Usch Hollmann

Wasserschloss zu vererben


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könnte? Na? Überleg doch mal …“

      „Omilein, also wenn ich mir wirklich etwas wünschen darf … ich habe vor ein paar Wochen bei euch auf dem Dachboden in dem großen Schrank, bei dem die Türe so klemmt, eines von deinen alten Kleidern gesehen, so ein buntes mit ganz großen Blumen darauf und mit einem weiten Rock – das ziehst du bestimmt nie mehr an, aber ich würde es schrecklich gern zu unserer Abiturfeier tragen – wir wollen alle in Kleidern von ‚anno dunnemals‘ erscheinen – und dieses Kleid finde ich so was von süß … bittebitte, Omi, ich passe auch ganz bestimmt auf, dass es nicht kaputtgeht, und …“

      Esthers Stimme ist ganz klein und kindlich geworden und endet mit einem großen akustischen Fragezeichen. Die Fürstin kann sich eines Lächelns nicht erwehren.

      „Wenn wir dasselbe Kleid meinen, dann sprechen wir von meinem Tanzstundenkleid … das hat mir unsere damalige Hausschneiderin genäht. Es ist aus sogenanntem Georgette, ein Stoff, den es heute fast gar nicht mehr gibt. Meine Mutter fand damals, der Ausschnitt sei für ein junges Mädchen viel zu tief – ich hatte schon zu meiner Tanzstundenzeit einen deutlich erkennbaren Busen – doch die Schneiderin hat meiner Mutter alle Bedenken ausgeredet. Aber sie musste aus einem Rest des Stoffs ein Tüchlein nähen, das man, zu einer Rose gefältelt, mit einer Schmucknadel am Ausschnitt befestigen konnte, um damit das Dekolleté zu verkleinern.“

      „Genau, und diese Rose und sogar die altmodische Schmucknadel stecken immer noch an dem Ausschnitt“, fuhr Esthers fröhliche Stimme dazwischen. „Omi, schenkst du mir das Kleid zum Geburtstag? Dann brauchst du dir auch gar nicht mehr weiter den Kopf zu zerbrechen. Und das gilt dann gleich als Abiturgeschenk – wenn ich es denn bestehe und nicht mit Pauken und Trompeten durchrassle, aber es sieht nicht schlecht aus, was meine Vorzensuren betrifft – ach Omilein, bitte.“

      „Okay, versprochen, es soll dir gehören und es macht mir Freude, dass du dir etwas wünschst, was mit mir zu tun hat. Ich wollte es übrigens schon lange zusammen mit anderen Kleidern aus dem alten Schrank in einen Theaterfundus geben, denn manchmal werden gerade die Kleider aus jenen Jahren gesucht, aber wenn meine Enkelin sich damit auf ihr Abiturfest traut … umso besser. Übrigens hat Großvater mich damals in dem Kleid kennengelernt.“

      „War Großvater etwa mir dir zusammen in der Tanzstunde?“

      „Nein, er war ja viel älter als ich – wo er mich in dem Kleid gesehen hat? Bei einem Besuch bei meinen Eltern, er war damals in verschiedenen Adelsfamilien auf Brautschau – seine Zukünftige sollte unbedingt ebenfalls adelig sein. Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Ja, er war ein bisschen sehr standesbewusst. Deswegen hat er ja auch so großen Wert darauf gelegt, dass seine Tochter Claudia, also deine Mama, deinen Vater, Michael zu Lauenstein heiratet. Vielleicht würde er heute das mit der adeligen Herkunft nicht mehr ganz so eng sehen, aber ich bin froh, dass es so gekommen ist, denn sonst hätte ich dich ja nicht, meine einzige Enkelin – und das wäre nun wirklich sehr bedauerlich.“

      „Und ich hätte nicht die beiden besten Großmütter der Welt, nämlich dich und Oma Charlotte. Nun siehst du, welch eine wichtige Rolle dein geblümtes Tanzstundenkleid in deinem und meinem Leben spielt – wie lieb von dir, dass du es mir schenken willst. Ach, Großmutter, ich freue mich so auf meinen Geburtstag, endlich einmal zwei ganze Tage mit Papa und Mama, und ganz ohne Smartphone und Laptop!“

      Das Gespräch zwischen Großmutter und Enkelin geht noch eine Weile hin und her. Erst als Wegener aus dem hinteren Teil des Parks mit entsprechenden Handzeichen signalisiert, dass er die am offenen Fenster stehende Fürstin um ein Gespräch bittet, beendet diese das Telefonat.

      „Hallo, Herr Wegener, welch herrlicher Frühlingstag. Bei dem Wetter sieht man dem ganzen Park deutlich an, dass Sie nicht nur einen, sondern zwei grüne Daumen haben. Sie wollten mich sprechen?“

      Der alte Gärtner nimmt die Mütze vom Kopf und versucht, mit der linken Hand seine grauen Haare zu einer Frisur zu glätten. Gleichzeitig zieht er die bislang hinter seinem Rücken versteckte rechte Hand nach vorn und reicht seiner Chefin einen kleinen Strauß aus Zwerghyazinthen, Schlüsselblumen und Leberblümchen.

      „Wenn Sie die vielleicht Fürst Raimund aufs Grab bringen würden? Er hat sich über die ersten Frühlingsblüher immer so sehr gefreut.“

      Die Fürstin ist gerührt.

      „Ach, Sie treue Seele … Nun ist mein Mann schon seit vier Jahren tot, aber die Natur kümmert sich nicht um unsere Trauer und erwacht jedes Jahr zu neuem Leben. Die Zeit vergeht unaufhörlich und …“

      Der alte Gärtner unterbricht. „Fürstin, bei allem Respekt, ich denke nicht, dass die Zeit vergeht, sondern wir vergehen. Die Zeit …“ Er sucht nach den passenden Worten. „… also die Zeit ist doch irgendwie ein abstrakter Begriff, den wir benutzen, um Struktur in unser Dasein zu bringen …“

      Er setzt seine Mütze wieder auf und rückt sie zurecht.

      „Nein, nicht die Zeit vergeht, sondern wir vergehen“, wiederholt er nachdenklich. „Nichts für ungut, Fürstin, aber man macht sich als alter Mensch so seine Gedanken. Genießen wir den Tag, so lange wir genussfähig sind, besonders wenn der Tag so sonnig und verheißungsvoll ist wie dieser. Da macht die Arbeit noch mehr Spaß …“

      Mit einer angedeuteten Verbeugung wendet er sich zum Gehen und tippt mit dem Zeigefinger Abschied nehmend an den Rand seiner Mütze.

      Die Fürstin sieht ihm erstaunt lächelnd nach.

      „Sieh an, mein alter Gärtner ist ein Philosoph, wer hätte das gedacht.“

      Sie hebt den Frühlingsstrauß an ihr Gesicht und atmet den feinen Duft der Schlüsselblumen ein. „Ich werde euch ins Wasser stellen, bevor auch ihr vergeht“, flüstert sie, ehe sie ins Haus zurückkehrt. „Und heute Nachmittag bringe ich sie dir, Raimund“, sagt sie zu dessen Foto, das in silbernem Rahmen auf einem Sidebord steht.

       4

      „Dahlmann, du hast das Päckchen für Esther doch früh genug zur Post gebracht, nicht wahr?“ Fürstin Henriette geht unruhig in der Eingangshalle von Schloss Wallburg auf und ab. „Esther müsste es heute, pünktlich zu ihrem Geburtstag, bekommen haben. Wie spät ist es? Schon vierzehn Uhr? Die Post streikt doch wohl nicht schon wieder?“

      Agnes Dahlmann tritt mit einem Glas Wasser und der für die Mittagszeit vorgesehenen Tabletten an die Seite ihrer Chefin.

      „Seien Sie beruhigt, Fürstin, die Post ist rechtzeitig abgegangen und Esther hat ihr Geschenk ganz sicher bekommen, aber Graf Michael hat den Flieger für dreizehn Uhr bestellt und sie sind vermutlich gerade auf dem Flug nach Juist. Und da weder er noch Claudia zur Feier des Tages das Handy oder Smartphone in Betrieb nehmen wollten, hat sicher auch das Geburtstagskind keines dabei und kann Sie deshalb gar nicht anrufen. Nehmen Sie also ruhig ihre Medikamente und dann legen Sie sich ein Weilchen hin. Ich mache Ihnen später wie gewohnt einen Tee. Und falls das Telefon klingelt … ich bin ja im Hause.“

      Gehorsam nimmt die Fürstin die Tabletten und das angebotene Glas Wasser an.

      „Ich habe vorhin den Wetterbericht gehört – es bleibt sonnig, wenn auch etwas windig. Sie werden einen schönen Tag zusammen erleben, ich gönne es ihnen.“

      Dahlmann nicht zustimmend.

      „Ja, die Nordsee soll um diese Jahreszeit besonders reizvoll sein. Nicht umsonst ist Juist Esthers Lieblingsinsel, weshalb sie schon einige Male dort waren. Und dass der Pilot ein Freund der Familie ist und nach mehr als fünfhundert Flügen genug Erfahrung gesammelt haben dürfte, ist ebenfalls gut zu wissen. Esther wird morgen eine Menge zu erzählen haben.“

      Sie schiebt die Fürstin mit sanftem Druck in Richtung Treppe. Auf der dritten Treppenstufe bleibt sie kurz stehen.

      „Ich habe es Claudia nie wissen lassen, dass ich seit Fürst Raimunds Tod meine Tablettendosis fast verdoppeln musste … du weißt, dass ich immer öfter am Rande einer neuen Psychose herumkrauche – ich fühle mich manchmal so alleingelassen und nutzlos –