Pierre Bourdieu

Eine illegitime Kunst


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wie alle anderen darauf bedacht ist, zu vergessen und vergessen zu lassen, daß es nur dann ein Fest gibt, wenn man es »macht«, und weil man sich dazu entschließt, eines zu »machen«. Von dem Augenblick ab, da die Teilnahme am Fest dieses insgeheime Einverständnis voraussetzt, das nur die Teilhabe an der Gruppe gewährleisten kann, muß der Fremde zum Störenfried werden. Während der Bauer eine Praxis verwirft, die seinem Wertesystem widerspricht, und einem gruppenfremden Spezialisten die Aufgabe überträgt, ein Ritual zu vollziehen, zu dem die gesamte Dorfgemeinde aufgerufen ist, überträgt die auf sich selbst verwiesene Familie in der Stadt den Vollzug des rituellen Hauskults einem Mitglied der Familie, gewöhnlich deren Oberhaupt.24 Als einzige Primärgruppe, die in der städtischen Gesellschaft ihre Geschlossenheit und Beständigkeit bewahren kann, behauptet sich die reduzierte Familie, mehr und mehr ihrer traditionellen – ökonomischen wie sozialen – Funktionen beraubt, indem sie Zeichen ihrer emotionalen Einheitlichkeit, d. h. ihrer Intimität, anhäuft. »Früher«, schreibt Durkheim,

      »war die Hausgemeinschaft nicht nur eine Vereinigung von Individuen, die miteinander durch die Bande gegenseitiger Zuneigung verbunden waren; sie war auch die Gruppe selbst, in ihrer abstrakten und unpersönlichen Einheit. Es war der ererbte Name mit allen Erinnerungen, die mit ihm zusammenhingen, das Elternhaus, die Stätte der Ahnen, seine Lage und sein überlieferter Ruf und noch mehr. Alles dies ist im Verschwinden begriffen. Eine Gesellschaft, die sich in jedem Augenblick auflöst, um sich an anderer Stelle wieder zu bilden, aber unter ganz anderen Bedingungen und aus ganz anderen Elementen, hat nicht genügend Kontinuität, um sich ein besonderes Gepräge zu schaffen, keine eigene Geschichte, mit der sie ihre Mitglieder an sich binden könnte.«25

      Ist es da nicht ganz natürlich, daß der Photographie allmählich die Aufgabe zuwächst, das Familienerbe gleich einem Schatz zu bewahren? Mag auch die Anhäufung langlebiger Konsumgüter wie Kühlschränke, Waschmaschinen oder Fernsehgeräte dazu beitragen, den Eindruck der Familieneinheit zu stützen, so kann der Erwerb dieser Massenprodukte doch das Gefühl der Intimität niemals so uneingeschränkt befestigen wie die photographische Praxis, die häusliche Herstellung häuslicher Embleme. In der Tat bestätigt die Photographie innerhalb der erheblich reduzierten Skala familiärer Produktionstätigkeiten besser als die Gärtnerei oder das »hausgemachte« Gebäck, fiktive Zugeständnisse an die Sehnsucht nach Autarkie, besser als das Heimwerken oder die Befriedigung einer Sammelleidenschaft (was diejenigen von der Gruppe isoliert, die daraus ihr Steckenpferd machen) die Kontinuität und Integration der häuslichen Gruppe und festigt beide, indem sie sie zum Ausdruck bringt.

      Die Scheidung zwischen den Themen, die in die Zuständigkeit des Berufsphotographen fallen, und denen, die von den Amateuren in der Familie Photographien werden, besteht nicht zufällig.26 Beispielsweise wendet man sich in einem kleinen Marktflecken im Süden Korsikas, wo sich die Praxis der Photographie in dem Maße verbreitet hat, wie die urbanen Werthaltungen Einlaß fanden, nach wie vor an den Berufsphotographen, um die festlichen Ereignisse (Hochzeit und Erstkommunion) und deren hohe Augenblicke festzuhalten. Dasselbe gilt für die Porträts der Kinder. Kurz, den Ausschlag gibt jeweils, ob ein Moment der Intimgeschichte der Person oder ihr gesellschaftlicher Aspekt aufgezeichnet werden soll. So stehen etwa den von Amateuren aus der Familie aufgenommenen Bildern, die die Etappen einer besonderen Kindheitsgeschichte dokumentieren, die konventionellen Photographien der Erstkommunion gegenüber, die im Atelier hergestellt wurden.27 Das heißt, die Durchsetzung der Amateurphotographie in den Familien fällt mir einer präziseren Differenzierung dessen zusammen, was dem öffentlichen Bereich und was der Privatsphäre zugehört. Ein Beleg dafür ist, daß die »großen Porträts«, die man noch eine Generation zuvor in jedem korsischen Haus an den Wänden des Besucherzimmers oder des Wohnzimmers sehen konnte, heute in der Mehrzahl der Haushalte den Amateurphotos Platz gemacht haben, die diskret auf einem Möbelstück aufgestellt werden. Seitdem man von der Photographie verlangt, nicht mehr allein das öffentliche Bild einer Person wiederzugeben, das so wenig individuelle Züge trägt, daß es keiner periodisch wiederholten Aufnahmen bedarf, und das so stark durch soziale Normen bestimmt ist, daß es geradezu prädestiniert scheint, vorgezeigt zu werden, sondern von ihr auch fordert, den vergänglichen Anblick und die besonderen Gesten eines Familienmitglieds aufzuzeichnen, ist die Unterscheidung zwischen Bildern, die der Betrachtung im Kreis der Familie vorbehalten bleiben, und solchen, die man »Fremden« preisgeben kann, unerläßlich geworden. Und sie ist nirgendwo so ausgeprägt wie bei den Leuten, die viele Jahre außerhalb von Korsika verbracht haben. In der Tat entreißt die Emigration die Kernfamilie dem ursprünglichen kollektiven Lebenszusammenhang; sie macht aus jeder individuellen Lebensgeschichte eine Kette von je besonderen Ereignissen, die nicht länger einer Stereotypisierung des Verhaltens unterliegen, wie der Rhythmus des Gemeinschaftslebens sie einschließt. Das Gesetz der unterschiedlichen Kalender gebietet, jene Feierlichkeiten, die es verdienen, daß man sie mit der Gruppe von gemeinsamer Herkunft teilt, von denen zu trennen, die als privat oder intim erscheinen, weil sie im Kalender der Primärgemeinde keinen Ort haben und ebenso verschiedenartig sind wie die Gruppen, in welche die Emigrierten für eine bestimmte Zeit eingebunden waren. Der Wunsch, die Zugehörigkeit zur Familiengruppe durch den Austausch von Photographien zu erhärten, schärft also zugleich den Sinn dafür, daß das öffentliche Leben in den eigenen vier Wänden nicht mehr wie früher in der Dorfgemeinschaft einem einzigen und einheitlichen Kodex von Regeln untersteht.

      Als private Technik produziert die Photographie private Bilder des Privatlebens. Mit dem photographischen Bild hat die industrielle Technik den am meisten Benachteiligten die Möglichkeit eröffnet, Porträts zu besitzen, die nicht länger die Porträts der Großen dieser Welt oder der Heiligen im Himmel sind. Die Porträtgalerie ist demokratisiert worden, und jede Familie verfügt in ihrem Oberhaupt über ihren »Hofphotographen«. Die eigenen Kinder zu photographieren bedeutet, sich zum Historiographen ihrer Kindheit zu machen und ihnen als Vermächtnis das Bild von dem zu hinterlassen, der sie einmal waren. So geschieht es durch die Vermittlerrolle der Familiengruppe, daß die primäre Funktion der Photographie sich dem Photographen wieder in Erinnerung bringt: die wichtigen Ereignisse in ihrer Besonderheit und die Familienchronik in Bildern festzuhalten. »Man muß eine Erinnerung an die Kinder haben.« Man verspricht einander, Photos aufzunehmen oder zu verschenken, und für den Photographen ist es sozusagen »das mindeste«, diesem kollektiven Auftrag zu genügen. Wenn die Photographen, abgesehen von einer verschwindend kleinen Minderheit, in der Aufzeichnung des Familienlebens die primäre Bestimmung der Photographie erblicken, wenn sie nach wie vor der photographischen Pose, jenen steifen und stereotypen Bildern fürs Familienalbum, Tribut zollen, obschon sie sie laut verurteilen, dann vor allem deshalb, weil sie sie für ebenso unvermeidlich halten wie die sozialen Zeremonien, die von den Bildern ihre Weihe empfangen.

      »Familienphotos? Die natürlich auch, schließlich muß man ja allen eine Freude machen. Aber das ist was ganz anderes!« (Angestellter aus Paris, 32 Jahre)

      Das Familienalbum drückt die Wahrheit der sozialen Erinnerung aus. Nichts gleicht weniger der autistischen Suche nach der verlorenen Zeit als diese kommentierten Darbietungen von Familienphotographien, Integrationsriten, denen die Familie ihre neuen Mitglieder unterwirft. Die Bilder der Vergangenheit, in chronologischer Ordnung, der »Vernunftordnung« des gesellschaftlichen Gedächtnisses gereiht, beschwören und übermitteln die Erinnerung an Ereignisse, die der Bewahrung wert sind, da die Gruppe in den Monumenten ihrer früheren Einheit ein Moment der Einigung sieht oder, was auf dasselbe hinausläuft, weil sie aus ihrer Vergangenheit die Bestätigungen der gegenwärtigen Einheit bezieht. Deshalb ist nichts geziemender, beruhigender und erbaulicher als ein Familienalbum. Alle persönlichen Begebenheiten, welche die individuelle Erinnerung in die Besonderheit eines Geheimnisses sperren, sind aus ihm verbannt, und die gemeinsame Vergangenheit oder, wenn man so will, der größte gemeinsame Nenner der Vergangenheit erscheint hier schon in der beinahe anmutigen Sauberkeit eines Grabmals, das treulich besucht wird.28

       Gelegenheiten der Praxis und gelegentlich betriebene Praxis

      So verdankt die photographische Praxis in ihrer allgemeinsten Variante der sozialen Funktion, mit der sie ausgestattet ist, das und nur das zu sein, was sie ist. In der Tat, ob es um ihre innere Rhythmik geht, ihr Gerät oder ihre Ästhetik, die Gebrauchsweise, der sie ihr Dasein schuldet, markiert gleichzeitig