tagtäglich praktiziert, nie in Zweifel ziehen muss! Wie herrlich, wenn ein Weg keine Abzweigungen, Umleitungen oder Alternativwege kennt! Sie stellen das Navigationsgerät ihres Berufslebens auf einen Ort ein und ein Weg erscheint vor Ihnen auf dem kleinen Monitor, welcher Ihnen dann auch noch mit freundlicher Stimme vorgesagt wird. Herrlich, oder?
Dabei fällt mir eine liebe Freundin ein, die vornehmlich im Frühjahr und Herbst über eine verstopfte Nase und juckende Augen klagte. Die Beschwerden waren nicht dramatisch, aber doch lästig. Und so wollte sie wissen, ob eine Allergie dahintersteckte. Sie ist daher in ein Allergieambulatorium gegangen und der zuständige Arzt hat sie mit Haut- und Bluttests auf allerlei Allergene getestet. Nachdem sämtliche Ergebnisse vorlagen, traf sie den Arzt zu einem Gespräch. «Also, die Untersuchungen haben ergeben, dass Sie nichts haben. Sie sind völlig gesund», sprach der Arzt. «Aber meine Beschwerden? Die volle Nase, die juckenden Augen?», so meine Freundin. Und der Arzt fasste es so zusammen: «Sie können keine volle Nase haben und Ihre Augen können nicht jucken! Da ist nichts! Sie sind gesund!» Und so entließ er sie, mürrisch, weil sie seine Zeit vergeudete.
So erlebe ich es in der Schulmedizin leider immer wieder. Wenn Ihre Symptome nicht in die schulmedizinische Wirklichkeit passen, existieren sie dort nicht. Im freundlichsten Falle wird man dann vielleicht noch zum Psychologen oder Psychiater geschickt, weil die Erkrankung ja wohl «psychisch» oder «eingebildet» sein muss, oder man bekommt den Vorwurf zu spüren, dass man simuliere, weil man sich soziale und damit ökonomische Vorteile erhoffe.
Der Untersucher und dessen Methode wird zumeist nicht hinterfragt. Um beim Beispiel der vollen Nase meiner Freundin zu bleiben, wäre es ja möglich, dass sie auf etwas reagiert, auf das sie nicht getestet wurde, oder dass eine «Idiosynkrasie» vorliegt, also eine Imitation der Allergiesymptome. Vielleicht wurden die Beschwerden auch durch Allergene getriggert, ohne nachweisliche Allergenreaktionen auf Haut und im Blut. Es könnte sich auch um etwas anderes handeln, zum Beispiel um eine lokale Gefäßmissbildung in der Nase mit überschießender Kontraktionsreaktion auf Wind oder was auch immer. «Ich kann nichts nachweisen, also existiert es nicht» ist der falsche Ansatz. «Ich kann nichts nachweisen, also muss ich weitersuchen» wäre wohl die korrekte Reaktion. «Ich kann nichts nachweisen, also muss ich noch viel lernen», das wäre wohl der zielführende Ansatz, um weiterzulernen.
Und so möchte ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der westlichen Medizin (zumal ich weiß, dass die meisten Patientinnen und Patienten mir vertrauen und ich mir hoffentlich ihr Vertrauen verdiene), ein einfaches Beispiel beschreiben, wie wir chinesisch mit unserem Diagnosesystem zu einer korrekten Therapie kommen.
Basis unserer Diagnostik ist, neben dem Gespräch mit dem Patienten und dem sorgfältigen Beobachten seines Verhaltens und seines Körpers, das Ertasten des Pulses, zumeist in der Position der Arteria radialis beidseits, der Unterarmarterie auf Höhe des Handgelenks, und das Betrachten der Zunge. Der Einfachheit halber betrachten wir hier einmal nur die Zunge.
Stellen Sie sich einen chinesischen Arzt zur Zeit von Konfuzius, also etwa 500 vor Christus unserer Zeitrechnung, im alten China vor. Unser Arzt lebt in einem ländlichen Dorf, abgeschieden von großen Städten, in denen wohl die weisen bekannten Ärzte der Zeit leben. Unser Arzt ist jung und seine Erfahrung gering. Eines Tages kommt sein erster Patient zu ihm, ein Dorfbewohner, der über starke Bauchschmerzen und Durchfälle klagt. Also greift unser Arzt ihm auf den Bauch, der stark aufgebläht und überall schmerzhaft ist, und lässt sich auch den Stuhl zeigen, der säuerlich riecht und Unverdautes zeigt. Und er sieht sich die Zunge an.
Er greift dann noch auf die Stirn, kein Fieber, schließt anamnestisch noch eine Vergiftung aus und geht mit dem Dorfbewohner im Geiste noch all das durch, was dieser in den letzten Tagen getan und gegessen hat. Unser Arzt verordnet seinem Patienten strenge Diät, ein paar Kräuter, welche die Verdauung anregen und viel Ruhe, da er sich offensichtlich am Felde vollkommen überarbeitet hat. Nach einer Woche kommt der Dorfbewohner wieder, berichtet, wie gut es ihm geht und zeigt seine Zunge:
Und so lernt unser Arzt über die Jahre, dass man an der Zunge wunderbar erkennen kann, wie es im Bauch aussieht. Über die Jahre kommen viele Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner zu ihm und immer sieht er sich die Zunge an und versteht langsam, dass jene, welche die breite Zunge haben und den dicken Belag, Probleme haben zu verdauen, und solche mit einer roten trockenen Stelle genau in der Mitte der Zunge eher Probleme mit dem Magen haben. Er lernt weiter zu differenzieren, dass zum Beispiel jene Dorfbewohner, welche gerade viel Stress mit ihren Verwandten haben und sich sehr ärgern müssen, aufgeworfene Zungenränder haben und solche, die nicht einschlafen können, eine rote Zungenspitze oder rote Punkte an der Zungenspitze haben. Vor allem aber lernt er, dass, wenn er die richtige Therapie anwendet, diese Veränderungen von der Zunge wieder verschwinden und sich die jeweiligen Patienten auch wieder wohl fühlen.
So geht das viele Jahre und der Ruf unseres Arztes geht bereits weit über die Grenzen des Landes. Und so kommt eines Tages ein Edelmann zu ihm gereist, um sich von ihm untersuchen zu lassen. «Meister, Ihr habt die Weisheit und das Wissen, Gesundheit zu erhalten. Sagt mir, was ich tun kann, um gesund zu bleiben und lange zu leben!», so der Edelmann. Und unser Arzt fragt ihn, ob er irgendwelche Beschwerden hätte. «Nein, gar nichts!» Ob er gut schlafe. «Ja, wunderbar.» Ob der Stuhl fest wäre und einmal täglich komme. «Genau wie Ihr sagt, Meister.» Und unser Arzt fragt bei sich, wie er diesen Edelmann wohl zufriedenstellen könne, da er doch keine Beschwerden habe. Wie solle er ihm garantieren, dass er gesund bleiben würde? In Gedanken versunken und kurz vorm Verzweifeln bittet er den Edelmann, seine Zunge herauszustrecken.
Da fällt es unserem Arzt wie Schuppen von den Augen. Er muss dafür Sorge tragen, dass die Zunge so aussehe wie bei seinem allerersten Patienten NACH der Behandlung und nach den neuen Gewohnheiten beim Essen und im Alltag. Also lehrt er den Edelmann, was zu tun ist und gibt ihm zwei Monate, um all das umzusetzen und die Kräuter zu nehmen. In zwei Monaten solle er wiederkommen und dann könne der Arzt sagen, ob er am rechten Weg sei oder nicht. Und tatsächlich: Nach zwei Monaten sieht die Zunge des Edelmanns so aus:
Was unser Arzt gemacht hat, ist extrapolieren: Das Wissen aus einer Situation konnte er auf eine ganz andere Situation anwenden, weil er den Zusammenhang mithilfe der Zunge verstanden hatte.
Wie es mit unserem Arzt weiterging? Er lernte aus seinen Erfahrungen, dass die Zunge und dann auch der Puls sehr verlässliche und einfache Methoden sind, um zu verstehen, in welchem Zustand sich der Körper gerade befindet und was es vor allem braucht, damit er wieder in seine Mitte, dargestellt durch eine «gesunde Zunge», findet. Er konnte außerdem definieren, wie eine gesunde Zunge aussieht und wie sich ein gesunder Puls anfühlt.
Bevor überhaupt Symptome auftreten, erkennt man Veränderungen in Puls und Zunge.
Die Symptome sind dabei keine verlässlichen Parameter, wie wir am Beispiel des Edelmannes gelernt haben. Puls und Zunge sind verlässlicher. Doch mit den Symptomen will uns der Körper auf die richtige Spur, zu unserer Gesundheit bringen.
Symptome sind Wegweiser zur Gesundheit.
Voraussetzung dafür, dass man den Weg zur Gesundheit findet, ist, konsequent das zu tun, was der Körper einem sagt, und falls man das nicht versteht, konsequent das zu tun, was der gute chinesische Arzt sagt. Wenn ein Arzt tausendmal gesehen hat, wo denn der Weg zur Gesundheit verläuft, darf man den Arzt auch als Wegweiser zu seiner eigenen Gesundheit nutzen.
Denken Sie nochmals an unseren Arzt aus dem vorigen Beispiel zurück. Wie wird er Ihnen die Wirkung seiner Therapie erklären? Sicherlich nicht in unserer wissenschaftlichen Sprache von heute, weil es die damals nicht gab. Sicherlich nicht in den Worten der großen chinesischen Meister seiner Zeit, weil er ihre Werke nicht kannte. Sondern in seinen Worten, vielleicht