, ich könnte ihren Duft irgendwann vergessen.
Mama blieb bei sechsunddreißig Jahren stehen. Ich werde immer älter werden, sie aber nicht. Sie wird immer sechsunddreißig bleiben. Sechsunddreißig ist die Atomnummer für Krypton. Krypton ist ein Edelgas, das in der Erdatmosphäre sehr selten ist. Genau wie Mama. Selten. Ich hätte gewünscht, Mama wäre wenigstens neunundsiebzig geworden. Neunundsiebzig ist die Atomnummer für Gold. Gold hält ewig.
Jetzt