Sina Holl

Mami Staffel 12 – Familienroman


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      »Im Moment wohne ich noch bei meinen Eltern. Meine kleine Tochter ist bei der Oma gut aufgehoben.«

      Ein rascher Seitenblick streifte ihn, da sie gerade an einer Ampel hielten. »Sie haben eine kleine Tochter?«

      »Ja, von vier Jahren. Sie hat keine Mutter.«

      Daraufhin schwiegen sie beide. Bis Gerhard sagte: »Sie können mich hier absetzen, Frau Danegger. Sie sind ja gleich da. Ich gehe gern zu Fuß weiter. Dabei entdecke ich meine Heimatstadt nach langer Abwesenheit neu.«

      Ariane fuhr rechts heran. Sie ließ die Hände auf dem Steuerrad liegen und sah geradeaus. »Ich weiß«, sprach sie langsam, »daß Sie die Absicht haben, sich in unserem Haus beruflich zu engagieren. Wenn es Ihnen gelänge, meinen Vater von seinen schlimmsten Sorgen zu entlasten, wäre ich sehr froh.«

      »Das habe ich mir zum Ziel gesetzt«, sagte Gerhard fest, während er den Gurt löste.

      Ihr Blick kam zu ihm zurück, einen Moment sahen sie sich gerade in die Augen. »Viel Glück«, sagte sie dann etwas abrupt. »Auf Wiedersehen, Herr Schilling.«

      *

      Am Abend saß Ariane mit ihren Eltern zusammen. Das Thema war naheliegend: Schilling.

      »Er ist nicht übel«, mußte Melanie von Korff zugeben. »Wenigstens spielt er sich nicht als Neureicher auf. Nur«, ein leicht boshafter Zug glitt über ihr Gesicht, »du solltest ihm deinen Schneider nennen, Leonard, bevor er bei dir anfängt.«

      »Mir ist es gleich, ob er Anzüge von der Stange trägt oder nicht«, versetzte ihr Mann etwas brüsk. »Bei ihm kommt es mir auf etwas anderes an.«

      »Das meine ich auch«, stimmte ihm Ariane zu. »Er ist zweifellos ein kluger Mann, und ich finde ihn auch menschlich sympathisch.«

      »Dann kannst du ihn ja heiraten«, sagte die Mutter trocken. »Mit seinen Millionen könnte er die Bank sanieren.«

      »Warum nicht«, sagte Ariane mit ausdrucksloser Miene. »Es wäre nicht die erste Vernunftehe, die auf der Welt geschlossen wird.«

      Der Vater war zusammengezuckt. »Ariane«, erregte er sich, »ich würde doch niemals zugeben, daß du dich opferst!«

      Als sie nur die Achseln zuckte, betrachtete er sie kopfschüttelnd. Es brachte ihn manchmal zur Verzweiflung, daß seine Tochter mit ihren achtundzwanzig Jahren tat, als sei das Leben für sie schon vorbei.

      »Für Schilling hätte es den Vorteil«, spann Melanie den Faden weiter, »an der Seite einer geborenen von Korff gesellschaftliche Anerkennung zu finden. Die würde ihm ja sonst doch nicht zuteil. Schließlich gehört er nicht zu unseren Kreisen«, schloß sie hochmütig.

      »Und dafür soll unsere Tochter der Preis sein? Das kannst du nicht im Ernst meinen, Melanie.«

      »Reg dich doch nicht auf«, bat Ariane. Mit ihrem stets so verhangenen Blick sah sie ihren Vater an, und ruhig fuhr sie fort: »Du weißt, daß deine Sorgen auch meine sind. Mir tut es weh, daß du vergebens gekämpft und dich krank dabei gemacht hast. Unsere Firma ist mir nicht gleichgültig. Wie lange trägt sie schon unseren Namen. Ich«, sie senkte die Lider, »ich habe ja nie etwas dafür getan. Jetzt wäre ich zu allem bereit, weil es um mich gar nicht mehr geht.«

      »Es geht nicht mehr um dich, sagst du?« Korffs Atem ging rasch. »Du solltest dich aber noch wichtig nehmen, Ariane, du, ein junger, schöner Mensch. Wenn du doch nur aus dieser schrecklichen Apathie einmal herausfinden könntest! Wenn du…« Er verstummte. Seine Tochter hatte die Lider gehoben und sah ihn nur schweigend an.

      Das Herz des Mannes krampfte sich zusammen. Es gab nichts mehr zu sagen vor diesem Blick.

      »Na ja«, Frau Melanie betastete ihr kastanienbraun getöntes Haar, das wie stets sorgfältig frisiert war, »warten wir mal ab, was Schilling zustandebringen wird. Du versprichst dir ja sehr viel von ihm, nicht wahr, Leonard?«

      »Gewiß. Wunder wird er auch nicht vollbringen können, aber uns wenigstens vor dem Bankrott bewahren, denke ich.«

      »Ich gehe jetzt hinauf«, sagte Ariane tonlos. »Gute Nacht.«

      Sie ging durch ihre Wohnung, die mehrere Räume umfaßte und nicht minder wertvoll eingerichtet war wie die ihrer Eltern. Seit zwei Jahren wohnte sie wieder in diesem Haus, wo sie aufgewachsen war und ihre erste Jugendzeit verbracht hatte. Dann war sie mit Michael fortgezogen. Bis ans Ende der Welt wäre sie ihm gefolgt.

      Als ihr Leben zerbrach, hatten Vater und Mutter sie heimgeholt, weil sie um sie bangen mußten. Es war ihr völlig egal gewesen, wo sie blieb. Völlig. Sie hätte auch verhungern und verdursten können, was galt es ihr noch.

      Ariane ließ sich in einen Sessel sinken, sie bedeckte die Augen mit der Hand. Michael, Janine, warum kann ich nicht bei euch sein…

      Sie hatten sich sehr geliebt, sie waren unendlich glücklich gewesen. Michael hatte, nach beendetem Studium und erworbenem Doktortitel, seine erste Anstellung als Assistenzarzt in einem Krankenhaus angetreten.

      Ihr Vater hätte sich wohl einen anderen Schwiegersohn gewünscht, einen seines Berufsstandes, der mit ihm die Geschäfte der Bank führen könnte.

      Ein Sohn war ihm versagt geblieben. Nach Jahren vergeblichen Wartens hatte Melanie ihm eine Tochter geboren. Sie blieb das einzige Kind.

      Leonard von Korff hatte dann seine Hoffnung auf einen Enkel gesetzt, den er noch aufwachsen sehen und als seinen Nachfolger heranziehen könnte. Damals war er noch in den Fünfzigern, er fühlte sich nicht zu alt dafür.

      Ariane brachte ein Mädchen zur Welt. Sie wollten noch mehr Kinder. Sie würde ihm schon noch den ersehnten Enkelsohn schenken, so tröstete sie ihn.

      Dann gab es keinen Trost mehr, für niemand.

      Die Skier auf dem Wagen, waren sie losgefahren in die weiße Winterpracht der Berge. Sonne, Schnee und eine jauchzende Janine, die zum ersten Mal mit in Urlaub fuhr. Im kinderfreundlichen Hotel wurden die Kleinen gehütet, wenn die Eltern für ein paar Stunden auf der Piste waren. Ansonsten gab es Fahrten mit dem Pferdeschlitten, in Pelzdecken gehüllt und mit lustigem Glöckchengebimmel, und Spaziergänge im romantischen Gebirgsdorf, Janine auf Papas Schultern.

      Am hellen Vormittag war eine Lawine zu Tal gedonnert und hatte alles unter sich begraben, Häuser, Menschen.

      Michael und Janine waren tot. Sie war es auch. Nur daß ihr Atem noch ging, der Mechanismus ihres Körpers funktionierte.

      Wie vernichtet war auch ihr Vater von diesem Schicksalsschlag, der sie getroffen hatte. Er litt mit ihr, war seitdem nicht mehr der alte. Denn sie hatten eine enge Beziehung zueinander, Vater und Tochter, enger, als Arianes Verbindung zur Mutter war. Melanie war aus anderem Holz geschnitzt.

      Tante Irene war es gewesen, die sie endlich aus der tiefsten Nacht geholt hatte. Ariane hatte, bevor sie heiratete, ein paar Semester Kunstgeschichte studiert, sie sollte ihr in der Galerie helfen, wieder unter Menschen gehen. Sie tat es, wenn auch ohne innere Anteilnahme. Es gab für sie keine Freude mehr an schönen Dingen. Alles, was schön war auf Erden, hatte sie in Michael gelebt.

      Sie würde nie einen anderen lieben können.

      Doch eine Verstandesehe einzugehen, ihrem Vater zuliebe, schien ihr nicht undenkbar. Dann wäre sie doch noch zu etwas nutze.

      Für Schilling wäre es ja auch nichts anderes als dies. Er könnte Teilhaber werden und gesellschaftliche Anerkennung finden, da hatte ihre Mutter schon recht.

      Er hatte ein Kind, fiel es Ariane ein.

      Das würde für sie kein Hinderungsgrund sein. Ihre Janine wäre es nicht. Die brachte ihr niemand zurück.

      Auch in dieser Nacht endeten Arianes letzte Gedanken bei ihrem toten Kind.

      *

      Es sah schlimmer aus als gedacht.

      Gerhard stützte den Kopf in die Hände. Nach tagelanger eingehender Prüfung der Bücher war ihm nun ganz klar, daß hier die Einlagen