Simon Graf

Roger Federer


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      porträt

      Simon Graf

      Roger Federer

      kurz & bündig verlag | Frankfurt a. M. | Basel

      Vorwort

      «Jetzt musst du dein Federer-Buch überarbeiten», sagt mein portugiesischer Kollege Miguel Seabra und blickt schmunzelnd zu mir herüber. Wir sitzen auf der Pressetribüne des

      Centre Courts von Wimbledon nebeneinander, ich eine Spur unruhiger als er. Federer hat sich an jenem 14. Juli 2019 im

      Finale gegen Novak Djoković im fünften Satz nach zähem Ringen bei 8:7 und 40:15 zwei Matchbälle bei eigenem Aufschlag erspielt. Der Rest ist Geschichte. Zuerst eine leichtfertig verschlagene Vorhand Federers, dann ein überstürzter Netzangriff und zuletzt jubelt doch wieder Djoković. Den Rat meines Journalistenkollegen Miguel habe ich trotzdem beherzigt, und hier ist sie: die aktualisierte und um fünf Kapitel erweiterte Ausgabe meiner Federer-Biografie. Womit wir bei zwanzig

      Kapiteln angelangt sind, was der Anzahl der aktuell gewonnenen Grand-Slam-Titel des Racketkünstlers entspricht. Angereichert wird die Neuauflage durch kunstvolle Fotos des international renommierten Tennis-Fotografen Paul Zimmer.

      Ein besonderer Leckerbissen ist das Interview mit Stanford-­Professor und Sportenthusiast Hans Ulrich Gumbrecht über die Faszination Federer. Zudem schildern namhafte Journalisten aus Paris, London, Hamburg, Buenos Aires und Melbourne ihre Sicht auf den Schweizer. Außerdem wage ich einen Blick aufs Familienleben der Federers und gehe der Frage nach, wieso die Schweiz so viele erfolgreiche Tenniscracks hervorgebracht hat.

      Die vorliegende Biografie ist nicht autorisiert. In den zwanzig Jahren, in denen ich Federer als Reporter für den Zürcher «Tages-Anzeiger» und die «SonntagsZeitung» bei vielen seiner Siegeszüge um die Tenniswelt begleiten durfte, habe ich ihn sehr gut kennengelernt. Auch in zahlreichen persönlichen Interviews und in Gesprächen mit Personen aus seinem familiären und sportlichen Umfeld. So glaube ich, ein treffendes Bild von ihm zeichnen zu können. Und zwar nicht nur vom Sportler, sondern auch vom Menschen, der wie wir seine Kämpfe auszutragen hatte – wenngleich sein Leben von außen betrachtet wie eine rasante Abfolge von Höhepunkten erscheinen mag.

      In diesem Buch versuche ich, Federer in all seinen Facetten abzubilden. Als aufbrausenden Teenager, als Tennisgenie, als Sohn, Ehemann und Vater, als Inspiration, Stratege, Topmanager seines Talents, als Sieger und Verlierer, als Idol, Ausnahmeathlet, Wohltäter und vieles mehr. Das Porträt ist nicht streng chronologisch aufgebaut – vielmehr versammelt es zwanzig längere, thematisch geordnete Stücke. Sie können das Buch klassisch von vorne nach hinten lesen, dürfen aber auch eine beliebige Reihenfolge wählen. Die Kapitel stehen für sich, und wenn Sie alle gelesen haben, hat sich das Puzzle vervollständigt.

      Kilchberg, im September 2020

      1. Der König aus dem Volk

      Es ist ein wunderschöner Tag im Paradies. Die Sonne strahlt, ein leichtes Lüftchen weht durch die Berglandschaft von Gstaad und macht die Sommerhitze erträglich. Es ist der 25. Juli 2013, und im Nobelort freut man sich auf den Auftritt von Roger Federer. Neun Jahre ist der Weltstar nicht mehr hier gewesen. Doch auf seiner verzweifelten Suche nach Spielpraxis macht er wieder einmal Station im Berner Oberland. Die Freude ist so groß, dass man ihm wieder eine Kuh geschenkt hat – wie 2003 nach seinem ersten Wimbledon-Sieg. Doch als ich zufällig sehe, wie sich Federer ein paar Stunden vor seinem Einsatz auf den Sandplätzen des Grand Hotel Palace einspielt, schwant mir Böses. Nichts ist zu sehen von der legendären

      Federer’schen Eleganz und Leichtigkeit, er wirkt steif wie ein Roboter. Sein Rücken macht ihm also immer noch zu schaffen. Ob es eine gute Idee ist, zum Spiel gegen den Deutschen Daniel Brands anzutreten? Nein, ist es nicht, wie sich einige Stunden später herausstellt. Federer spielt wie eine schlechte Kopie seiner selbst, wirkt gehemmt und bald resigniert. Nach 65 Minuten und einem 3:6, 4:6 verlässt er gesenkten Hauptes den Court.

      Es sind quälende Monate für Federer. In Wimbledon ist er als Titelverteidiger in Runde 2 am ukrainischen Nobody Sergej Stachowski gescheitert, immer wieder haben sich im Laufe des Jahres 2013 seine chronischen Rückenbeschwerden gemeldet. Nach seinem blamablen Auftritt vor dem erwartungsfrohen Heimpublikum in Gstaad hat er bestimmt keine Lust, seine Innenwelt nach außen zu tragen. Doch natürlich erscheint er zur obligaten Medienkonferenz und stellt sich den quälenden Fragen – und davon gibt es einige. Niemand würde ihm übelnehmen, wenn er sich kurz fassen würde, doch er gibt eine halbe Stunde lang Auskunft. Obschon er selbst nicht genau weiß, wie es um ihn und seinen Rücken steht. Und dann nimmt er sich auch noch Zeit für einen Schwatz mit dem Sohn des früheren Schweizer Profis Claudio Mezzadri und anderen, die ihn erstmals treffen wollen. Seine Frustration, dass sein Körper nicht mehr mitspielt, schluckt er hinunter – er versetzt sich in jene hinein, die sich so sehr auf ihn gefreut haben. Auf dem Court hat er sie enttäuscht, daneben nimmt er sich umso mehr Zeit. Dabei hätte er sich wohl am liebsten davongemacht und um sich selber gekümmert anstatt um die anderen. Es ist eine kleine Geschichte am Rande, die viel über ihn aussagt.

      Ich hätte auch mit der Beschreibung großartiger Siege Federers in dieses Porträt einsteigen können. Doch es ist einfach, im Erfolg zu glänzen. Der wahre Charakter offenbart sich erst in den schwierigen Momenten. Wie an jenem Tag im Berner Oberland, an einem Tiefpunkt seiner Karriere. Oft hat Federer die zwei Zeilen aus dem Gedicht «If» des britischen Schrift­stellers Rudyard Kipling gelesen, die über dem Eingang zum Centre Court Wimbledons prangen. Er hat sie verinnerlicht:

      «Wenn du mit Triumph und Niederlage umgehen

      Und diese beiden Blender gleich behandeln kannst»

      Das Gedicht schließt mit den Worten:

      «Dann ist die Erde dein, und alles, was auf ihr ist

      Und, was noch wichtiger ist: Du wirst ein Mann sein,

      mein Sohn!»

      Kipling richtete das 1910 veröffentlichte Gedicht an seinen Sohn John, der einige Jahre später in den Ersten Weltkrieg ziehen (und da sterben) sollte. Es zählt noch heute zu den populärsten in Großbritannien. Federer verkörpert die Geisteshaltung, die in den Zeilen Kiplings beschworen wird. Zumindest in den beiden oben zitierten. Von all seinen Siegen und Titeln und seinem Leben als Rockstar, dem überall und jederzeit zugejubelt wird, hat er sich den Kopf nicht verdrehen lassen. Und er lässt sich auch nicht entmutigen von Niederlagen und Rückschlägen.

      Federer hat viel von zu Hause mitbekommen, nicht nur sportlich. Doch der Baselbieter ist auch gewachsen an den Herausforderungen seines Lebens im Scheinwerferlicht, an seiner Rolle als Schlüsselfigur im globalen Profizirkus. Er realisiert schon früh, dass er als bewunderter Sportler nicht mehr nur sich selber gehört, sondern auch eine Verantwortung anderen gegenüber hat. Und er nimmt sie wahr, ohne sich untreu zu werden. Ob er möchte oder nicht, Federer prägt das Leben vieler anderer Menschen mit. Die Verehrung für ihn nimmt zuweilen fast religiöse Züge an. Seine treuesten Fans investieren all ihre Urlaubstage und fliegen um den Globus, um ihn zu sehen, sie basteln in stundenlanger Arbeit Federer-Devotionalien, schöpfen aus seinen Auftritten Inspiration für ihr eigenes Leben. Legendär ist die Tradition des roten Kuverts, die

      zurückreicht bis 2003, als er erstmals Wimbledon gewann. Der harte Kern von Federer-Anhängern überreicht ihm seitdem vor jedem Grand Slam und vor vielen weiteren Turnieren einen Umschlag mit Zettelchen, auf denen die Fans ihre Glückwünsche formuliert haben. Unter seinen Anhängern ist es ein Privileg, zum Kurier ausgewählt zu werden und ihn vor dem Turnier beim Training abzupassen, um ihm die hundert oder mehr Botschaften zu überreichen.

      Wer den Puls der Tenniswelt spüren möchte, sollte sich einmal während der «All England Championships» im Juli mit dem Zelt in den Wimbledon Park begeben, um da zu übernachten und sich Tickets zu sichern. Und dann mit den Zeltnachbarn über Federer plaudern, um die Wartezeit zu überbrücken. Schnell merkt man: Nicht jeder, der eine Schweizer Flagge am Zelt befestigt hat, ein T-Shirt mit Schweizerkreuz oder eine

      Baseballkappe mit dem «RF»-Logo trägt, ist Schweizer. Die Federer-Aficionados