Leo Lukas

Mörder-Quoten


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immer tiefer, in die leere Dunkelheit.

       DONNERSTAG

      „Der Oane kränkt si z’Tod.

      Dar Aundre schind’t si wund.

      Wer amol herzkraunk is,

       Wird neamma gsund.“

      (Kern Buam, „Der Weltverdruss“)

      Kürbisschaumsuppe

      *

      Gefülltes Brathendl mit Risipisi

      o d e r

      Käferbohnengulasch mit Polentaschnitte

       *

      Gebackene Holunderblüten Vanilleeis mit Kernöl

       1

      Es gibt schon Zufälle, da glaubt man nicht mehr an Zufall.

      Ich meine, wie hoch ist die Chance, dass die Kundin, die einen Karibikurlaub gewinnt, justament das „Gspusi“ des Filialleiters ist? Oder dass der Verteidiger, der in der 89. Minute ein Eigentor schießt, niemanden kennt, der einen Haufen Geld auf Unentschieden gewettet hat?

      Eben. Manchmal muss man halt ein bisserl nachhelfen.

      Obwohl das Schicksal auch ganz allein Kapriolen schlagen kann, frage nicht. Nehmen Sie den Bravo und mich. Eine Paarung, sehr viel unwahrscheinlicher geht’s kaum. Zwei verschiedene Welten, fast ohne Berührungspunkte.

      Unter uns: Wäre es dabei geblieben, würde ich mich auch nicht beschweren.

      Da kann man schon ins Philosophieren kommen. War es irgendwie vorherbestimmt, dass ich den Bravo getroffen habe? Hat uns die Vorsehung zusammengespannt, oder gar ein höheres Wesen?

      „Der Mensch denkt, und Gott lenkt“ … Angenommen, das stimmt; dann wäre ich vehement dafür, dem Herrn die Lenkerberechtigung zu entziehen. Weil ganz auf der Höhe kann er nicht gewesen sein, als er sich das ausgedacht hat.

      Gut, eine gewisse Mitschuld streite ich nicht ab. Mein lockeres Mundwerk, wieder mal. Ich hätte mir einfach auf die Zunge beißen sollen, und nichts wäre passiert. Bis heute wüsste ich nicht, dass jemand wie der Bravo überhaupt existiert.

      Aber der Reihe nach.

      Ich war in Graz, wegen eines Sprecherjobs. Mein südsteirischer Akzent ist zwar nach mehr als 20 Jahren in Wien weitgehend abgeklungen, lässt sich aber relativ überzeugend wiederbeleben. Manche Werbeagenturen buchen mich, wenn sie verbalakustisches Lokalkolorit brauchen.

      Außerdem fand am Abend die Geburtstagsfeier einer ehemaligen Geliebten statt. Unsere Affäre liegt einige Jahre zurück und dauerte nur wenige Wochen. Falls die Erinnerung mich nicht trügt, exakt, bis ich draufkam, dass die Dame mich hauptsächlich dazu benutzte, ihren Ehegatten eifersüchtig zu machen. Gleichwohl lädt sie mich alle Jahre wieder zur Party ein, obwohl wir sonst keinen Kontakt mehr haben. Jetzt werden Sie nicht ganz unberechtigt fragen, warum ich dann trotzdem hinfahre.

      Ja, sehen Sie, mit der Zeit habe ich den Gatten schätzen gelernt. Wir teilten, stellten wir fest, weit mehr gemeinsame Interessen und Vorlieben als bloß seine Gemahlin. Deren Geburtstags-Gelage sind außerdem echt vom Feinsten, und zu später Stunde, wenn sich die übrigen Gäste getrollt haben, fachsimpeln Bernhard und ich genüsslich über diverse Ballsportarten. Öfter als einmal jährlich brauche ich das auch nicht, aber in dieser Frequenz passt’s.

      Ich schlief im ehemaligen Kinder- und nunmehrigen Gästezimmer. Tags darauf brunchten wir zu dritt, wie eine sehr in die Jahre gekommene Römerquelle-Werbung. Dann nutzte ich die Gelegenheit, um einen anderen alten Bekannten zu besuchen.

      Gustav Guthmann, genannt „Gugu“, war einer meiner besten Kumpels im Gymnasium gewesen. In der sechsten Klasse war er sitzengeblieben, wie übrigens fast alle Banknachbarn von mir, wegen meines ständigen Geblödels. Unserer Freundschaft tat das keinen Abbruch. Während des Studiums teilten wir für einige Jahre eine Wohnung und manche Freizeitaktivität, insbesondere amouröse Abendgestaltungen mit Vertreterinnen des anderen Geschlechts. Nachdem ich nach Wien gezogen war, verloren wir einander allmählich aus den Augen. Gugu legte eine beachtliche Karriere als Psychiater und Psychotherapeut hin, sich ein hübsches Häuschen am Stadtrand zu und den alten Spitznamen ab. Bald waren wir froh, wenn wir uns mehr als einmal im Jahr sahen. Schade eigentlich, aber so spielt das Leben.

      Die Praxis lag im Geidorfviertel. Ich hatte mich für späten Vormittag angekündigt, ohne einen genauen Zeitpunkt zu vereinbaren; wollte ja nur kurz vorbeischauen und Gugu, pardon: Gustav, ein Buch übergeben, um das er mich gebeten hatte, einen Sammelband mit einem Beitrag von mir. Wenn irgend möglich, erledige ich so etwas persönlich. Außerdem steht man sich auf der Post die Füße in den Bauch, seit sie eine Filiale nach der anderen aufgelassen haben.

      Jedenfalls, das schmucke Gründerzeit-Haus war eine typische Ärzteburg: im Erdgeschoß Orthopädie, erster Stock Uro- und Gynäkologie, zweiter Stock Interne und Augen; ab dem dritten Stock die Psycho-Abteilung, insgesamt vier Therapeuten und Therapeutinnen.

      „Professor Guthmann kommt in wenigen Minuten“, sagte die Empfangsdame, sobald sie meinen Namen auf der Liste gefunden hatte. Das kurz geschnittene, weißblond gefärbte Haar kontrastierte reizvoll mit der dunklen Haut. Früher hätten Gugu und ich einer solchen Schönheit um die Wette den Hof gemacht. Was mittlerweile, aufgrund des Altersunterschieds, außer peinlich nur peinlich gewesen wäre. „Wenn Sie bitte so lange im Wartezimmer Platz nehmen.“

      „Sein Zimmer ist …?“

      „Nummer zwo.“

      „Ah ja. Was hat die Koryphäe auf Nummer eins für einen Titel?“

      „Dort ordiniert Primaria Orecchietti.“

      Ich verkniff mir einen Scherz über ohrenförmige Nudeln. Die letzte Antwort hatte ohnehin schon etwas spitz geklungen. Wie so oft, sah ich mich dem Dilemma gegenüber, dass ich nicht wusste, ob sie wusste, wer beziehungsweise was ich war. Von uns professionellen Komikern wird nämlich erwartet, dass wir entweder jederzeit wahnsinnig originelle Witze reißen oder aber privat wortkarge, melancholische, schwer depressive Trantüten sind. Außerdem kennen mehr Leute meine Stimme als mein Gesicht. „Ich bin’s dein Geschirrspüler …“ und so weiter.

      Während ich wartete, fiel mir ein, dass Gugu, als man noch Gugu zu ihm sagen durfte, bei meiner zweiten Hochzeit als Beistand fungiert hatte. Damals hatte ich die rituelle Frage „Wollen Sie, Herr Peter Szily, Frau Nora Irgolic-Milenkova zur Frau nehmen?“ verneint, zur nicht gelinden Überraschung sämtlicher Anwesender. Der Grund war gewesen, dass die Standesbeamtin zwei der drei Nachnamen falsch ausgesprochen hatte und ich einen Schreibfehler in den Dokumenten befürchtete. Mit derlei hatte ich reichlich leidvolle Erfahrungen gemacht. Wer ebenfalls ähnlich wie ein Würzkraut heißt, weiß, wovon ich rede. Gugu und die Beiständin meiner zukünftigen Ex brachen in haltloses Kichern aus. „Wir sind hier nicht im Comedyclub!“, fauchte die Standesbeamtin erbost. Das Missverständnis konnte rasch bereinigt werden. Gleichwohl stand die Ehe unter keinem guten Stern, aber das ist eine andere Geschichte.

      Wo war ich? Richtig, im Wartezimmer. Es gab nur uralte, zerfledderte Ausgaben von Psychologie heute sowie das übliche Ecktischchen mit grindigem Kinderspielzeug, auf dem sich mehr Bakterienkulturen tummelten als in den Labors der Geschoße unter uns. Längst waren zehn Minuten verstrichen. Mir wurde langweilig. Zudem hatte ich geplant, den Zug um 12.26 Uhr zu nehmen, und Mittag war nicht mehr weit. Deshalb beschloss ich, das Buch mit einer flotten Widmung zu versehen und im Zimmer meines Freundes zu deponieren.

      Ich malte also schwungvoll: „Für Professor Doktordoktor Gugu Guthmann, den alten Synapsenschlosser!“ – Spaß muss sein – und begab mich in Zimmer Nummer 2. Die Einrichtung entsprach haargenau den Vorstellungen, die man sich von Psychotherapeuten macht: Bücherwand voller dicker Wälzer, mächtiger Schreibtisch, zwei Polstersessel, Sigmund-Freud-Memorial-Couch,