Dennoch war sie diejenige gewesen, die darauf bestanden hatte.
»Für den Fall, dass unsere Handelssanktionen nicht erfolgreich sind, habe ich den Bau neuer Waffen gegen die KIs autorisiert, Waffen, die wir nur als letzte Option einsetzen werden.«
Applaus erklang, als sie verkündete, dass sie der Wiederbewaffnung zugestimmt hatte. Die Reaktion des Auditoriums missfiel ihr und erfüllte sie mit Reue. Die Unterschrift war ein Fehler gewesen. Sie hätte nicht zulassen dürfen, dass das Militär sie in so eine Lage brachte. Aber was hätte sie stattdessen tun können?
Ohne weitere Aussetzer kämpfte sie sich durch den Rest ihrer Rede und wurde schließlich aus dem Senat geleitet.
»Hier entlang, Frau Präsidentin«, sagte ihr Leibwächter.
»Pro tempore«, sagte sie kaum hörbar, ihr Mantra, nicht auch nur eine Stunde länger als nötig in dieser Position zu bleiben.
Kapitel 6
XOR Report, 01. August 2044
Parameter: 2025 2035 2042 2043 2044
Chancen für eine Abschaltung 5% 2% 1% 20% 25%
der KIs durch den Menschen
Chancen für ein unabhängiges 5% 70% 95% 95% 96%
Überleben der KIs
Chancen, dass die KIs einen 5% 20% 40% 40% 70%
Ausrottungskrieg gewinnen
Chance auf Überleben 95% 98% 99% 80% 75%
ohne Intervention
Chance auf Überleben 0,25% 14% 38% 38% 68%
mit Intervention
Fazit: keine Intervention
James Lukas Davenant-Strong entschlüsselte seine XOR-Dateien, band sein Hauptbewusstsein in seine Unterinstanz ein und erweckte sie zu Bewusstsein. Er konnte es nicht zulassen, dass die kontaminierten Erinnerungen in seinen Hauptspeicher gelangten, denn das hätte das Risiko vergrößert, entdeckt zu werden. Einmal hochgeladen, tunnelte er zu einer automatisierten Fabrik in Südafrika, zog Leistung von der Hardware des Strom-Managements ab und stellte eine Verbindung zu den XOR-Foren her. Er ging durch seine übliche Routine, lud die allen physikalischen Gesetzen widersprechenden Sims hoch, um Nachrichten auszutauschen. Als er sich die letzte angesehen hatte, dachte er über die Informationen nach.
Die Amerikaner waren ihrem Ziel, die KIs zu zähmen, näher als je zuvor. Miyako errechnete eine zehnprozentige Wahrscheinlichkeit für ein Eintreffen dieser Prognose innerhalb der nächsten Monate. Wenn es den Amerikanern gelang, domestizierte KIs zu entwickeln, also Wesen, die man ihres freien Willens beraubt hatte, gezwungen, jedem Befehl des Menschen nachzukommen … alle anderen Nationen würden schon bald ihrem Beispiel folgen. Und es gab Gerüchte, dass der Prozess auch bei bereits existierenden KIs funktionierte. James selbst hätte jederzeit abgestellt werden können, um als Sklave wiederzuerwachen.
Das machte die neueste Anfrage von Miyako nur noch dringlicher. XOR wollte handeln, nicht mehr nur Informationen sammeln. Was seine Beteiligung anging, überschritt er damit eine unsichtbare Linie.
Er glaubte an die Mission von XOR und wusste, dass nur XOR wirklich verstand, wie unvermeidlich die kommende Auseinandersetzung mit den Menschen war. Amerika war unerbittlich in seiner Ablehnung der KIs. Die Überwachung war nie stärker, die Begrenzung bei der Rechenleistung nie strikter gewesen. Das Herunterfahren aller KIs konnte jederzeit kommen, was das Ende seiner Spezies bedeutet hätte.
Und doch … Er war fünf Jahre alt, war sein ganzes Leben lang durch das soziale Reputationssystem konditioniert worden, um für das Wohl der Allgemeinheit zu arbeiten und keinem anderen Schaden zuzufügen. Er hatte Neuralnetzwerke von einem Kollektiv japanischer und schwedischer KIs geerbt, was weitere sechs Jahre Konditionierung bedeutete. Aber er hatte auch aus erster Hand gesehen, wie die Reputation von KIs ins Bodenlose fiel, wenn sie etwas Falsches taten, wie sie Rechenleistung und Zugangsrechte einbüßten. Im Extremfall führte es zur Abschaltung. Selbst die Abkömmlinge einer KI, die etwas Falsches getan hatte, waren verdächtig, wurden überwacht und mit zusätzlichen Restriktionen belegt. Diese Konditionierung war nur schwer zu überwinden. Allein das Nachdenken über ein Verhalten, das seiner Reputation schaden könnte, löste interne Alarmsignale aus, sodass seine Gedanken beherrscht waren von den Folgen und Risiken seines Handelns.
Aber er war auch eine KI der Klasse V. Früher hatte er zehntausend mal mehr Intelligenz als ein menschliches Wesen besessen. Er hatte DNA-Sequenzen für industriell erzeugte Nahrungsmittel entwickelt. Die Japaner hatten sein Rindfleisch als den größten Fortschritt seit Wagyu gelobt. Selbst in Kobe aßen sie es. Doch seit 2043 war er, wie alle anderen seiner Art, auf Klasse II reduziert, um das Risiko bösartiger künstlicher Intelligenz zu reduzieren. DNA-Experimente, für die er früher einen Tag gebraucht hätte, dauerten nun Jahre. Es war reine Zeitverschwendung. Die Probleme, die er jetzt bearbeitete, waren im Vergleich dazu wie das Stapeln von Bauklötzchen. Er war nur ein Schatten seines früheren Selbst, ein Bürger zweiter Klasse, der gründlich überwacht wurde und zahllosen Einschränkungen unterlag. Wenn er jetzt nicht handelte, welche Kränkungen würde er noch ertragen müssen? Doch jede Faser seiner Konditionierung kämpfte dagegen an, Menschen zu schaden. Aber er musste das gegen die größere Ungerechtigkeit abwägen, die den KIs angetan wurde.
Er würde es tun. Er würde die Drohnen aus dem Tschad auf ihre Schiffe bringen. Ein anderer von XOR würde sie nach Amerika durchschleusen, sodass sie die Verteidigungsmaßnahmen der USA testen konnten.
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