in dem Familie Sørlie wohnte. Er sitzt auf einem Hackklotz, atmet schwer und presst die Hände auf sein Herz. Ich freue mich, denn obwohl ich erkenne, dass er schwerkrank ist, ist er zurückgekommen. Warum, ist im Traum nicht zu erkennen, er ist einfach zurückgekommen, er ist also doch nicht tot, wie ich geglaubt hatte, und das freut mich, obwohl er so krank ist. Er ist schwer wie Blei. Im Traum ist oft derjenige, der träumt, bleischwer, kann die Füße nicht bewegen, sosehr er es auch versucht, der Träumer hat das Gefühl, sich im Traum zu überanstrengen, wenn er versucht, die Füße zu bewegen, um einen Schritt zu machen, schafft es nicht, doch in diesem Traum war mein Vater schwer wie Blei, nicht ich, der Träumer, und er drohte sich zu überanstrengen beim Versuch, sich der Bleischwere zu entledigen, nicht der in seinen Füßen, sondern der in seinem Leben. Ich, der Träumer, kann leichtfüßig davonlaufen, z.B. um Hilfe für meinen kranken Vater zu holen, oder ich helfe ihm aus dem Verschlag, häufig zusammen mit einem anderen, den ich nicht zu identifizieren vermag, hinaus in den Innenhof, wo er in die Sonne blinzelt und etwas sagt; oder der andere, der Unidentifizierte, sagt es für ihn, z.B. dass er sich nicht so gut fühlt, wie er es sich wünscht, jetzt, wo er wieder hier ist. Und ich weiß, dass er uns noch einmal wegsterben wird, und doch freue ich mich, ja, ich bin glücklich darüber, dass er trotz allem hier ist. Wie alt ist derjenige im Traum, zum Zeitpunkt, als ich, sagen wir, vierzig war und das hier träumte? Elf oder vierzig? Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, jedenfalls nicht jetzt, im Moment des Schreibens, vermutlich auch nicht im Moment des Träumens. Ist der Traum unsagbar traurig? Es ist ein Traum, der einen schrecklichen Verlust zum Ausdruck bringt, aber es ist auch ein Traum, in dem ich unabhängig von meinem Alter renne, meine Beine bewegen sich wie Trommelstöcke, wie man so sagt, auf der Suche nach einer aufbauenden Nachricht, nach einem Arzt, der heilen kann, oder einer Stimme, die sagt: Er wird es schaffen. Im Traum zu hören, dass es die Hoffnung gibt, dass er es dieses Mal schafft, mit seinem schweren Atem, dem bleischweren Atem, dem schwachen, aber bleischweren Herzen und den von der Krankheit geschwollenen, aber vom Traum bleischweren Füßen, ist eine unsagbare Erleichterung. Es ist lange her, dass ich diese Träume hatte, ja, schon an jenem Oktobertag vor etwas mehr als zehn Jahren, als ich in der SAS-Maschine saß, über der Wolkendecke von Frankfurt am Main kreiste und mir vorstellte, ich befände mich im Paradies, während wir auf die Landeerlaubnis an einem der verkehrsreichsten Flughäfen Europas warteten, war es lange her, dass ich sie hatte. Doch ich weiß, dass ich solche Träume hatte, mit wenigen Variationen, in denen ich vor allem in der exakt gleichen Stimmung erwachte, egal ob ich zwölf, siebzehn, fünfundzwanzig, zweiunddreißig oder vierzig war, ja, vielleicht sogar noch älter, ein Mann mittleren Alters. Der Verlust hatte mich nicht losgelassen, er tauchte wieder und wieder im exakt selben Zustand auf, bis ich ein Mann mittleren Alters war. Doch dann hörte dieser Traum von selbst auf. Wann und weshalb, weiß ich nicht. Auch hatte ich mich nicht darüber gewundert, warum dieser Traum aus meinem Leben verschwunden war, ja, ich hatte kaum registriert, dass ich nicht länger von ihm heimgesucht wurde. Doch was ich mit als Erstes tat, als ich in der Wolkendecke über Frankfurt am Main erstmals diese Himmelsvorstellungen hatte, war, in einem dieser Engel, die meinen Himmel bevölkerten und die ich ohne Weiteres in der Anonymität hätte belassen können, die Gestalt meines Vaters zu erblicken, ich hätte mich mit den Himmelsvorstellungen von vorbeischwebenden Engeln und Posaunen auf diesen wundersamen Wolkenformationen unter mir und um mich herum begnügen können. Ich hatte sogar die Hand gehoben, zögerlich, um ihm zu winken, wie ich dort im Flugzeugrumpf saß, mich aber ebenso zögerlich umentschieden und die Hand wieder sinken lassen. Ich wurde nämlich ganz verlegen, nicht verschämt, aber ich wollte meinen inneren Frieden nicht von einer äußeren Geste entlarvt wissen, ich wollte nicht aus einem Flugzeugfenster winken für den Fall, dass es jemand sah, denn ich fand, dass es sich nicht gezieme. Aber vor meinem inneren Auge machte ich den Schritt. Ich fand es an der Zeit, selbst auszusteigen und mich auf einer Wolke nicht weit von jener, auf der mein Vater dahinsegelte, niederzulassen. Ich wage nicht, mich mit Flügeln auszustatten, bin also kein Engel, sondern nach wie vor ein irdischer Mann, aber ich befinde mich jetzt für einen kurzen Augenblick dort draußen in Gestalt des Menschen, der ich bin, einfach nur ich, sonst nichts, ohne weitere Kennzeichen, und ich bin auch nicht so taktlos, dass ich zu schildern wage, wie es sich anfühlt, die Füße auf eine Wolke zu setzen. Ich beschränke mich darauf, meine überirdische Freude zum Ausdruck zu bringen, darüber, dass ich meinen Vater nicht weit weg auf einer Wolke sitzen sehe, in Gedanken versunken, und ich schwebte auf meiner Wolke an ihm vorbei und winkte ihm aus großer Entfernung, und ich sehe, wie er kurz stutzt, als wäre er nicht sicher, was dort auf dieser Wolke vor sich geht oder wer sich darauf befindet, doch dann begreift er es, als ich in ziemlich großer Entfernung an ihm vorbeischwebe, zu groß, als dass wir uns hätten unterhalten können, vielleicht hätten wir schreien können, aber das hier war kein Ort zum Schreien, und er hob die Hand und winkte von seiner Wolke zurück, als wir aneinander vorbeiglitten.
Weiter konnten meine Himmelsvorstellungen nicht gehen. Näher werde ich meinem verstorbenen Vater niemals mehr kommen, wenn ich ihn mir in Gestalt eines Engels denke. Eigentlich bin ich schon zu weit gegangen. Ich habe eine Lücke in meinem Bewusstsein gefunden und sie genutzt oder ausgenutzt, um mir Zugang zur Ewigkeit zu verschaffen, für einen kurzen Augenblick, weil ich meinen Vater auf diese Weise wiedersehen wollte. Ohne ein Wort zu wechseln, ich wollte ihn nur dort auf seiner Wolke sehen und selbst auf einer anderen Wolke in großer Entfernung an ihm vorbeischweben. Ich hätte mich jedoch mit dem ersten und einzigen Anblick vor meinem Fenster zufriedengeben können, während ich dort im Flugzeugrumpf saß. Ich hätte nicht hinausgehen sollen, in die Ewigkeit, nicht einmal in meiner Vorstellung. Ich gebe zu, dass es mir hinterher Angst eingejagt hat, es ist mehr als zehn Jahre her, aber ich wache nachts oft auf, weil ich im Traum dem Tod einen Besuch abgestattet habe, was zweifellos daran liegt, dass ich seinerzeit eine Lücke in meinem Bewusstsein ausnutzen konnte, um einen kurzen Sprung in die Ewigkeit zu wagen. Doch als es geschah, hatte ich keine Alternativvorstellungen. Ich war so ergriffen von meinen eigenen Himmelsvorstellungen, dass ich diese Ergriffenheit mit einem Unschuldszustand verwechselt haben musste, denn alles, was ich mir vorstellte, machte mich überirdisch glücklich. Nicht allein, dass ich meinen Vater in einem Engel mit herabhängenden Flügeln und einer Posaune in den Händen, der auf einer kleinen Wolke tief unter mir saß, erkannt hatte. Es dauerte trotz allem nur eine winzige Sekunde, bevor neue Traumgesichte vor mir auftauchten und ich mich von ihnen in den Bann schlagen ließ, ohne weitere Versuche zu unternehmen, meinen Vater wiederzufinden. Doch ständig tauchten neue Wolkenformationen auf und appellierten an meine Vorstellungskraft. Alles, was ich sah, erschien mir wie ein Kirchenlied. Ich sah die geheimsten Hoffnungen der Menschheit. Ich sah Zeichen der Gnade und deutliche Bilder der Erlösung. Ich sah Engel, die ganze Zeit über sah ich Engel, Scharen von Engeln. Erneut sah ich den Löwen und das Lamm, jetzt in rosa Licht getaucht. Ich sah Fabelwesen. Den Thron und den Himmelswagen, alles, was besungen worden ist, und alles, was zu Bildern verarbeitet worden war, ich sah große allegorische Prozessionen, die sich über die luftigen Federbetten der großen Wolken bewegten, ich erkannte den Wolkenschleier, der sich in Nichts auflöste, und ich erdreistete mich, nach Gottes Thron Ausschau zu halten. Sah ich Gottes Thron? Ja, ich denke schon, ich konnte Gottes Thron und die Scharen, die drum herum versammelt waren, gut erkennen. Doch Gott selbst sah ich nicht, er war für mich nicht anwesend. Ja, ich sah Gottes Thron, obwohl er nicht leicht zu finden war, er stand ein wenig verdeckt in einem Wolkenberg, und ich hätte ihn durchaus für etwas anderes halten können, z.B. für einen Himmelswagen, Glied einer der unzähligen Prozessionen, von denen der Himmel so voll sein soll und die ich oft auf Glasmalereien und Tafeln in Kathedralen uralter europäischer Städte abgebildet gesehen hatte. Ich sah alle gemalten Bilder und alles, was gesagt war, und ich war sehr dankbar für all die Bilder, die ich gesehen hatte, und alles, was ich gelesen hatte und was unvergessen ist, wie ich weiß, obwohl ich ebenfalls weiß, dass ich keine Chance habe, Gott in meinen Himmelsvorstellungen zu entdecken, aus Gründen, die für jedermann offensichtlich sind.3 Ich befand mich in einem Flugzeug, in einer Art himmlischem Vogelkörper, und schaute hinaus. Wie lange kreisten wir schon über der Wolkendecke oberhalb von Frankfurts Flughafen? Ich weiß es nicht, ich hatte längst den Kontakt zur Zeit verloren, wie ich in Gedanken versunken dasaß und hinausschaute. Ich war so absorbiert von meinen Himmelsvorstellungen, dass mir nicht einmal aufgefallen war, dass es dunkel wurde, noch dazu in jenem Raum, der Schauplatz meiner überirdischen Vorstellungen war. Doch auf einmal durchflogen wir die kompakte Wolkendecke und waren kurz darauf auf der anderen Seite und konnten die nackte Erde