Livia Bitton-Jackson

Hallo Amerika!


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viele verschiedene Lieder, viele verschiedene Hymnen – ein bunter Strauß an Melodien, die in den Dunst über uns aufsteigen.

      »Die amerikanische Hymne!«, rufe ich. »Wer kann die amerikanische Hymne?«

      Aber niemand hört auf mich. Niemand kennt die Hymne unserer neuen Heimat. In ganz verschiedenen Sprachen singen die Flüchtlinge weiterhin die Hymnen, die sie im Herzen tragen – eine Kakophonie der Zungen. Das Oberdeck ist jetzt voller Menschen. Männer, Frauen, Kinder … alle singen, die Gesichter gerötet vom Wind und voller Tränen. Es ist ein einziges Lied, das da erklingt – das Lied von Flüchtlingen, die endlich nach Hause kommen.

      »Oh, Mami. Ich kann nicht glauben, dass wir es geschafft haben!«

      »Noch nicht. Noch nicht ganz.« Vorsichtig befreit sie sich aus meiner Umarmung. »Lass uns gehen und unsere Sachen holen, Elli«, sagt sie fröhlich. »Wir sollten uns beeilen und nicht als Letzte an Land gehen.«

      Ich nicke.

      »Wir sollten uns beeilen und unter den Ersten sein!«

      Wir gehen nach unten, um unsere Sachen zu packen, und als wir die Koffer dann Richtung Oberdeck manövrieren, wird Mami von einer Welle aus Menschen erfasst, die sie Richtung Landungsbrücke zieht.

      »Warte, Mami! Ich kann noch nicht gehen. Ich kann hier nicht weg, ohne mich von Captain McGregor und Obersteward McDonald zu verabschieden.« Gegen die Strömung ankämpfend, gelingt es Mami und mir, zur Offiziersmesse vorzudringen. Aber dort sind die beiden nicht. Als wir die Koffer Richtung Mannschaftsdeck schleppen, erklingt aus dem Gedränge eine bekannte Stimme.

      »Da sind Sie ja! Gut sehen Sie aus! Wieder ganz die Alte.« Die Augen des Kapitäns sprühen vor schalkhafter Freude. »Bäckchen wie ein Pfirsich und abmarschbereit!«

      »Ja, ich fühl’ mich wirklich besser. Die Seekrankheit hat aufgehört, als wir fürs Anlegen langsamer wurden.«

      »Ich weiß, ich weiß. Liegt in der Natur der Sache. Und wo geht es jetzt hin?«

      »Wir haben Verwandte in Brooklyn.«

      »Brooklyn? Haben Sie denn einen Pass? Sie müssen über eine Brücke, um dorthin zu gelangen, und dafür brauchen Sie einen speziellen Ausweis. Brooklyn ist schließlich Ausland.«

      »Oh, nein! Pässe haben wir keine. Wir sind ja alle ›staatenlos‹. Keiner der Flüchtlinge hier hat einen Pass!«

      Mir krampft sich der Magen zusammen.

      Die Augen des Kapitäns leuchten jetzt dunkel und verschmitzt.

      »Dann können Sie nicht nach Brooklyn. Sie müssen wohl oder übel hier an Bord bleiben!«

      Jetzt steht mir wohl die Panik im Gesicht, deshalb schließt er mich fest in seine Arme.

      »I was only kidding! Gott sei mit Ihnen, Miss Friedman. Danke für Ihre Hilfe. Sie haben erstklassig gearbeitet. Bei der nächsten Überfahrt werde ich Sie vermissen.«

      Was heißt noch mal kidding? Hoffentlich bedeutet es, dass er das mit dem Ausland nicht ernst gemeint hat.

      Während Captain McGregor mich umarmt, fällt mir unsere erste Begegnung ein.

      War es erst am Donnerstag der vorigen Woche, dass im Bremerhavener Flüchtlingscamp das Gerücht aufkam, unser Schiff läge bereit und wir könnten am Samstagmorgen an Bord gehen? Aber der Samstag ist ja der Sabbat, und da darf man nach dem jüdischen Gesetz kein Schiff betreten! Mami und ich standen vor einem unlösbaren Problem, bis mir am Freitagvormittag die rettende Idee kam: Ich könnte mich als Übersetzerin anbieten und fragen, ob wir statt am Samstag auch schon heute, also freitags, an Bord gehen dürften. Mami fand den Vorschlag gut, hatte aber ihre Zweifel. Dann nahm der Kapitän wie durch ein Wunder mein Angebot an und ließ uns gemeinsam mit der Besatzung gleich an Bord.

      Und jetzt sind wir hier: drauf und dran, Amerika zu betreten, das Land der Freiheit. Hinter uns liegt die blutgetränkte Erde Europas, das Gräberfeld all dessen, was ich geliebt habe – meiner Familie, meiner Freunde, meiner Kindheit.

      Es war eine lange Reise. Wann hat sie angefangen? Begann sie, als junge amerikanische Soldaten mich, ein vierzehnjähriges Skelett, aus einem deutschen Gefangenentransport befreiten und uns lebenden Leichen das Geschenk des Daseins machten? Das Geschenk der Hoffnung?

      Oder begann sie noch vor dem Krieg, als Papa seinen tschechischen Pass in der Hand hatte, der versprach, seinen Traum von Amerika Wirklichkeit werden zu lassen? Aber als dann die Schatten des Krieges aufzogen, lockte Amerika von einem immer entfernteren Horizont, bis Hitlers Einmarsch in Prag zur Schließung der amerikanischen Botschaft führte und unseren Hoffnungen damit einen letzten, tödlichen Schlag versetzte. Und anstatt in Amerika endete die Reise meines Vaters in einem Massengrab in Bergen-Belsen.

      Wir drei – meine Mutter, mein Bruder und ich – setzten als Überlebende dieses Todesimperiums die Reise taumelnd fort. Mein Bruder konnte mit einem Studenten-Visum schon vor vier Jahren in die USA einwandern, während meine Mutter und ich weiter durch Europa zogen, uns innerhalb der amerikanischen Zonen Deutschlands von einem Flüchtlingslager zum nächsten bewegten und dabei unserem Traum von Amerika immer näher kamen. Bis zu jenem denkwürdigen Freitag vor einer guten Woche, als in Bremerhaven ein kleines Schiff vor Anker lag, an dessen Bug der Name USS General Stewart prangte.

      Unter Deck hatten Mami und ich gerade das Nachtgewand unter die Kissen gestopft und die Koffer unter den Pritschen verstaut, als ein tipptopp uniformierter Marineoffizier auftauchte und mich bat, ihm zum Büro des Kapitäns zu folgen.

      Captain McGregor begrüßte mich jovial und zeigte auf einen Schreibtisch in der Ecke, auf dem zwischen Papierstapeln eine graue Olympia-Schreibmaschine stand.

      »Das ist Ihr Büro, Miss Friedman«, sagte er trocken. »Zunächst müssen wir alles nach Nationalitäten sortieren. Hier ist eine Liste der Passagiere, die Herkunft steht neben dem Namen. Bitte sortieren Sie alles nach Nationalitäten, also für jede eine eigene Liste. Außerdem brauchen wir eine mit den Kindern unter fünfzehn – für den Kinderspeisesaal. Das Alter steht ebenfalls neben dem Namen. Als Übersetzerin brauche ich Sie, um herauszufinden, wer kein Fleisch isst. Diese Passagiere haben ihren eigenen Speisesaal. Die entsprechende Liste machen wir morgen Früh, wenn alle an Bord sind. Dann wird sie von Ihnen abgetippt und sofort an die Küche weitergegeben.«

      »Also das mit dem fleischlosen Essen kann ich machen«, erwiderte ich zaghaft. »Aber die Liste abtippen kann ich nicht. Das gehört zu dem, was ich über die Einhaltung der Sabbatvorschriften gesagt habe. Am Sabbat darf ich nicht Schreibmaschine schreiben.«

      »Verstehe. Kein Problem. Morgen übernimmt einer der Stewards das Tippen. Können Sie die Informationen beschaffen und dann diktieren? Würde das gehen?«

      Ich nickte und setzte mich an die alte Schreibmaschine. Da ich wusste, wie wenig Zeit ich hatte, legte ich mich ordentlich ins Zeug. Gegen zwölf kam der Kapitän an meinen Schreibtisch.

      »Mein Fräulein, so leid es mir tut, aber jetzt ist es Zeit fürs Mittagessen. Ich möchte Sie und Ihre Mutter einladen, an meinem Tisch mit mir und der Crew zu speisen.«

      »Oh! Danke, Captain«, erwiderte ich vorsichtig. »Wir würden wahnsinnig gern mit Ihnen essen. Aber meine Mutter und ich dürfen nur koschere Nahrung zu uns nehmen.«

      »Was Sie nicht sagen!«, rief er. »Unsere ersten fleischlosen Gäste! Aber kein Problem, ich sag’s dem Koch. Er wird sich um Sie kümmern.«

      Die angenehme Gesellschaft sowie ein Angebot aus Salat, Hüttenkäse und Dosenmais sorgten für ein sehr erfreuliches Mittagessen. Und noch etwas anderes: Nachtisch. Ein gefrorener, brauner Ziegelstein, vom Koch peinlich genau in Stücke geteilt.

      »Was ist das?«

      Die Crew amüsierte sich köstlich darüber, dass ich offenbar noch nie Schokoladen-Eis gesehen, geschweige denn gegessen hatte. Einer nach dem anderen häufte seine Portion auf meinen Teller. Erst später fand ich heraus, dass alle Schokoladen-Eis hassten und froh über diese einfache Lösung waren!

      Irgendwann