Zygmunt Bauman

Europa


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Götter, die sich damals auf den entgegengesetzten Seiten der Frontlinie verschanzt hatten, seine oder ihre Untertanen glauben sollten – und im Namen welchen Gottes sie den Entscheidungen ihrer Herrscher gehorchen sollten. Aufgrund dieser Vollmacht sollte die Formel die Idee territorialer Souveränität inthronisieren: die Idee der innerhalb der Grenzen seines Reichs bindenden und unbestrittenen Rechte des Herrschers. In der Tat bedeutete die Souveränität dieser Formel, wie sie von Macchiavelli, Luther, Jean Bodin (in seiner 21 Jahre nach dem Vertrag von Augsburg veröffentlichten, außer-gewöhnlich einflussreichen Schrift De la Republique) oder Hobbes geltend gemacht wurde, das volle, uneingeschränkte Recht der Könige oder Fürsten, Gesetze zu verkünden und auszuführen, die für jeden bindend waren, der gerade das Territorium unter ihrer Herrschaft bewohnte (verschieden bezeichnet als Vorherrschaft, Oberhoheit oder Dominanz). Souveränität bedeutete höchste – durch äußeres Eingreifen uneingeschränkte und unteilbare – Autorität innerhalb eines Territoriums. Wie Macchiavelli argumentierte, und alle ihres Namens würdigen Politiker seitdem wiederholen sollten, bestand die einzige Verpflichtung des Fürsten in der raison d’état, – wobei sich état unweigerlich auf die in ihre Grenzen eingeschlossenen territorialen Gebilde bezog. Wie es die Stanford Encyclopedia of Philosophy ausdrückt: „Souveräne Autorität wird innerhalb der Grenzen ausgeübt, aber per definitionem auch mit Blick auf andere, die in die Regierung des Souveräns nicht eingreifen dürfen“ – wo mit „andere“ offensichtlich ebenfalls territorial fixierte Autoritäten gemeint sind, obgleich sie jenseits der Grenzen lokalisiert sind. Jeder Versuch, sich in die Ordnung der Dinge einzumischen, die vom Souverän auf dem Territorium seiner eigenen Herrschaft eingerichtet war, wurde dadurch als illegal, verdammungswürdig, als casus belli proklamiert; die Augsburger Formel kann als Gründungsakt des modernen Phänomens der staatlichen Souveränität gelesen werden – ebenso wie sie mit Recht als textliche Quelle des modernen Begriffs von Staatsgrenzen gelesen wird.

      Und so verband sich mit dem Westfälischen Frieden noch ein selbstverständlicher, wenn auch nicht ausdrücklich formulierter Nebeneffekt: Statt sich in einen endlosen Krieg bis zur (gegenseitigen) Erschöpfung zu verwickeln, sollten Souveräne von jetzt an in einer solidarischen Verteidigung des unbestrittenen und unverletzlichen Prinzips der unbedingten Autorität vereint sein – unteilbar und unumstritten in ihrer territorialen Begrenzung.

      Einmal der Praxis des Regierens einverleibt, erwies sich die Formel des Westfälischen Friedens als in einzigartiger Weise geeignet, die Bühne für das Nationenbildungs-Kapitel in der europäischen Geschichte vorzubereiten: Es bedurfte nur der Ersetzung von „religio“ durch „natio“ (eine rein terminologische Änderung, keine inhaltliche Operation), um sie als universales Ordnungsprinzip in dem langwierigen und dornigen Prozess der Europa-begeisterten und durch Europas Macht unterstützten Transformation der Welt zu entfalten. Diese Macht war unter den Sprösslingen der göttlich gesalbten Dynastien in einer Welt aufgeteilt, die in Staaten zerschnitten war, die ihre Legitimation und ebenso ihren Anspruch auf den Gehorsam ihrer Untertanen (das heißt der Bevölkerung, die innerhalb ihrer Grenzen durch den retrospektiv postulierten gemeinsamen Ursprung und jetzt ebenso durch die vom Staat unterstützte Gemeinsamkeit der Zukunft in eine einzige Nation integriert war) auf „nationales Interesse“ gründete. („Heutzutage“, konstatiert Benjamin Barber in seiner grundlegenden Studie unter dem provokativen Titel Wenn Bürgermeister die Welt regierten: Dysfunktionale Nationen, aufstrebende Städte, „nach einer langen Geschichte regionaler Erfolge, scheitert der Nationalstaat in globalem Maßstab. Er war das vollkommene politische Rezept für die Freiheit und Unabhängigkeit autonomer Völker und Nationen. Er ist äußerst ungeeignet für eine wechselseitige Abhängigkeit.“)

      Die vom Westfälischen Frieden vorausgesetzte Idee territorialer Grenzen ist in der Folge, zusammen mit dem später hinzugefügten Nachtrag der natürlichen und/oder gottgesegneten Verbindung von Nation und Staat, von europäischen Konquistadoren in den Rest der Welt exportiert worden, nachdem sie in der Episode des europäischen Kolonialismus entfaltet und auf die überseeischen Außenposten der entstehenden und aufstrebenden Europa-zentrierten Reiche angewendet wurde wie ursprünglich auf ihre europäischen Metropolen. Als bleibende Spur des europäischen kolonialistischen Abenteuers bleibt die westfälische Formulierung in ihrer säkularisierten, gleichwohl in einigen Fällen auch ursprünglichen Fassung in unserer postkolonialen Ära in der Theorie, wenn nicht in der Feldpraxis ein unverletzliches, universal bindendes und selten, wenn überhaupt je explizit bestrittenes Organisationsprinzip des menschlichen Zusammenlebens auf der Erde.

      Der Haken dabei ist, dass sie auch kontrafaktisch ist, und zwar in steigendem Maße – da ihre Prämissen illusorisch, ihre Postulate unrealistisch und ihre pragmatischen Empfehlungen unerfüllbar sind. Im Verlauf des letzten halben Jahrhunderts haben die Prozesse der Deregulierung, entstanden, gefördert und überwacht durch staatliche Regierungen, die sich freiwillig oder gezwungen der sogenannten „neoliberalen“ Revolution“ angeschlossen haben, zu einer wachsenden Trennung und steigenden Wahrscheinlichkeit einer Trennung von Macht (das heißt, der Fähigkeit, Dinge durchzusetzen) und Politik (das heißt, der Fähigkeit zu entscheiden, welche Dinge durchgesetzt werden müssen und sollen) geführt. Viele der Kräfte, die früher in den Grenzen des Nationalstaates zusammengehalten waren, haben sich in Luft aufgelöst und sind in das Niemandsland des „Raumes der Ströme“ geflohen (wie Manuel Castell die politikfreien Weiten getauft hat), wohingegen die Politik wie zuvor territorial fixiert und beschränkt geblieben ist. Dieser Prozess hat alle Merkmale einer sich selbst antreibenden und sich selbst intensivierenden Tendenz. Ernsthaft der Macht beraubt und immer schwächer werdend, sind Regierungen gezwungen, Schritt für Schritt die Funktionen, die einstmals als natürliches und unveräußerliches Monopol der politischen Staatsorgane angesehen wurden, in die Obhut bereits „deregulierter“ Marktkräfte zu geben, wodurch sie sie aus dem Reich politischer Verantwortlichkeit und Überwachung vertreiben. Dies hat einen schnellen Niedergang des öffentlichen Vertrauens in die Fähigkeit der Regierungen zur Folge, effektiv mit den Bedrohungen der existenziellen Lage ihrer Bürger umzugehen. Die Bürger glauben immer weniger, dass die Regierungen fähig sind, ihre Versprechen zu erfüllen.

      Sie haben nicht ganz unrecht. Eine der stillschweigenden, gleichwohl entscheidenden Annahmen, die dem Vertrauen in die Wirksamkeit der parlamentarischen Demokratie zugrunde liegen, ist die, dass die Bürger in Wahlen entscheiden, wer in den nächsten paar Jahren das Land regieren und wessen Politik die gewählte Regierung umzusetzen versuchen wird. Der jüngste Zusammenbruch der kreditbasierten Ökonomie hat diesen Sachverhalt krass sichtbar werden lassen. So hat John Gray, einer der klarsichtigsten Analytiker der Wurzeln der gegenwärtigen weltweiten Instabilität, im Vorwort zur Neuauflage (2009) seines Buches False Dawn: The Delusions of Global Capitalism beobachtet, als es sich fragte, warum es dem jüngsten ökonomischen Zusammenbruch nicht gelungen ist, die internationale Zusammenarbeit zu verstärken, sondern er stattdessen zentrifugale Zwänge freigesetzt hat, „dass die Regierungen zu den Opfern der Krise gehören und die Logik ihrer Handlungen, ihre Bürger zu schützen, größere Unsicherheit von allen“ bedeutet. Und das ist deshalb so, weil „die schlimmsten Bedrohungen der Menschheit ihrer Natur nach global sind“, während „es keinerlei Aussicht gibt, dass irgendeine effektive globale Regierung mit ihnen fertig wird.“

      Tatsächlich sind unsere Probleme global erzeugt, während die Instrumente des politischen Handelns, die uns von den Erbauern der Nationalstaaten vermacht worden sind, auf das Maß von Dienstleistungen zugeschnitten sind, die territoriale Nationalstaaten erforderten. Sie erweisen sich deshalb als in einzigartiger Weise ungeeignet, wenn es darum geht, mit globalen Herausforderungen fertig zu werden. Für uns, die wir weiterhin im Schatten des Anspruchs auf staatliche territoriale Souveränität leben, sind sie gleichwohl die einzigen Instrumente, die wir uns vorstellen können und bei denen wir im Augenblick der Krise Zuflucht zu suchen geneigt sind, trotz ihrer krassen Unzulänglichkeit, territoriale Souveränität zu sichern, die Bedingung sine qua non der praktischen Lebensfähigkeit jenes Friedens. Das weithin beobachtete und voraussagbare Ergebnis ist die Frustration, die dadurch verursacht und durch die wechselseitige Unzulänglichkeit der Mittel für die Ziele zwangsläufig genährt wird.

      Kurz gesagt: Unsere gegenwärtige Krise ist zunächst und vor allem eine Krise des Handelns – obgleich sie in letzter Instanz eine Krise der