Konzils mit dem Marienkapitel beendet. Eröffnet wird das Dokument mit der Erinnerung an das Heil, das in Jesus Christus geschenkt ist und auf dessen Verkündigung jegliche kirchliche Praxis bezogen ist.
VOLKSRELIGIOSITÄT, SPIRITUALITÄT UND GLAUBENSPRAKTIKEN
Eine poetische und ästhetisch-theologische Erschließung Marias
Maria steht für die Möglichkeit der Antwort des Menschen auf dieses Offenbarwerden des Heils, für die spezifisch christliche, sich in die Geschichte hineingebende, inkarnierende Gestalt der Freundschaft und des Lebens Gottes. Sie wird so als „Typus des Glaubens“ und „Typus der Kirche“ bezeichnet, aber sie lässt sich nicht „fixieren“, sie hat immer wieder selbst Grenzen überschritten, hat neue Räume überschritten, sie war und bleibt die „Suchende“, die Maria auf dem Weg, der Herbergssuche, an der Seite aller Rastlosen, aller Menschen auf der Flucht, auf der Suche nach Heimat und Halt. Dieser Blick auf die „Maria Peregrina“ lässt in Räume des Glaubens eintreten und lädt ein, auf neue Weise eigene Praktiken des Glaubens auszubilden. Ein solcher ästhetisch- und praktischtheologischer Zugang zu Maria, der sich an Marienbildern, Praktiken der Wallfahrt, Gebeten und Liedern orientiert, verbindet Glaubenserfahrung, Glaubensbildung und Glaubensreflexion, er würdigt in genau diesem Sinn Maria als „Theologin“. Dieser „Raum der Weisheit“, mit dem der Weg des Buches beschlossen wird, eröffnet mit diesem Blick auf Maria gerade auch Frauen ihren Raum in der Theologie als Wissenschaft, ein Raum, der in der Geschichte des Christentums verschlossen war und erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der Erinnerung an den sensus fidelium und das „Priestertum aller Gläubigen“ eröffnet worden ist. Zur Ausbildung des Glaubenssinnes der Kirche gehört die Glaubenserfahrung des gesamten Volkes Gottes, gehören die Frömmigkeitsformen, gehören Gebete, Gedichte, gehören auch theologische Texte, die nicht in den „mainstream“ der theologischen Lehre aufgenommen worden sind.
Gerade darum gehört der Blick auf Maria zu einem spannenden und kreativen Feld gegenwärtiger Theologie. Volksfrömmigkeit und Spiritualitätsformen sind aus der theologischen Reflexion ausgeblendet worden, erhalten aber in den letzten Jahren ein gewisses „Heimatrecht“ in der Theologie, vor allem in den kontextuellen Theologien, die in Lateinamerika, Afrika und Asien entstanden sind, und sie stellen in den interkulturellen Dynamiken der globalisierten Welt heute herausfordernde Fragen an den Weg westlicher Theologie. In der Glaubenserfahrung des Volkes hat Maria in allen Jahrhunderten eine ausgezeichnete Rolle gespielt und es haben sich in Räumen, die die offizielle kirchliche Tradition ausgeblendet hat, eigene theologische Reflexionen ausgebildet. Gerade in Frauenklöstern wird ein mariologischer Schatz tradiert, der erst langsam in der theologischen Frauenforschung gehoben wird, wie sie die Osnabrücker Theologin und Mediävistin Elisabeth Gössmann begründet hat.
Die „Mariologie“ wird auf diesem Hintergrund zu einem neuen Forschungsfeld.4 Das ist aber nicht mehr eine Mariologie im klassischen Sinn als „Traktat“ dogmatischer Theologie, wie sie sich im 16. Jahrhundert ausgebildet hat, sondern ein poetischer und ästhetisch-theologischer Zugang zu Glaubenserfahrungen und Praktiken des Glaubens. Es geht in den vorliegenden Überlegungen nicht um eine „Lehre von Maria“, sondern um ein Erschließen der großen Fragen christlichen Glaubens: nach Gott, Jesus Christus und Gottes Geist, nach dem Dreifaltigen, der als Schöpfergott die Liebe ist, nach Jesus Christus, dem Sohn Gottes, in dem diese Liebe offenbar geworden ist und der das Geschenk Gottes für Mensch und Welt zum „Heil“, zur „Befreiung“, zur „Erlösung“ ist, nach Gottes Geist und seinem Wirken in uns, nach der „Gnade“, nach der Gemeinschaft der Heiligen, die in Gottes Liebe leben und für uns „Vorbilder“ des Glaubens sind. Der Blick auf Maria eröffnet Zugänge zu diesen „Räumen des Glaubens“ und darum ist sie „Typus“, ist sie „Vorbild“, war und ist sie eine „Schlüsselfigur“ der Spiritualität von Frauen und Männern.
Ein solcher Weg ist angeleitet – wie es das nächste Kapitel deutlich machen soll – von einer feministisch-theologischen und befreiungstheologischen Hermeneutik. Es ist gerade ein Verdienst der feministisch-theologischen Zugänge zu Maria, die „dogmatische“ Maria – die Jungfrau, Mutter und Himmelskönigin – zurückgebunden zu haben an die Maria von Nazaret, die Maria des Magnifikat, die an der Seite ihres Sohnes stand, von der Geburt bis an das Kreuz, bis hinein in den Kreis der Apostel in den entscheidenden Gründungsmomenten der Kirche. Auch wenn das biblische Zeugnis in einem historisch-kritischen Sinn als Zugang zu einer „Biographie“ Marias dürftig ist, so weist es als theologischer Zugang zu Maria im Sinne eines „Typus“ des Glaubens wichtige Wege. Darin gründen und daran knüpfen dann die dogmatischen mariologischen Aussagen an. In einem späteren Geschichtsmoment von der Gemeinschaft der Kirche – oder wie in jüngerer Zeit vom Lehramt des Papstes – verabschiedete dogmatische Lehraussagen stellen kein „Mehr“ zu der Offenbarung dar, wie sie in den Schrifttexten bezeugt sind. Sie beziehen sich aber auf die Entwicklung eines sensus ecclesiae in der Geschichte der Kirche und sind darin vom Wirken des Geistes Gottes in der Geschichte christlichen Glaubens getragen. Das kann an den Mariendogmen in besonderer Weise abgelesen werden.
Wenn wir auf Maria schauen, wird deutlich, dass eine Auseinandersetzung mit Glaubensfragen immer von Glaubenserfahrungen und Glaubenspraktiken geprägt ist, wie sie sich in der Alltäglichkeit des Lebens in den jeweiligen geschichtlichen Momenten und kulturellen Räumen ausprägen. Wenn wir nach Gott und seiner Liebe zur Welt, zum Menschen fragen, so ist dies keine „abstrakte“ Frage, sondern diese Frage hat mit uns zu tun. Leben und Glauben gehören zusammen, das kann an Maria abgelesen werden, darum ist sie denen „nah“, die sich die Fragen nach Heil und Befreiung, nach Schuld und Sünde, nach Freude und Glück nicht „vom Leibe halten“, und darum lohnt es, mit ihrem Weg vertraut zu werden, weil sie das zusammenzubringen vermag, was auseinandergebrochen ist. Das was Heil, was Erlösung, was Befreiung ist, rückt nah, ganz nah in Maria, und bleibt darin doch Geheimnis des Glaubens; darum wurde sie von Beginn des Christentums an verehrt, weil sie in Räume des Gottes Israels, des Gottes Jesu Christi eintreten lässt. Darum ist die Mariologie in der katholischen Tradition eine „Erfolgsgeschichte“ geblieben und darum wird sie auch in der jüngeren protestantischen Theologie wieder neu zu einem Thema.5
In Zeiten, in denen gerade in den Ländern des Westens die Glaubenserfahrung „schwach“ geworden ist, ist es wichtig, sich vor aller Praxis an die poiesis zu erinnern, eine imaginierende und schöpferische poiesis, die die Lebensquellen erschließen hilft. Maria weist einen solchen Weg; die Bilder, die Menschen sich in allen Zeiten, ihren geschichtlichen und kulturellen Erfahrungen entsprechend von Maria gemacht haben, sind poetische Bilder, die aller Gewalt und Not, dem Tod zum Trotz Erfahrungen von Transzendenz ermöglichen, die in die chaotische Stadt des Menschen die Visionen der Stadt einschreiben, die vom Himmel kommt, ein konkreter Traum von Schönheit und Frieden, von menschlicher und kosmischer Harmonie. Das wird in den alten Gebeten deutlich, wenn Marias Schutz erfleht wird, in den Bildern wie der Schutzmantelmadonna, der Mutter vom guten Rat oder der Pietà. Das sind Symbole des Glaubens, die in die Kultur eingebettet und mit den Lebensgeschichten der Menschen verwoben sind, die – so das berührende Symbol der auf der Rückseite einer russischen Landkarte gemalten Schutzmantelmadonna in einem Bunker in Stalingrad, nun Glaubenszeichen in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin6 – in unterschiedlichen Zeiten neu produktiv werden können. Sie begleiten Menschen und leiten sie an, ihre eigenen Gestalten des Glaubens an den Gott des Lebens, der sich zum Leben, zum Heil, zur Heilung und Befreiung in Jesus Christus geoffenbart hat, zu finden. Das sind dabei keine „Standbilder“, sondern Bilder, die „aufgeführt“ und neu „inszeniert“ werden wollen und darin zu neuer Praxis anleiten. Dazu ist eine theologische Begleitung notwendig, die sich an einer ästhetischen Theologie schult und von einer kritischen und befreienden Theologie zu lernen weiß, die Bilder und Symbole in den Horizont des je größeren Offenbarwerden Gottes zu stellen. Maria, die Frau aus dem Volk, die Mutter Gottes, ist Hoffnungsbild für den Menschen, Schwester und Freundin im Glauben, weil sie zu einem Glaubensweg anleitet. Am „Vor-Bild“ Marias können wir unseren Glauben „bilden“.
LERNEN AUS INTERKULTURELLEN DYNAMIKEN
Gerade die lateinamerikanische Kirche weiß um diese Weggestalten des Glaubens und die „bildende