das sein?«, schimpfte sie und ging hinter dem Schreibtisch auf Tauchstation.
»Hallo, ist jemand da?«
Andreas Herz setzte einen Schlag aus. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Mit hochrotem Kopf und verwuschelter Haarpracht tauchte sie wieder aus der Versenkung auf. Eine Strähne kitzelte sie im Mundwinkel. Sie wischte sie weg. Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie die Brille nicht aufhatte. Hektisch tastete sie danach. Ein unsinniges Unterfangen in dem Chaos, das auf ihrem Schreibtisch herrschte. »Herr Kremling. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich wollte mein Versprechen wahr machen und Ihnen auch heute wieder sagen, dass Sie die schönste Frau weit und breit sind.« Er beugte sich über ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. »Die Wespen haben vielleicht Ihr Gesicht verunstaltet. Ihrer Ausstrahlung konnten Sie aber nichts anhaben.«
Am liebsten hätte sich Andrea Sander in Luft aufgelöst. Hätte sie Clemens nicht mit eigenen Augen in den Armen dieses Kükens gesehen, dann hätte sie ihm vielleicht geglaubt. Aber so …? Sie zog die Hand weg, setzte die Brille auf, die plötzlich unschuldig im Ablagekasten lag, und holte tief Luft.
»Was sagt eigentlich Ihre junge Freundin dazu, dass Sie mir solche Komplimente machen?«
Clemens stutzte.
»Ich bin vielleicht nicht mehr der Jüngste. Aber verkalkt bin ich noch nicht. Also heraus mit der Sprache. Welche junge Freundin meinen Sie?«
Schon bereute Andrea Sander, das Thema überhaupt angeschnitten zu haben. Aber wie hieß es so schön: Wer A sagt, muss auch B sagen.
»Die hübsche Latina, die Sie gestern auf der Straße fast aufgefressen hat.«
Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als Clemens Kremling den Kopf in den Nacken warf und lachte, dass die Wände wackelten. Er hörte erst auf, als er Andreas Entsetzen bemerkte.
»Bitte verzeihen Sie mir. Ich lache nicht über Sie. Aber wenn ich das Elvira erzähle …« Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Sie ist meine Nichte.«
»Aber … aber …«
»Die Hautfarbe, ich weiß. Meine Schwester Clara hatte schon immer ein Faible für Südamerika. Sie schwört, in einem früheren Leben dort zu Hause gewesen zu sein.« Er hob die Hände. »Für mich ist das Hokuspokus. Für Clara eine Wahrheit. Deshalb ist sie schon mit 18 Jahren nach Brasilien gegangen und hat dort geheiratet. Elvira ist ihre einzige Tochter und regelmäßig bei ihrem alten Onkel zu Gast. Wissen Sie, ich habe selbst keine Kinder. Die Kleine ist mein Augenstern.«
Andrea sank auf den Schreibtischstuhl. Das alles war zuviel für sie.
»Und ich dachte …« Mitten im Satz brach sie ab.
»Es ehrt mich, dass Sie mich offenbar für so attraktiv halten. Aber ehrlich gesagt bin ich anders als viele meiner Geschlechtsgenossen.« Clemens schüttelte den Kopf. »In meinen Augen sind diese jungen Dinger noch keine Frauen. Sie haben kaum Lebenserfahrung und außer einem schönen Körper und makelloser Haut nicht viel zu bieten. Worüber sollte ich mich mit ihnen unterhalten? Umgekehrt gilt das natürlich auch. Was kann ich einem jungen Mädchen bieten? Ich habe keine Lust mehr, nächtelang durch irgendwelche Clubs zu ziehen. Laute Musik ist mir ein Gräuel. Ich hasse Einkaufen und gehe stattdessen viel lieber wandern. Apropos Natur.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Ich liebe natürliche Menschen. Heutzutage weiß man doch nicht mehr, was an diesen jungen Frauen noch echt ist. Ganz im Gegensatz zu Ihnen.« Im Normalfall hätte sein Lächeln einen Sturm der Gefühle in Andrea entfesselt. Doch sein letzter Satz hatte alles zerstört. Sie biss sich auf die Lippe und senkte den Kopf. Ein Glück, dass in diesem Augenblick das Telefon klingelte. Es bewahrte sie vor einer Antwort, die sie auf keinen Fall geben wollte.
*
Seite an Seite mit Mia Paulsen wanderte Dr. Norden durch den Klinikgarten. Ein weiteres Treffen war nötig gewesen, um Andrea Sanders Operation zu besprechen. Das Laub raschelte unter ihren Füßen. Die ehemals kleinen Bäume und Sträucher waren längst erwachsen geworden und reckten ihre Zweige in den weiß-blauen Himmel. Im Sommer boten sie zuverlässigen Schutz vor neugierigen Blicken. Doch das fallende Laub hatte große Lücken ins Blätterdach gerissen. Hier und da entdeckte Daniel Norden neugierige Gesichter an den Fenstern. Köpfe, die tuschelnd zusammengesteckt wurden. Sie störten ihn nicht. Er hatte wahrlich Besseres zu tun, als sich gegen die heftig brodelnde Gerüchteküche zu wehren.
»Wahrscheinlich ist Frau Sanders Immunsystem verantwortlich für das verheerende Ergebnis der Faltenunterspritzung«, erklärte er und bückte sich nach einem bunt gefärbtem Blatt. Mia Paulsen lächelte milde, als wäre er nicht ganz bei Trost.
»Sieh mal einer an. Ein Naturliebhaber«, spottete sie. Ehe Daniel antworten konnte, fuhr sie fort. »Das deckt sich mit unseren Untersuchungen. Aber es bleibt natürlich ein Unsicherheitsfaktor.«
»Und genau der macht einen operativen Eingriff zu einem Risiko.« Der Kies knirschte unter ihren Schritten.
»Wissen Sie, was ich vor riskanten Operationen immer mache?«
»Sagen Sie es mir.« Daniel gab vor, ihren Blick nicht bemerkt zu haben.
»Ich gehe mit guten Freunden zum Essen. Das entspannt und lenkt zumindest ein paar Stunden lang von den Problemen ab.«
Nicht schon wieder! Innerlich verdrehte Daniel die Augen.
»Ist das eine Einladung?«
Mia blieb stehen und drehte sich zu ihm um.
»Diesmal ist es kein Arbeitsessen. Wir sprechen nicht über den Beruf, studieren keine Akten. Und die Rechnung wird nicht geteilt. Na, wie klingt das?«
Einen Moment lang fürchtete Daniel, sie würde ihm einen Fussel vom Kittel schnipsen, wie Ehefrauen es gern taten. Glücklicherweise verzichtete sie darauf. Gelegenheit für ihn, die passenden Worte anzubringen, die er sich zurechtgelegt hatte.
»Mia, Sie sind doch eine intelligente Frau. Warum wollen Sie nicht verstehen, dass ich ein glücklich verheirateter Mann bin. Sie beißen sich an mir die Zähne aus.«
Mit jedem Wort wurde ihre Miene finsterer, bis sie schließlich so unheilverkündend war wie die Wolken, die sich unbemerkt am Horizont aufgetürmt hatten.
Sie stand vor ihm und ballte die Hände zu Fäusten. Ihre Augen schossen wütende Blitze.
»So etwas hat noch kein Mann gewagt«, zischte sie. »Das wird Ihnen noch leid tun.« Ein letzter Blick, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte über den Kies davon. Unterwegs knickte sie um, wäre um ein Haar gestürzt und rappelte sich erst im letzten Moment wieder hoch. Doch da war Daniel Norden schon in einem der Seiteneingänge verschwunden.
*
»Haben Sie das gesehen?«, feixte Dr. Lammers, der noch immer am Fenster stand und in den Klinikgarten hinabsah. »Da hat sich unser Chef doch glatt eine Abfuhr eingehandelt.«
»Haben Sie was auf den Augen?«, fragte die Notärztin Christine Lekutat, die kurz zuvor zufällig des Weges gekommen war. »Es ist doch klar wie Kloßbrühe, dass der Chef ihr einen Korb gegeben hat.«
»Das sehe ich genauso!«, stimmte Dr. Klaiber zu, der die Kollegin begleitete. »Sonst wäre sie nicht weggelaufen wie ein aufgescheuchtes Huhn.« Er nahm Lammers ins Visier. »Überhaupt verstehe ich gar nicht, was Sie an dieser Geschichte so fasziniert. Sie sind ja schlimmer als die beiden Lästerschwestern zusammen. Sind Sie etwa eifersüchtig auf den Chef?«
Lammers ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte er dem Kollegen das süffisante Lächeln auf dem Gesicht geschlagen.
»Ich versuche lediglich, die Ehre und den guten Ruf der Klinik zu retten«, erwiderte er zähneknirschend.
Christine Lekutat prustete los.
»Ehre? Seit wann verstehen Sie denn etwas von Ehre?« Immer noch kichernd packte sie Dr. Klaiber am Arm und zog ihn mit sich.
Volker Lammers starrte den beiden nach. Als sie um die Ecke verschwunden waren, holte er aus und