Bernd Siggelkow

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist


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mit errötetem Gesicht, mit Blick auf den Übeltäter. Der dreht sich nur kurz zum Gang und erwiderte: »Nein, was denn?« Spannung lag in der Luft. Eine Situation zum Fremdschämen. Vielleicht sollte ich doch besser woanders hinschauen. »Na, Entschuldigung – zum Beispiel«, tönte es verärgert vom Gang. »Und wofür?«, kam es knallhart zurück.

      Die Halsschlagader des Mannes auf dem Gang schwoll förmlich an. Ich merkte, wie er versuchte, sich zurückzuhalten. Entweder weint er gleich oder er beginnt lautstark zu schreien, dachte ich bei mir. »Sie haben mir den Kaffee über das Bein gegossen!«, schoss es aus ihm heraus.

      Der Herr vor mir blieb die ganze Zeit monoton, fast starr und vor allem kalt. Seine Körperhaltung und seine Worte waren abweisend. Das allein konnte jemanden schon zur Weißglut bringen, doch seine Antwort setzte allem die Krone auf: »… und was kann ich dafür?«

      Den meisten Passagieren blieb wahrscheinlich der letzte Schluck des Getränks im Hals stecken, denn das war wohl ziemlich das Letzte, was man erwartet hatte. Der Mann am Gang setzte sich kopfschüttelnd zurück auf seinen Platz und niemand wagte, auch nur einen Ton zu sagen.

      In diesem Moment war ich auch sprachlos, dachte aber anschließend über diese Situation viel nach.

      So oft begegnen uns Menschen, die wir als kalt empfinden, an denen Dinge oder Situationen völlig abzuprallen und sie nicht zu berühren scheinen. »Ist doch mir egal« – eine Aussage, die ich von den meisten Teenagern in der Arche höre.

      Anteilnahme, Betroffenheit, Empathie und Mitgefühl sind offenbar in der Gefühlswelt mancher Menschen nicht vorhanden – wie ausgestorben. Für sie heißt es: An erster Stelle komme ich und danach folge immer noch ich. Ich, ich, ich – etwas anderes gibt es nicht. Mit diesem Motto lebt es sich scheinbar am besten. Einstellungen und Weisheiten wie »Jeder ist seines Glückes Schmied«, »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott« oder »Der ist doch selbst schuld« machen das Zusammenleben in unserer Gesellschaft nicht leicht.

      Und dann lesen wir, dass Jesus Christus spricht: »Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!« (Lukas 6,36).

      Ja, das ist eine Aussage, zu der wir Christen gern Ja und Amen sagen, aber für mich ist es eine echte Herausforderung. Gerade in einer Gesellschaft, in der bei vielen Menschen der pure Egoismus dominiert, wenig Verständnis für andere da ist und Hilfe oft nur aus Mitleid betrieben wird, sind Barmherzigkeit und Nächstenliebe vergessene Werte.

      Es ist ja nicht so, dass ich automatisch barmherzig bin, nur weil ich Christ bin. Auch in vielen Gemeinden geht es oft nur um den Existenzkampf und nicht um den Nächsten. Wobei da die alte Frage wieder neu aufkommen sollte: »Wer ist eigentlich mein Nächster?«

      Abgesehen davon würden die meisten Menschen um mich herum niemals von sich aus in die Kirche gehen, geschweige denn kennen sie einen Christen. Sie haben oft eigene Sorgen und Probleme, bei denen unsere Barmherzigkeit ins Schwanken gerät. Die Investition in diese Menschen wird zu einer Lebensaufgabe.

      »Wer Gott liebt, wird auch seine Brüder und Schwestern lieben, und schließlich werden alle Menschen diese Liebe zu spüren bekommen« (2. Petrus 1,7; Hfa).

      Somit kann ich nicht wegschauen, wenn jemand in Not ist, denn auch Gott würde niemals wegsehen. So oft sagen wir, dass wir Gott lieben, aber die Menschen um uns herum scheinen uns egal. Oft lese ich, wie Christen über Fehlentscheidungen von Politikern oder anderen Menschen herziehen, statt selbst zu handeln. Klar, es ist immer einfach, gegen etwas oder jemanden zu sein, aber Gott reicht uns auch die Hand.

      Wir sollen nicht nur reden, sondern vor allem handeln. Schließlich gibt auch Gott den Menschen nicht nur kluge Ratschläge – im Gegenteil: Er lässt seine Liebe und Vergebung ganz praktisch werden.

      Lassen wir uns von der Liebe Gottes inspirieren, dann werden aus Worten Taten. Lieben wir ihn, dann können wir nicht mehr achtlos an unseren Mitmenschen vorbeigehen.

      Vertrauen wir Gott, wird kein Weg zu anstrengend und keine Hürde zu hoch sein. Natürlich ist es immer leichter, Liebe mit den Lippen zu bekennen. Aber was andere von uns sehen, ist nicht das, was aus unserem Mund kommt, sondern vielmehr die Dinge, die wir ganz praktisch bewirken.

      Barmherzigkeit ist für mich mehr, als verzweifelt zu helfen. Barmherzigkeit heißt, mit den Augen Gottes zu sehen.

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