den Vater ansehen und von der Base hören wollten, wie alles geschehen sei, so daß es Rico immer wieder aufs neue hörte: Sein Vater hatte drunten im St. Gallischen an einer Eisenbahn Arbeit gehabt. Beim Steinsprengen hatte er eine tiefe Wunde in den Kopf bekommen, und da er nun doch nicht mehr arbeiten konnte, wollte er heimgehen, um sich zu pflegen, bis es besser würde. Aber die lange Reise, teils zu Fuß, teils auf offenen Fuhrwagen, hatte er nicht ertragen können, und war am Sonntag gegen Abend daheim angelangt und hatte sich auf sein Bett gelegt und war nicht wieder aufgestanden. Ohne daß ihn jemand gesehen hatte, war er verschieden, denn Rico hatte ihn schon starr ausgestreckt auf dem Bett gefunden. Am Sonntag darauf wurde der Mann begraben. Rico war der einzige Leidtragende, der dem Sarge folgte, einige gute Nachbarn hatten sich noch angeschlossen. So ging der Zug hinüber nach Sils. Dort hörte Rico, wie der Pfarrer in der Kirche laut vorlas: »Der Verstorbene hieß Enrico Trevillo und war gebürtig aus Peschiera am Gardasee.«
Da war es Rico, als höre er etwas, das er sehr gut gewußt, aber nicht mehr hatte zusammenfinden können. Immer hatte er auch den See vor sich gesehen, wenn er mit dem Vater gesungen hatte:
»Una sera
In Peschiera –«
Aber er hatte nicht gewußt, warum. Leise mußte er die Namen wiederholen, eine Menge alter Lieder stiegen damit vor seinen Augen auf.
Als er allein zurückgewandert kam, sah er die Großmutter auf dem Holzstumpf sitzen und neben ihr das Stineli. Sie winkte ihn zu sich. Dann steckte sie ihm ein Stück Birnbrot in die Tasche, wie sie vorher dem Stineli auch getan hatte, und sagte, nun sollten sie spazierengehen. Heute solle Rico nicht allein sein. Da wanderten die Kinder zusammen in den hellen Abend hinaus. Die Großmutter blieb auf ihrem Holze sitzen und schaute mitleidig dem schwarzen Büblein nach, bis sie nichts mehr von den Kindern sehen konnte. Dann sagte sie leise für sich:
»Doch was Er tut und läßt geschehn,
Das nimmt ein gutes End!«
Ricos Mutter
Auf dem Weg von Sils kam auf einen Stock gestützt der Lehrer gegangen. Er hatte an dem Begräbnis teilgenommen. Er hustete und keuchte, und als er nun bei der Großmutter angekommen war und einen »Guten Abend« geboten hatte, setzte er hinzu: »Wenn es Euch recht ist, Nachbarin, so sitz ich einen Augenblick neben Euch. Ich habe es stark im Hals und auf der Brust. Aber was kann unsereins mit bald siebzig Jahren schon sagen, wenn man solche begräbt wie den heute. Er war noch nicht fünfunddreißig und ein Mann wie ein Baum.«
Der Lehrer hatte sich neben die Großmutter niedergesetzt.
»Es gibt mir auch zu denken«, sagte diese, »daß ich, eine Alte, Fünfundsiebzigjährige, übrigbleibe und da und dort ein Junges fortmuß, von dem man denkt, es wäre noch nötig gewesen.«
»Die Alten werden auch noch zu etwas gut sein. Wo wäre sonst ein Beispiel für die Jungen?« sagte der Lehrer. »Aber was denkt Ihr, Nachbarin, was soll nun aus dem Büblein da drüben werden?«
»Ja, was soll aus dem Büblein werden?« wiederholte die Großmutter. »Das frage ich mich auch, und wenn ich nur auf die Menschen sehen wollte, so wüßte ich keine Antwort. Ja, es ist noch ein Vater im Himmel, der die verlassenen Kinder sieht. Er wird auch einen Weg für das Büblein finden.«
»Sagt mir einmal, Nachbarin, wie kam es eigentlich, daß der Italiener die Tochter von Eurer Nachbarin da drüben zur Frau bekam? Man weiß doch nie, woher solche fremden Menschen kommen und was mit ihnen ist.«
»Es ging eben, wie es geht, Nachbar. Ihr wißt ja, meine alte Bekannte, die Frau Anne-Dete, hatte alle ihre Kinder verloren und auch den Mann und lebte allein drüben im Häuschen mit dem Marie-Seppli, das ein lustiges Töchterlein war. Es mögen jetzt elf oder zwölf Jahre sein, da kam der Trevillo zuerst hierher. Er hatte Arbeit oben am Maloja und kam mit den Burschen hier herunter. Kaum hatten Marie-Seppli und er einander gesehen, so wurden sie einig, sie wollten einander haben. Und das muß man dem Trevillo nachsagen, er war nicht nur ein schöner Bursche, der jedem gefallen konnte, sondern auch ein anständiger und rechtschaffener Mensch, die Anne-Dete hatte selber ihre Freude an ihm. Sie hätte nun freilich gern gewollt, die beiden blieben bei ihr im Häuschen, und der Trevillo hätte es gern getan. Er verstand sich gut mit der Mutter, und für Marie-Seppli tat er, was es nur wollte. Er war manchmal mit ihm zum Maloja hinaufspaziert und hatte die Straße hinuntergeschaut, die man soweit sieht, wie sie ins Tal hinabgeht. Er hatte ihr erzählt, wie es unten sei, wo er daheim war. Da hatte sich das Marie-Seppli in den Kopf gesetzt, es wolle dort hinunter, und es half alles nichts, wie auch die Mutter jammerte und weinte, sie könnten da unten nicht leben. Da sagte aber der Trevillo, deswegen brauche sie keine Angst zu haben, er habe ein Gütlein und ein Häuschen unten. Er sei nur lieber ein wenig in die Welt hinausgezogen. Jetzt hatte er das Marie-Seppli gewonnen, und nach der Hochzeit wollte es auf der Stelle den Berg hinunter. Es schrieb dann der Mutter, daß es ihm gut ginge und der Trevillo der beste Mann sei.
Aber nach etwa fünf oder sechs Jahren trat eines Tages der Trevillo drüben in die Stube bei der Anne-Dete ein und hatte ein Büblein an der Hand und sagte: ›Da, Mutter, das ist noch das einzige, was ich vom Marie-Seppli habe. Sie liegt dort unten mit ihren anderen kleinen Kindern begraben. Der war ihr erstes und ihr liebstes.‹
So hat sie's mir erzählt. Dann sei er auf die Bank niedergesessen, wo er zuerst das Marie-Seppli gesehen hatte, und habe gesagt, da wolle er mit seinem Büblein nun bleiben, wenn's der Mutter recht sei, denn dort unten habe er's nicht mehr ausgehalten.
Das war nun Freud und Leid für die Anne-Dete, Der kleine Rico war vier Jahre und war ein braves, nachdenkliches Büblein, ohne Lärm und Unart. Er war ihre letzte Freude, ein Jahr danach starb sie schon, und man riet dem Trevillo, die Base der Anne-Dete für den Haushalt und das Kind zu sich zu nehmen.«
»So, so«, machte der Lehrer, als die Großmutter schwieg. »Das habe ich alles nicht so gewußt. Es kann nun sein, daß sich vielleicht Verwandte von dem Trevillo mit der Zeit melden, und man kann sie bitten, etwas für den Knaben zu tun.«
»Verwandte«, seufzte die Großmutter, »die Base ist auch eine Verwandte, von ihr bekommt er wenig gute Worte im Jahr.«
Der Lehrer stand mühsam von seinem Sitz auf. »Mit mir geht's bergab, Nachbarin«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich weiß nicht, wo meine Kräfte hingekommen sind.«
Die Großmutter ermunterte ihn und sagte, er sei ja im Vergleich zu ihr noch ein junger Mann. Sie mußte sich aber doch wundern, wie langsam er davonging.
Ein kostbares Vermächtnis und ein kostbares Vaterunser
Es kamen nun viele schöne Sommertage, und wo die Großmutter nur konnte, richtete sie es ein, daß das Stineli einen freien Augenblick bekam, aber es gab in dem Hause immer mehr zu tun. Rico stand manche Stunde auf seiner Schwelle und staunte und sah auf die Tür drüben, ob das Stineli wohl käme.
Im September, wenn die Leute oft noch vor den Häusern saßen, um sich der letzten warmen Abende zu freuen, da saß auch der Lehrer manchmal noch vor seiner Tür, aber er sah ganz abgemagert aus und keuchte immer mehr. Eines Morgens, als er aufstehen wollte, hatte er nicht mehr die Kraft und fiel wieder auf sein Kissen zurück. Da lag er denn ganz still und fing an, allerlei zu bedenken, und wie es werden würde, wenn er sterben müßte. Er hatte keine Kinder, und seine Frau war schon lange gestorben, nur eine alte Magd war noch bei ihm im Hause. Er mußte hauptsächlich nachdenken, wohin alle die Sachen kämen, die ihm gehörten, wenn er nicht mehr da wäre, und weil seine Geige gerade ihm gegenüber an der Wand hing, so sagte er zu sich: »Die müßte ich auch dalassen.« Und der Tag fiel ihm ein, als der Rico hier vor ihm gestanden und gegeigt hatte, und er hätte sie dem Büblein fast eher gegönnt als einem fernen Vetter, der vom Geigen gar nichts verstand. So dachte er, wenn er sie billig verkaufen würde, könnte sie der Rico vielleicht erstehen. Der Vater hatte ihm doch wohl etwas hinterlassen. Da fiel ihm aber ein, daß, wenn er die Geige verlassen müsse, er das Geld auch nicht mehr brauchen könne. Allein er konnte doch ein Instrument, für das er sechs harte Gulden auf den Tisch gelegt hatte, nicht nur so weggeben. So dachte er immer schärfer darüber nach, wie es zu machen wäre, daß er die Geige nicht