nach Nischnij-Nowgorod fuhren. Juden saßen neben Türken, Kosaken und Weißrussen neben Georgiern und Kalmücken; doch fast alle beherrschten die russische Sprache.
Man besprach das Für und Wider der Entwicklung, die sich jenseits des Ural anbahnte, und die Kaufleute schienen einschränkende Maßnahmen der Regierung für die Grenzgebiete und damit auch für ihren Handel zu befürchten.
Sie betrachteten den Krieg, also die Niederschlagung der Erhebung und den Kampf gegen das Invasionsheer, ausschließlich vom Gesichtswinkel ihrer gefährdeten Geschäfte. Die Anwesenheit eines einzigen einfachen Soldaten in Uniform hätte genügt, die Rede dieser Kaufleute zu zügeln, hatte man doch in Russland außerordentlichen Respekt vor der Uniform. Aber da Michael Strogoff sein Inkognito wahrte, glaubte man unter sich zu sein und schwatzte munter darauf los.
»Die Preise für Karawanentee sollen heraufgehen«, sagte ein Perser, dessen Nationalität man an der pelzbesetzten Mütze und dem Schnitt des ein wenig fadenscheinigen weitfaltigen Rockes erkannte.
»Der Teehandel hat wirklich nichts zu befürchten«, antwortete ein verdrießlich dreinschauender Jude. »Die Messeware jedenfalls kann mit hohen Absatzpreisen im Westen des Reiches rechnen. Mit den Teppichlieferungen aus Buchara steht es da weit schlechter.«
»Erwarten Sie denn eine Sendung?«, fragte der Perser.
»Nicht aus Buchara, aber aus Samarkand, was noch unsicherer ist. Verlassen Sie sich einmal auf Einfuhren aus einem Land, das bis hinunter zur chinesischen Grenze von den Khans aufgewiegelt ist!«
»Sie haben recht«, warf ein anderer Reisender ein. »Waren aus Asien wird es auf der Messe kaum geben, keine Teppiche aus Samarkand, keine Wollwaren, keine Seifen, keine Öle, keine Seidentücher.«
Ein russischer Reisender, der den Gesprächen mit spöttischer Miene zugehört hatte, unterbrach die Aufzählung.
»Na, Väterchen, nehmen Sie sich nur in Acht, dass Sie keine Fettflecke in die Seidentücher bekommen, wenn Sie sie mit den Seifen und Ölen zusammenpacken!«
»Das finden Sie wohl sehr komisch!«, erwiderte der Angeredete mit säuerlicher Miene.
»Und wenn Sie sich jetzt die Haare raufen und Asche aufs Haupt streuen, ändern Sie den Lauf der Dinge um keinen Deut.«
»Sie sind sicher kein Kaufmann!«
»Gott behüte! Nein! Ich verkaufe weder Hopfen noch Tee, auch nicht Pökelfleisch, Kaviar, Bänder, Leder oder sonst etwas.«
»Aber vielleicht kaufen Sie davon?«, warf der Perser ein.
»So wenig wie möglich, und nur für meinen Privatbedarf«, entgegnete der Russe augenzwinkernd.
»Das ist ein Spaßvogel«, meinte der Jude.
»Oder ein Spion«, erwiderte der Perser. »Wir wollen vorsichtig sein und nicht mehr als nötig reden. In solchen Zeiten ist die Polizei nicht gerade feinfühlig, und man weiß nicht, mit wem man zusammensitzt.«
In einer anderen Ecke des Abteils sprach man weniger von Handelsgeschäften, umso mehr aber vom Tatareneinbruch und seinen möglichen Folgen.
Ein Reisender meinte: »Man wird in Sibirien alle Pferde requirieren. Es wird kaum noch Verbindungswege zwischen den Provinzen von Zentralasien geben.«
Und sein Nachbar fragte: »Stimmt es denn, dass die Kirgisen der Mittleren Horde mit den Tataren gemeinsame Sache machen?«
»Das sagt man jedenfalls«, antwortete der Angesprochene halblaut. »Aber wer kann in diesem Land schon behaupten, etwas mit Sicherheit zu wissen!«
»Ich hörte von Truppenzusammenziehungen an der Grenze. Die Don-Kosaken sollen bereits an der Wolga stehen. Man will sie den Kirgisen entgegenwerfen.«
»Wenn die Kirgisen dem Lauf des Irtysch gefolgt sind, muss auch die Straße nach Irkutsk unsicher sein«, bemerkte einer der Reisenden. »Ich wollte übrigens gestern ein Telegramm nach Krasnojarsk aufgeben, das ist nicht mehr durchgekommen. Ich fürchte, die Tataren brauchen nicht lange, um ganz Ostsibirien zu isolieren.«
»Also haben die Kaufleute ganz recht, wenn sie um ihre Geschäfte besorgt sind. Sind die Pferde erst einmal requiriert, kommen die Schiffe an die Reihe und nach und nach alle anderen Transportmittel, und zuletzt wird man im ganzen Reich nicht mehr einen Schritt tun dürfen. Die Messe wird wohl kaum so glänzend enden, wie sie begonnen hat. Aber was hilft es! Geschäfte sind eben nur Geschäfte, und die Sicherheit Russlands geht vor.«
Im ganzen Zug wurde über dasselbe Thema gesprochen. Ein unvoreingenommener Beobachter kam aber nicht umhin, festzustellen, dass alle Gespräche mit auffallender Zurückhaltung geführt wurden. Wagte sich jemand auf das Gebiet der Tatsachen, ging er nie so weit, Spekulationen über die Absichten der Regierung anzustellen oder gar ihre Maßnahmen zu kritisieren.
Diese Erfahrung musste auch ein Reisender machen, der in einem der vorderen Wagen des Zuges saß. Es handelte sich offensichtlich um einen Ausländer. Er hatte die Augen überall und stellte unaufhörlich Fragen, auf die er aber nur ausweichende Antworten bekam. Zum Ärger seiner Mitreisenden hatte er das Abteilfenster heruntergelassen und lehnte sich weit hinaus, um auch jeden Punkt der vorübergleitenden Landschaft genau sehen zu können. Er erkundigte sich nach den Namen völlig unbedeutender Ortschaften, nach ihrer geographischen Lage, ihrer Industrie und ihren Einwohnerzahlen, ja sogar nach der durchschnittlichen Sterbeziffer für beide Geschlechter. Was immer er in Erfahrung bringen konnte, wurde sofort in einem kleinen Notizbuch festgehalten, das schon von Anmerkungen wimmelte. Der Fragesteller war kein anderer als Alcide Jolivet, der versuchte, aus den kargen Antworten seiner Mitreisenden doch noch etwas Interessantes für seine ›Cousine‹ zu erhaschen. Natürlich sah man in ihm einen Spion und streifte die Tagesereignisse mit keiner Silbe.
Als Alcide Jolivet einsah, dass er hier über den Tatareneinfall gar nichts erfahren würde, notierte er: »Reisende äußerst zurückhaltend. Nur sehr schwer zu politischen Gesprächen zu bewegen.«
Während der Franzose hier im vorderen Zugabschnitt mit peinlicher Genauigkeit Reiseeindrücke sammelte, betrieb sein englischer Kollege in einem der hinteren Abteile dasselbe Geschäft. Die beiden Journalisten waren sich am Morgen auf dem Bahnhof in Moskau nicht begegnet; keiner wusste also vom anderen, dass er bereits zum Kriegsschauplatz aufgebrochen war.
Den schweigsamen Harry Blount verdächtigte niemand als Spion. Die Mitreisenden plauderten vor ihm ohne Zurückhaltung, sie gingen sogar ein wenig weiter, als es bei ihrer angeborenen Vorsicht sonst üblich war.
Harry Blount konnte nach ihren Gesprächen also mit einer gewissen Berechtigung notieren: »Reisende sehr beunruhigt. Alles spricht von Krieg mit Offenheit, die für das Land zwischen Wolga und Weichsel erstaunlich ist.«
Da Harry Blount auf der linken Seite des Zuges saß, sah er nur einen Teil der Landschaft, ein hügeliges Gebiet. Es hätte ihm zu viel Mühe gemacht, die Augen auch einmal zur anderen Seite zu wenden, wo die Landschaft vollkommen platt war. So fügte er seiner Notiz hinzu: »Zwischen Moskau und Wladimir Bergland.«
Es war unvermeidlich, dass die Regierung angesichts der ernsten Lage in Sibirien auch im Landesinnern strenge Maßnahmen ergriff. Noch hatte der Aufstand vor der Grenze zwischen Sibirien und Russland haltgemacht, aber man hegte doch schlimme Befürchtungen für die benachbarten Wolgaprovinzen.
Die Polizei suchte immer noch die Spur Iwan Ogareffs. War dieser Verräter, der die Fremden aufhetzte, zu Feofar-Khan gestoßen, oder schürte er vielleicht die Empörung im Gouvernement von Nischnij-Nowgorod, wo sich zur Messezeit ein buntes Völkergemisch tummelte, das später den Aufruhr bis ins Innere des Reiches tragen konnte? Welche von diesen Vermutungen richtiger war, ließ sich in einem Land wie Russland schwer sagen.
Der Herrscher aller Reußen gebot über ein Gebiet von nicht weniger als zwölf Millionen Quadratkilometern, die von vielen, oft sehr unterschiedlichen Völkerschaften bewohnt wurden. Diese siebzig Millionen Menschen sprachen dreißig verschiedene Sprachen. Nur die Länge der Zeit und die Weisheit der Regierung würden alle diese Weißrussen, Polen, Litauer,