Benedikt Sturzenhecker

Gesellschaftliches Engagement von Benachteiligten fördern – Band 3


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      Folgt man den KoKoDe-Prinzipien, stellt man die Themen der Kinder und Jugendlichen ins Zentrum der Förderung gesellschaftlich-demokratischen Handelns durch die Einrichtung. Obwohl aus Sicht der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen genau diese Förderung politischen Handelns ihrer Adressat*innen im Zentrum stehen muss – zumindest was diesen Teil ihres Aufgabenspektrums angeht –, müssen auch die Themen der anderen Akteure und die öffentlichen Aushandlungsprozesse dazu für die Kinder und Jugendlichen zugänglich gemacht werden. Daher sind auch diese Akteursgruppen in die Förderung gesellschaftlich-demokratischen Engagements seitens der Einrichtungen einzubeziehen. Insgesamt geht es darum, die Einrichtungen (eben auch in Kooperation) mit ihren Adressat*innen in die demokratisch-politische Arena der Kommune einzubringen – auch als Mitakteure der gemeinsamen Verantwortung für die Kommune (siehe Abbildung 3).

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      Quelle: Eigene Darstellung

      Es geht somit auch darum, die Perspektive der Kinder und Jugendlichen nicht nur auf deren Themen, Interessen und Konflikte zu richten, sondern sie auch umgekehrt mit den Themen, Interessen und Konflikten des Gemeinwesens zu konfrontieren. Das bedeutet ebenfalls, sie zu unterstützen, ihre Sicht- und Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Denn gerade für Kinder und Jugendliche in benachteiligten Lebenslagen kann es sonst zu einer Einschränkung ihrer Möglichkeiten kommen, Themen zu entwickeln, die ihre Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten stark erweitern würden. Eine solche Grundhaltung und Handlungsweise kann mit Bourdieu als „Habitus der Notwendigkeit“ bezeichnet werden. El-Mafaalani (2014: 19) erklärt das so: „Untere Schichten zeichnen sich nach Bourdieu durch einen Habitus der Notwendigkeit aus, ein Habitus also, der bei der Wahrnehmung einer Situation die Funktionalität, Anwendbarkeit oder eben die Notwendigkeit in den Vordergrund stellt. Dies erscheint plausibel, da die Sozialisationsbedingungen in unteren Schichten durch Knappheit an ökonomischem Kapital (Geld, Besitz) und kulturellem Kapital (Wissen, Bildung), aber auch an sozialem Kapital (soziale Netzwerke, Anerkennung) gekennzeichnet sind und der Habitus auf ein Management dieser Knappheit ausgerichtet ist. Im Zustand höchster Knappheit muss permanent gefragt werden, ob etwas auch wirklich notwendig ist, wofür man etwas macht, ob es ‚etwas bringt‘, welcher konkrete Sinn dahintersteckt. Ein Kind, das in diesen Verhältnissen aufwächst, entwickelt eine ‚Mentalität‘, in der solche Nutzenabwägungen in allen Lebensbereichen handlungsleitend werden, unter anderem auch in der Schule.“

      Beschränkt auf solche Notwendigkeiten, haben Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Lebenslagen oft wenige Vorstellungen darüber, was außerhalb des Gegebenen für sie gut, nützlich, einforderbar wäre. Beispielsweise sind die armen Kinder in unserem Berliner Modellprojekt häufig sozialräumlich vollkommen beschränkt auf ein kleines Gebiet ihrer Stadtteile. Sie bewegen sich wenig darüber hinaus und sehen kaum, was es sonst noch in Berlin, in Deutschland oder in der Welt für sie geben könnte. Wenn man nicht auch solche Möglichkeiten an sie heranträgt und für sie erkennbar macht, bleiben sie in den Bedingungen der Notwendigkeit verhaftet. Aus der Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe, Bildungsgerechtigkeit auszuweiten und auch den benachteiligten Kindern und Jugendlichen Möglichkeiten einer breiten Weltaneignung zu eröffnen, erwächst hier zudem die Perspektive, ihre Themen und Interessen zu erweitern. Daraus können dann wiederum Inhalte für ihre eigene demokratische Selbstvertretung in der Kommune erwachsen.

      So sehr also der KoKoDe-Ansatz darauf besteht, die Themen der Kinder und Jugendlichen ins Zentrum der Förderung ihres gesellschaftlich-demokratischen Engagements zu setzen, so gilt es doch auch, dafür zu sorgen, dass diese Themen erweitert werden, ebenso wie die jungen Menschen mit den Themen, Interessen und Konflikten anderer Akteure im Gemeinwesen zu konfrontieren.

       Doch warum das alles? Begründungen für KoKoDe

      Der KoKoDe-Ansatz beruht auf konzeptionellen Annahmen zur Bedeutung von Demokratiebildung durch die Ermöglichung demokratischer Partizipation von Kindern und Jugendlichen in pädagogischen Einrichtungen und in der Kommune. Zu deren Bedeutung haben die Publikationen über die im Programm jungbewegt der Bertelsmann Stiftung entstandenen Modelle ausführliche Begründungen und methodische Anregungen geliefert: für die Offene Kinder- und Jugendarbeit im Rahmen des GEBe-Konzepts und für das Feld der Kita im Konzept „Mitentscheiden und Mithandeln in der Kita“ (Knauer, Sturzenhecker und Hansen 2011; Hansen und Knauer 2015; zur demokratischen Partizipation in pädagogischen Organisationen generell vgl. Richter et al. 2016).2 Die Begründungen und konzeptionellen Ansätze dieser Konzepte sollen hier nicht ausführlich dargestellt, doch wesentliche Begründungsstränge wenigstens in kurzen Zusammenfassungen noch einmal verdeutlicht werden:

      1. Was ist demokratische Partizipation von Kindern und Jugendlichen und warum sollte man sie in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe fördern?

      2. Warum ist demokratische Partizipation von Kindern und Jugendlichen in der Kommune zu fördern?

      3. Warum ist Kooperation von Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen wichtig zur Stärkung demokratischer Partizipation ihrer Adressat*innen in der Kommune?

       Was ist demokratische Partizipation von Kindern und Jugendlichen und warum sollte man sie in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe fördern?

      Das Konzept bezieht sich auf partizipatorische Demokratiekonzepte, für die Demokratie nicht nur ein Verfahren zur Bestimmung von Regierungen ist, sondern Mitsprache und Mitbestimmung der Bürger*innen beinhaltet, ebenso wie deren Beteiligung an Entscheidungen in den gesellschaftlichen Handlungsfeldern und Institutionen. Demokratie ist mit Dewey (1916/1985) nicht nur eine Regierungsform, sondern auch eine Lebensform, deren Prinzipien für die gemeinsame Regelung der Fragen des Zusammenlebens in Kraft sind. In ihrem symbolischen Kern (Richter et al. 2016) geht es bei Demokratie darum, dass die Mitglieder von Entscheidungsgemeinschaften gleichberechtigten Zugang und gleichrangige Teilnahme an Verhandlungen und Entscheidungen haben, und zwar zu Frage- oder Problemstellungen der kooperativen Lebensführung. Wer von Entscheidungen und ihren Folgen betroffen ist, hat auch das Recht, dabei mitzubestimmen, aber auch die Pflicht, Entscheidungen zu respektieren, mithandelnd umzusetzen und die Folgen zu verantworten. Habermas (1981) formuliert das demokratische Prinzip als die Einheit von „Urhebern und Adressaten“ gemeinsamer Entscheidungen. Demokratie ist ein Versuch, alle (das Volk, altgriechisch: „demos“) gleichberechtigt an der Ausübung der Herrschaft (altgriechisch: „kratia“) zu beteiligen (vgl. zu den folgenden Argumenten auch Knauer, Sturzenhecker und Hansen 2016).

      Überträgt man die Idee der Demokratie auf sozialpädagogische Einrichtungen, stellt sich dort die Machtfrage. In (sozial)pädagogischen Einrichtungen besteht zunächst keine Gleichrangigkeit der beteiligten erwachsenen Fachkräfte mit den Kindern/Jugendlichen. Stattdessen ist Erziehung immer von asymmetrischen Machtverhältnissen gekennzeichnet. Fachkräfte verfügen über viele Machtpotenziale: bei jüngeren Kindern besonders über körperliche Überlegenheitsmacht, aber auch insgesamt über Handlungs- oder Gestaltungsmacht, Verfügungsmacht, Definitions- oder Deutungsmacht, Mobilisierungsmacht usw. (Knauer, Sturzenhecker und Hansen 2011: 28 ff.).

      Kinder brauchen Sorge, Schutz und Erziehung durch Erwachsene; sie sind darauf angewiesen, dass Erwachsene ihre Macht nutzen, um die Rahmenbedingungen gelingenden Aufwachsens herzustellen und zu sichern und Kinder angemessen in die gesellschaftlichen Handlungsweisen einzuführen, also Erziehung zu gewährleisten. Allerdings besteht damit auch immer das Risiko, dass die so auf die Erwachsenen Angewiesenen zu Objekten erzieherischer Macht werden. Die Geschichte der Erziehung zeigt bis heute, wie sehr diese Machtungleichheit zu Objektivierung, Machtmissbrauch, Grausamkeit und Unterdrückung führen kann. Will man solchen Machtmissbrauch verhindern, geht das nicht einfach dadurch, dass diese strukturelle Ungleichheit zwischen Erziehenden und Kindern verleugnet wird. Solche Versuche der Vertuschung von Machtverhältnissen führen eher zu