das Werk des Gegenaufstands, der schon auf dieser untersten Ebene beginnt. Was wir erleben, sind nicht vereinzelte Revolten, sondern eine einzige globale Welle von Aufständen, die unmerklich miteinander kommunizieren. Ein universeller Drang danach zusammenzukommen, der sich nur durch die universelle Trennung erklären lässt. Ein genereller Hass auf die Polizei, der von der klaren Absage an die allgemeine Vereinzelung zeugt, die diese überwacht. Überall verbindet sich dieselbe Unruhe, dieselbe grundlegende Panik, die mit denselben Ausbrüchen von Würde (dignité) – nicht Empörung (indignation) – beantwortet wird. Was seit 2008 in der Welt vor sich geht, ist keine unzusammenhängende Reihe skurriler Ausbrüche in geschlossenen nationalen Räumen. Es ist eine einzige historische Abfolge, die sich, von Griechenland bis Chile, in einer strengen Einheit von Raum und Zeit abspielt. Deren Bedeutung lässt sich nur durch einen deutlich globalen Standpunkt erfassen. Wir können das angewandte Denken dieser Abfolge nicht allein den Thinktanks des Kapitals überlassen.
Jeder Aufstand, so örtlich begrenzt er sein mag, weist über sich selbst hinaus und erhält eine unmittelbar globale Dimension. In ihm erheben wir uns gemeinsam auf die Höhe der Zeit, der Epoche. Die Epoche ist aber auch das, was wir tief in uns selbst finden, wenn wir uns darauf einlassen, tief einzutauchen in das, was wir leben, sehen, fühlen, wahrnehmen. Darin liegen eine Methode der Erkenntnis und ein Gesetz des Handelns; darin liegt auch die Erklärung für den verborgenen Zusammenhang zwischen der reinen politischen Intensität des Straßenkampfs und der unverstellten Selbstpräsenz des Solitärs. Die Epoche muss im Innersten jeder Situation und im Innersten jedes Einzelnen gesucht werden. Dort finden »wir« uns wieder, dort, wo sich die wahren Freunde aufhalten, in alle Himmelsrichtungen verstreut, aber auf dem gleichen Weg.
Die Verschwörungstheoretiker sind mindestens darin konterrevolutionär, als sie allein den Mächtigen das Privileg einräumen, sich zu verschwören. So offensichtlich es ist, dass sich die Mächtigen verabreden, um ihre Stellung zu halten und auszubauen, so offensichtlich ist auch, dass Verschwörung überall stattfindet – in den Eingangshallen von Gebäuden, an der Kaffeemaschine, hinter den Kebabbuden, bei Besetzungen, in den Werkhallen, beim Hofgang, auf Abendgesellschaften, in der Liebe. Und all diese Verbindungen, all diese Gespräche, all diese Freundschaften verweben sich im wechselseitigen Austausch zu einer historischen Partei, die weltweit am Werk ist – »unsere Partei«, wie Marx sagte. Tatsächlich gibt es angesichts der objektiven Verschwörung der Ordnung der Dinge eine diffuse Verschwörung, der wir faktisch angehören. Aber innerhalb derselben herrscht größte Verwirrung. Unsere Partei stößt sich überall an ihrem eigenen ideologischen Erbe; sie verheddert sich in einem Geflecht aus aufgelösten, vergangenen revolutionären Traditionen, die dennoch Respekt gebieten. Die strategische Intelligenz kommt aber vom Herzen und nicht vom Hirn, und der Fehler der Ideologie liegt gerade darin, das Denken vom Herzen abzuschirmen. Mit anderen Worten: Wir müssen uns dort den Zutritt erzwingen, wo wir uns gerade befinden. Die einzige Partei, die es aufzubauen gilt, ist jene, die bereits da ist. Wir müssen uns all des geistigen Plunders entledigen, der dem klaren Erfassen unserer gemeinsamen Lage, unserer »gemeinsamen Diesseitigkeit« entgegensteht, um mit Gramsci zu sprechen. Unserem Erbe geht kein Testament voraus.
Wie jeder Werbeslogan bezieht die Parole »Wir sind die 99%« ihre Wirkkraft nicht aus dem, was sie sagt, sondern aus dem, was sie nicht sagt. Was sie nicht sagt, ist die Identität der 1% Mächtigen. Was diese 1% kennzeichnet, ist nicht, dass sie reich sind – in den Vereinigten Staaten gibt es deutlich mehr Reiche als 1% – und auch nicht, dass sie berühmt sind – sie verhalten sich eher unauffällig, und wem wollte man heutzutage nicht seine Viertelstunde Ruhm gönnen? Was diese 1% auszeichnet, ist, dass sie organisiert sind. Sie organisieren sich sogar, um das Leben der anderen zu organisieren. Die Wahrheit dieses Slogans ist fürwahr grausam, und sie lautet, dass es auf die Menge nicht ankommt: Man kann 99% sein und perfekt beherrscht werden. Umgekehrt beweisen die kollektiven Plünderungen von Tottenham zur Genüge, dass man aufhört, arm zu sein, wenn man anfängt, sich zu organisieren. Zwischen einem Haufen Armer und einem zu gemeinsamem Handeln entschlossenen Haufen Armer besteht ein erheblicher Unterschied.
Sich zu organisieren hat noch nie bedeutet, dass man ein und derselben Organisation angehören muss. Sich zu organisieren bedeutet, auf welcher Stufe auch immer, nach einer gemeinsamen Wahrnehmung zu handeln. Denn was in der aktuellen Lage fehlt, ist nicht die »Wut der Leute« oder ein Mangel, weder der gute Wille der Aktivisten noch die Verbreitung kritischen Bewusstseins, auch nicht die Vermehrung der anarchistischen Geste. Was uns fehlt, ist eine von allen geteilte Einschätzung der Lage. Ohne dieses Bindemittel verblassen die Gesten im Nichts, ohne Spuren zu hinterlassen, hat jedes Leben bloß die Beschaffenheit von Träumen und enden die Aufstände in den Schulbüchern.
Die tägliche Fülle an Informationen, die für die einen alarmierend, für die anderen bloß skandalös sind, formt unsere Besorgnis über eine alles in allem unbegreifliche Welt. Ihr chaotisches Erscheinungsbild ist der Nebel des Krieges, hinter dem sie sich unangreifbar macht. Gerade diese scheinbare Unregierbarkeit ist es, die sie tatsächlich regierbar macht. Darin liegt die List. Durch die Übernahme des Krisenmanagements als Regierungstechnik hat das Kapital nicht nur den Fortschrittskult durch die Erpressung mit der Katastrophe ersetzt, sondern wollte sich auch den Anspruch auf das strategische Verständnis der Gegenwart, auf die Übersicht über die laufenden Operationen vorbehalten. Worauf es ankommt, ist, ihm dies streitig zu machen. Es geht darum, in Sachen Strategie der Global Governance wieder zwei Schritte voraus zu sein. Es gibt keine Krise, aus der man herauskommen muss, es gibt einen Krieg, den wir gewinnen müssen.
Ein gemeinsames Verständnis der Situation kann nicht durch einen einzigen Text entstehen, sondern braucht eine internationale Debatte. Und um eine Debatte entstehen zu lassen, braucht es Beiträge. Ein solcher liegt hiermit vor. Wir haben die revolutionäre Tradition und die revolutionären Haltungen im Licht der historischen Konjunktur überprüft und versucht, die Tausenden feinen Fäden zu durchtrennen, die den Gulliver der Revolution am Boden zurückhalten. Wir haben tastend gesucht, welche Ausschnitte, welche Gesten, welche Gedankengänge uns erlauben könnten, uns aus der verfahrenen gegenwärtigen Lage zu ziehen. Es gibt keine revolutionäre Bewegung ohne eine Sprache, die in der Lage ist, sowohl die Verhältnisse zu benennen, in die wir gebracht worden sind, als auch die Vielfalt des Möglichen, das diese Verhältnisse rissig macht. Das Vorliegende ist ein Beitrag zur Ausarbeitung dieser Sprache. Zu diesem Zweck erscheint dieser Text gleichzeitig in acht Sprachen auf vier Kontinenten. Wir sind überall, Unzählige; nun gilt es, uns zu organisieren, weltweit.
Athen, Dezember 2008
Merry crisis and happy new fear
1. Dass die Krise eine Regierungsform ist
2. Dass die wahre Katastrophe existenziell und metaphysisch ist
3. Dass die Apokalypse enttäuscht
1. Wir Revolutionäre sind die großen Betrogenen der modernen Geschichte. Und in der einen oder anderen Form ist man immer mitverantwortlich für das eigene Betrogenwerden. Die Tatsache schmerzt und wird daher in der Regel verleugnet. Wir haben ein blindes Vertrauen in die Krise gehegt, ein so altes und blindes Vertrauen, dass wir nicht gesehen haben, wie die neoliberale Ordnung sie zum Herzstück ihres Arsenals machte. Marx schrieb nach 1848: »Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krise. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.« Tatsächlich verbrachte er den Rest seines Lebens damit, bei den kleinsten Zuckungen der Weltwirtschaft die große, finale Krise des Kapitals vorherzusagen, auf die er vergeblich warten sollte. Noch immer wollen uns Marxisten die gegenwärtige Krise als »The Big One« verkaufen, damit wir weiter auf ihre seltsame Art von Jüngstem Gericht warten.
»Willst du eine Veränderung bewirken, dann löse eine Krise aus«, empfahl Milton Friedman seinen Chicago Boys. Das Kapital fürchtet Krisen nicht, ganz im Gegenteil. Es produziert sie inzwischen versuchsweise. So wie man eine Lawine auslöst, um sich die Wahl des Zeitpunkts und die Kontrolle über ihre Ausbreitung vorzubehalten. Wie man Steppen abbrennt, um sicherzustellen,