Heinrich Vollrat Schumacher

Lord Nelsons letzte Liebe


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sah sie das Schiff. Hochbordig lag es auf der Flut, mit gerefften Segeln, sich am haltenden Anker wiegend. Dunkle Gestalten eilten über die Decks, standen auf den Rahen, glitten an den Masten auf und nieder. Auf der Hütte des Hinterdecks ein einzelner Mann.

      Nelson ...

      Der Hut beschattete sein Gesicht; Emma konnte es nicht erkennen. Und die Gestalt sagte ihr nichts. Anders hatte sie Nelson gesehen, vor zwölf Jahren, als er ihr zum erstenmal begegnet war ...

      Sie ließ das Fernrohr sinken, schloß die Augen. Und aus dem Dunkel löste sich die Erinnerung, bis alles vor ihr stand, in hellem Lichte, wie es gewesen war ...

      ***

      Aus Westindien mit zerrütteter Gesundheit nach England zurückgekehrt, hatte Nelson von Doktor Grahams elektrischer Heilmethode gehört und Hilfe bei ihm gesucht; heimlich, gegen den Willen seiner Angehörigen. Doktor Grahams Gehilfin aber war Emma damals gewesen.

      Als sie, in dichte Schleier gehüllt, bei Nelson eingetreten war, hatte er in seinem Krankenstuhl gesessen, gelähmt, zum Skelett abgemagert, von Zorn erfüllt gegen das Leiden, das ihn vom Kriege zurückhielt. Anfangs hatte er nicht auf Emma geachtet, dann aber, als ihre Hände ihn zum ersten Male berührten, hatte er laut aufgeschrien, wie von einem jähen Schmerze durchzuckt.

      Unter Emmas streichenden Händen aber war er eingeschlafen.

      „Sehen Sie mich?“ hatte sie ihn gefragt, neugierig, ihre Macht über ihn zu erproben.

      Sofort hatte er geantwortet. Ihr Gesicht hatte er beschrieben, ihre Gestalt. Voll Entzücken über ihre Schönheit. Und hatte sie doch nie zuvor gesehen.

      Dann hatte er ihr seine Krankheit geschildert. Die Fieberanfälle, an denen er schon als Knabe gelitten hatte, die krampfhaften Zuckungen, die ihn ohne äußeren Anlaß überfielen, die Lähmungen und Ohnmächten, die ihn betäubten ...

      Nachher hatte Doktor Graham sein Urteil abgegeben. Die Lähmung konnte geheilt werden; gegen das eigentliche Übel, Fallsucht, aber war auch die neue Wissenschaft machtlos. Ein unglücklicher Mensch ...

      Erschüttert hatte Emma auf das feine, junge Gesicht gesehen, ihn mit weicher Bewegung geweckt. Die Augen öffnend, hatte er ihr zugelächelt. Mit einem stillen Lächeln, das ihn seltsam verschönte.

      Aber als Doktor Graham ihn fragte, was er während seines Schlummers empfunden, hatte er sich an nichts erinnert ...

      ***

      Sie hatte ihn nicht wiedergesehen. Sein Vater, ein frommer Gegner der neuen Wissenschaft, hatte ihn aus London fortgeholt und in die Bäder von Bath gebracht. Wie alles, was sie einst gern gehabt hatte, war auch Nelson aus Emmas Leben verschwunden.

      So hatte sie gedacht. Nun aber tauchten die Schatten der Vergangenheit wieder auf.

      Nelson kam ...

      Ein lautes Geschrei weckte sie aus ihrem Sinnen. Vom Schlosse her kam eine Menschenmenge über den Strand, den Lauf einer königlichen Barke begleitend, die sich dem ‚Agamemnon‘ näherte. Unter dem gelbseidenen Baldachin saß der König, mit plumpen Handbewegungen die Grüße des Volkes erwidernd. Neben ihm, ein wenig zurück, stand Sir William in seiner goldstrotzenden Botschafteruniform; eifrig sprach er auf Ferdinand ein.

      Nelson empfing seinen königlichen Gast auf der untersten Stufe der Schiffstreppe. Ein kurzes Gespräch folgte; plötzlich warf Ferdinand die Hände empor und umarmte den Seemann. Dann schien er den Booten, die ihm gefolgt waren, etwas zuzurufen.

      Eine lebhafte Bewegung kam in die dichtgedrängte Menge am Strande, pflanzte sich nach der Stadt fort, stieg in die menschengefüllten Straßen empor. Mit ihr ein Ruf ...

      Brausend, mit der Wucht einer dahinrollenden Meereswoge traf er den Palazzo Sessa.

      „Toulon erobert, die Jakobinerflotte gefangen! Es lebe England! Es lebe der Kapitän des ‚Agamemnon‘, der Retter Italiens!“

      Geführt von Nelson, gefolgt von Sir William, stieg Ferdinand die Schiffstreppe hinauf, lachend, winkend, seinem Volke Küsse zuwerfend. Als er den ‚Agamemnon‘ betrat, flog die Wappenflagge Beider Sizilien am Hauptmast empor und legte sich unter das St. Georgskreuz Großbritanniens. Wie ein

      Symbol war’s, wie das Zeichen einer glücklichen Zukunft Neapels. Schützend schienen sich die Arme des Starken über den Schwachen zu breiten ...

      Die Geschütze des ,Agamemnon‘ dröhnten den Königssalut. Die Schiffe im Hafen antworteten, das Arsenal, die Kastelle, die Forts. Rauchwolken wälzten sich empor, lagerten sich über den Golf, verhüllten die Bläue des Himmels. Und nun fielen auch die frommen Stimmen der Kirchen ein, Santa Maria del Carmine, Santa Anna dei Lombardi, San Domenico Maggiore, der Dom des heiligen Januarius ...

      Ganz Neapel vereinigte sich zu einem tausendstimmigen Chor, unter dessen Heilruf die Erde zu beben schien ...

      Eine seltsame Erregung hatte sich Emmas bemächtigt. Das Geschrei der Menge, der Donner der Kanonen, der schwingende Hall der Glocken drangen auf sie ein, jagten ihr heiße Schauer über den Leib, preßten ihr Tränen aus den Augen. Wie ein Rausch war’s.

      Sie hatte Nelson gesehen, wie er in seinem Krankenstuhl lag, unfähig, sich zu bewegen. Und heißes Mitleid mit ihm hatte sie erfüllt. Nun aber ...

      Ach, warum war sie ein Weib! Alle Triumphe der Schönheit, alle Entzückungen der Künste, alle Erfolge der Politik — was waren sie gegenüber diesem Himmel und Erde durchbrausenden Hymnus des Kriegsruhmes?

      Mann, Krieger sein! Ein Sieger sein, vor dem die Menschheit in den Staub sank! Sie beneidete ihn nun ...

      ***

      Eine Stunde später brachte ihr Mr. Clarke ein Billett Sir Williams.

       Liebe Emma!

       Toulon ist erobert, die französische Flotte genommen. Ausführliches später mündlich!

       Der ,Agamemnon‘ wird einige Zeit hierbleiben, da er neapolitanische Truppen nach Toulon bringen soll, um die Stadt gegen einen Angriff der Jakobiner unter Robespierre und einem gewissen Buonaparte zu verteidigen. Ich habe Mr. Nelson daher eingeladen, bei uns zu wohnen.

       Wir sind augenblicklich bei einer Staatsratssitzung im Schloß. Nazone schläft merkwürdigerweise nicht, wie gewöhnlich; Maria Carolina strahlt. Beide sind entzückt von dem kleinen Kapitän, der, nach Blick und Stimme zu urteilen, allerdings etwas von dem Zeug zu einem großen Admiral zu haben scheint. Er hat mir ein Empfehlungsschreiben vom Prinzen Wilhelm gegeben, auch winkte mir die Königin ziemlich deutlich, daß sie ihn gern in der Nähe am Lande hätte. Ich habe also beschlossen, den Mann ein wenig zu protegieren. Daher die Einladung. Gib ihm die Zimmer, die wir für den Prinzen instand setzen ließen. Ein tüchtiger Seemann mit aussichtsvoller Zukunft ist schließlich nicht weniger wert, als ein liederlicher Prinz mit vergeudeter Vergangenheit, der sich zum Besuche anmeldet, einen armen Gesandten in Unkosten stürzt und dann doch nicht kommt.

       Mr. Nelson läßt sich Dir unbekannterweise empfehlen. Er ist etwas ungelenk, kein Adonis, macht aber sonst einen ganz anständigen Eindruck. Mütterlicherseits ist er mit den Walpoles verwandt. M. C. gegenüber, die ihm lebhaft Avancen macht, ist er von geradezu komischer Schüchternheit. Frauenkenner scheint er nicht zu sein.

       Bereite also alles vor; ich bringe ihn gleich aus dem Staatsrat mit. M. C. grüßt Dich, sie hofft, Dich morgen zu sehen. Heute sollst Du, wie sie sagt, dem Gaste gegenüber Deine Hausfrauenpflichten erfüllen und Dich ihm von der schönsten und liebenswürdigsten Seite zeigen. Meine eigenen Wünsche stimmen damit überein.

       Ich küsse Deine Hände und hoffe, ihnen noch heute das ‚Märchen‘ überliefern zu können. In Eile

       Dein

       William Hamilton.

       ***

      Sie