nehmen müssen.
Und schlau hatte sie das eingefädelt, als sie im April ihre Arbeit dort aufgenommen und ihm schöne Augen gemacht hatte. Sobald die Mutter morgens aus dem Haus gewesen war, hatte Ludwig mit ihr gescherzt. Dieser schöne Mann mit dem dichten, schwarzen Haar und dem festen Griff. Es schauderte sie jetzt noch, wenn sie daran dachte, wie er sie an sich gedrückt hatte. Bald. Bald würde es wieder so sein wie im Frühjahr. Nur dann offiziell als Mann und Frau. Ob sie heute endlich den Heiratsantrag bekommen würde, auf den sie seit Wochen wartete? Sie wusste, dass auch er viel für sie empfand. Hätte er sie sonst heute an einen so romantischen Ort gelockt? Mitten in den Wald, wo nur ab und zu ein Forstläufer vorbeikam oder ein Student auf dem Weg zum Festplatz? Er hatte einen feinen Sinn für so was, der Ludwig. Er würde den Antrag dem Anlass gebührend feierlich gestalten.
Schnell, voran, es musste schon acht Uhr durch sein, so hoch wie die Sonne stand. Und sie würde es sich nie verzeihen, zu ihrem Antrag zu spät zu kommen. Seit sie den Ludwig heute Morgen in der Frühe gesehen hatte, schlug ihr Herz kräftig. Gleich nach dem Aufwachen war sie zu ihm gelaufen, um ihre Schuhe zum Beschlagen zu bringen. Das war nur ein Vorwand gewesen, weil sie sich nichts sehnlicher wünschte, als ihn wiederzusehen. Wie gestern schon, als er nicht zu Hause gewesen war und sie ihn zufällig auf der Barfüßer Straße mit dieser Regine Dörr gesehen hatte, die ihr hinterhergespuckt hatte. Und vorgestern, als er die Tür nicht geöffnet hatte, obwohl er ganz offensichtlich zu Hause gewesen war. Seit dem 22. August wusste er von dem Kind und hatte sich seither nicht freudig geäußert. Das tat weh. Das gab einen Stich ins Herz. Selbst als sie mit hohem Fieber im Landeskrankenhaus gelegen hatte, war er nicht vorstellig geworden. Dabei hatte er sich doch sicher auch nach ihr verzehrt. Ob er Angst vor dem Gerede der Leute hatte? Oder vor dem Groll der Mutter? Oder gab es die Verlobung wirklich, von der alle redeten? Mit dieser Regine aus Bauerbach. Dann war Eile geboten. Von wegen Hinkel. Sie, die Dorothea, fand immer Mittel und Wege, ans Ziel zu kommen. Ihr Bauch war schon stattlich, der Arzt hatte ihr bestätigt, dass sie bereits in der 20. Woche sei. Das Kind würde in weniger als fünf Monaten zur Welt kommen. Ludwig hatte die Wölbung nur entsetzt angestarrt. Dann aber das Treffen oben am Dammelsberg unter der großen Eiche vorgeschlagen.
Kurz blieb sie stehen, um Luft zu holen. Ehrfürchtig befühlte sie den Elisabeth-Taler, den sie an einer silbernen Kette um den Hals trug. Unter heißen Liebesschwüren hatte er ihr die Kette umgelegt. Und sie angefleht, das Kind wegmachen zu lassen. Darauf war sie nicht eingegangen, das Medaillon hatte sie aber natürlich behalten. Es zeigte die Heilige Elisabeth mit Krone, Heiligenschein und dem Modell einer Kirche in der rechten Hand. Es war das Einzige von Wert, das sie besaß und jemals besessen hatte, und sie würde es ihrem Kind irgendwann mal vererben. So würde es beschützt sein ein Leben lang.
Ludwig. Endlich wollte er sie alleine sehen. Unter vier Augen. Wie früher. Deutlicher konnte man nicht sagen, dass man sich sehnte. Oder?
1. Kapitel
Liva tanzte. Das Teufels-Zeug ging schnell ins Blut. Gut so. Genial, wie einfach man das Hirn mit ein paar Kräutern austricksen konnte. Ganz easy. Gib ihm Spice, und du bist frei.
Die Bässe wummerten durch ihren zierlichen Körper, fühlten sich an wie Schläge auf den Hinterkopf. Hirn raustanzen, Seele aus dem Leib treiben, die ganze Scheiße hinter sich lassen. Die Bässe waren heute ihre Freunde, der kleine Ehrenfelder Club ihr Heim. Dann war auch der Rest besser zu ertragen. Denn Tanzen half gegen Trauer. Und gegen die Wut. Wut und Angst. Tanzen war gut. So wild du kannst. Auf den Tag heute vor drei Jahren hatte sie ihren Bruder verloren, seitdem musste sie ohne ihn klarkommen. Sie hätte sich vielleicht damit abgefunden. Hätte sich der Trauer weiterhin hingegeben, wie es ihre Mutter seit Jahren tat.
Wären da nicht seit ein paar Monaten diese regelmäßigen seltsamen Anrufe in den Abendstunden gewesen. Und immer, wenn sie dranging, legte derjenige auf. Auch heute hatte sich der unbekannte Anrufer mit unterdrückter Nummer wieder gemeldet. Das konnte jeder sein, das war klar. Aber Liva bildete sich ein, dass es Alex war, der dahintersteckte. Vielleicht wollte er nur mal hören, ob es ihr gutging? Um nicht als verrückt dazustehen, hatte sie bislang niemandem von den Anrufen erzählt. Das war sicher besser so.
Heute hatte sie Alex ganz besonders vermisst. Sie hätte ihm gerne ihr Herz ausgeschüttet und ihren Kummer geklagt. Jetzt, wo es auf das Semesterende zuging, wollten alle Studierenden offenbar noch mal einen guten Eindruck machen – um sie herum nur noch Egos kurz vor dem Exitus. Ob das nur an diesen renommierten Journalistenschulen so war oder an jeder normalen Universität? Unerträglich jedenfalls. Fiese Andeutungen vom Prof in ihre Richtung. Alle verehrten den Hallermann, alle, sie ausgenommen. Und das wusste er und spielte die kleine Macht aus, die er hatte. Er saß am längeren Hebel, das wollte er beweisen.
Letzter Aufruf, Frau Lohrey. Ohne Thema, kein Abschluss, Frau Lohrey. Wenn das Thema Ihrer Reportage nicht rechtzeitig angemeldet wird, drehen Sie hier noch eine Runde, Frau Lohrey. So wird das nie etwas mit dem Journalismus, Leute.
Runden drehen. Gerne. Aber nicht an der Schule, sondern lieber hier, im Club. Sowieso: Warum sollte sie sich beeilen? Ob in Frankfurt, München, Berlin oder hier in Köln – überall freischaffende, schlecht verdienende Schreiberlinge mit lebenserhaltenden Nebenjobs. Sie schuftete jetzt schon mehrmals die Woche als Aushilfe in einer Bäckerei. Sollte sie doch noch überraschend ihren Abschluss an dieser hochehrwürdigen Schule machen – wobei sie keinen Schimmer hatte, welches Thema sie für ihre Abschlussreportage wählen sollte – würde da draußen bestimmt keine Tageszeitung, kein Hochglanzmagazin und schon gar kein Radiosender »Hier« schreien. So fing der Konkurrenzdruck schon unter den Studierenden an, die teilweise ein Praktikum nach dem anderen absolvierten.
Ihr Bruder hätte sich das alles nie gefallen lassen. Er hätte – da war sie sich sicher – seinen Platz an dieser Schmiede für Journalisten-Snobs nach kurzer Zeit aufgekündigt und sich was Neues gesucht. Wenn er etwas anpackte, dann mit voller Überzeugung. Liva erinnerte sich noch gut, wie beeindruckt sie gewesen war davon, wie er in seinem Geschichtsstudium aufgegangen war. Er hatte sogar seine Freundin vernachlässigt, wenn er an einem Thema dran gewesen war, das ihn interessierte. Und kam ihm jemand blöd, ignorierte er denjenigen einfach. Radikal. Konsequent. Auch ein bisschen verrückt. Alex eben.
War er deshalb verschwunden? Weil er nicht bereit gewesen war, ein Leben voller Kompromisse zu führen? Hatte er die Nase voll gehabt von all den Menschen, die etwas von ihm wollten – seine Mutter, die Freundin, die kleine Schwester, sein Freundeskreis? Liva hatte von solchen Leuten schon gehört, die ihr altes Leben einfach radikal abbrachen und woanders neu anfingen. So hart es war, sie konnte diese Erklärung besser ertragen als die Selbstmordtheorie ihrer Mutter. Immer und immer wieder hatte sie betont, ihr Sohn sei in den letzten Wochen vor seinem Verschwinden zerstreut gewesen, nahezu depressiv. Er habe eine Therapie begonnen, über die er aber nicht habe sprechen wollen. Obwohl Liva damals ja noch im selben Haushalt gelebt hatte, hatte sie von all dem nichts bemerkt. Vielleicht waren sich die Geschwister in diesen Jahren doch fremder gewesen als man gedacht hatte. Denn es gab wohl einiges, das sie über Alex’ Leben nicht gewusst hatte. Und auch das schmerzte sie.
Was würde sie dafür geben, zu erfahren, was tatsächlich an diesem 6. August vor drei Jahren in Marburg passiert war. Die Polizei hatte die Suche nach dem erwachsenen, jungen Mann zeitnah eingestellt, weil es keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen gab.
Verflucht, was war nur los? Plötzlich all diese trüben Gedanken. Die Zauberkräuter wirkten nicht mehr. Dabei sollten sie doch diese Scheiß-Sorgen abschießen. Krieger, wo seid ihr? Vielleicht musste sie sich noch einen Joint genehmigen, wenigstens einen kleinen. Hier im Flore gab es kein Legal High, der Club galt als sauber. Vielleicht würde sie Konstantin doch noch überreden können, kurz mit rüber ins Fortuna zu gehen. Er hatte ihr doch selten einen Gefallen abschlagen können. Das war schon zu Schulzeiten so gewesen. Konstantin, ihr Freund und Helfer. Mit trübem Blick scannte sie die Theke ab, auf der Suche nach dem dunkelbraunen Lockenkopf. Da hinten saß er, ganz alleine mit seinem Bier und seinen Gedanken, genoss die lauten Beats und schaute hin und wieder zu ihr rüber. Sie freute sich, wenn es ihm gut ging. Das war selten in letzter Zeit, und Liva hatte das Gefühl, dass ihn etwas