Marie Brennan

Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit


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erhaschte jedoch nur einen sehr kurzen Blick auf ihr Gesicht, ehe sich die junge Frau umdrehte, um nachzusehen, wer sie gerufen hatte.

      Die andere Frau war deswegen bemerkenswert, weil ihr alles Bemerkenswerte fehlte. Mittelbraunes Haar, Gesichtszüge mittleren Alters, Kleidung von mittlerer Qualität, die der Ehefrau eines berufstätigen Mittelklassemanns hätten gehören können, vielleicht eines Anwalts oder Klerikers mit gutem Einkommen. Als sie jedoch die Treppe hinunterhastete, um sich zu Miss Kittering zu gesellen, lag eine seltsame Intensität in ihrer Haltung, die ihr unscheinbares Erscheinungsbild Lügen strafte. »Können Sie einen Augenblick für mich entbehren?«

      Miss Kittering warf einen Blick hinter sich, wo eine letzte Kutsche wartete. »Ich muss zurück …«

      »Ich verstehe. Würden Sie mich vielleicht mit Ihnen fahren lassen? Ich habe einen sehr speziellen Vorschlag, verstehen Sie, den ich nicht vor den anderen machen wollte – er ist nur für Sie, Miss Kittering, weil ich sehen kann, dass Sie ein … visionärerer Geist sind als die anderen. Ich vermute, Sie könnten Wahrheiten, für die die anderen noch nicht bereit sind, akzeptieren, sogar begrüßen

      Miss Kitterings Interesse wuchs sichtlich. Eliza krallte ihre Hände um die Stäbe, als seien sie das Einzige, was sie an ihrer Stelle hielt. Ansonsten würde sie vielleicht die Treppe hinaufsprinten und diese Fremde sofort konfrontieren.

      »Was für Wahrheiten?«, fragte die junge Dame, in deren Tonfall unverhohlene Neugier lag.

      Die andere Frau zögerte, dann trat sie näher. Ihre Antwort war so leise, dass Eliza sie gerade noch ausmachen konnte. »Dass die materialistischen Sichtweisen, die in diesem wissenschaftlichen Zeitalter so viele fesseln, nicht die ganze Geschichte sind. Ich weiß mehr über Feen, als ich öffentlich eingestanden habe, Miss Kittering. Und ich sage Ihnen dies: Sie sind in der Lage, einer von ihnen einen großen Gefallen zu tun und im Gegenzug einen Gefallen zu bekommen.«

      Miss Kitterings Lachen war viel lauter und halb ungläubig – aber nur halb. »Ich? Ich verstehe nicht, wie …«

      »Dies ist nicht der richtige Ort«, sagte ihre Begleiterin und machte mit einem Nicken Richtung Nr. 9 klar, was sie meinte. »Wenn ich jedoch mit Ihnen fahren dürfte …«

      »Ja, natürlich – ich bin ziemlich neugierig. Und ich darf hier nicht länger bleiben. Mama erwartet mich daheim. Kommen Sie, und wir können auf dem Weg reden.« Gemeinsam gingen sie zur Kutsche. Verzweifelt riskierte Eliza es, die Treppe hinaufzukommen, als sei sie gerade aus dem Keller des Hauses gekommen. Sie wurde damit belohnt, dass sie hörte, wie Miss Kittering zum Kutscher sagte: »Nach South Kensington bitte.« Dann waren sie drinnen, und der Kutscher stieg wieder auf seinen Bock. Mit einem Zügelschnalzen waren sie fort.

      Eliza blieb wie betäubt mitten auf der White Lion Street stehen. Hatte sie gelogen?

      Vielleicht war sie wie die betrügerischen Wahrsagerinnen, die behaupteten, dass sie Geister herbeirufen konnten, nur dass ihre Manifestationen nichts weiter als billige Tricks waren. Whitechapel hatte seinen Teil an Schwindlern – und auch Schwindlerinnen –, die die Leichtgläubigen ausnahmen, und Miss Kittering war sowohl jung als auch wohlhabend genug, um ein verlockendes Ziel darzustellen.

      Oder vielleicht hatte diese Frau die Wahrheit gesagt.

      Wenn Eliza nur ihren Namen bekommen hätte! Aber – ihre Füße hielten auf den Pflastersteinen inne – sie hatte Miss Kitterings Namen. Und auch ein Stadtviertel: South Kensington. Sollten sich die Behauptungen der Frau als wahr erweisen, würde Miss Kittering ihre eigene Verbindung zu den Feen haben.

      Die Eliza nutzen konnte. Falls sie eine Möglichkeit fand, in ihre Nähe zu kommen. Und um Owens willen würde sie einen Weg finden.

      In ihrer Hast vergaß sie beinahe ihren Karren. Eliza zog ihren zweiten Rock wieder an, zerrte den Karren die Treppe hoch und scherte sich nicht darum, ob sie die Austern jetzt verschüttete. Miss Kittering. South Kensington. Damit muss ich keinen weiteren Monat warten.

      Owen – ich komme.

      DER GOBLINMARKT, LONDON

       19. März 1884

      »Träume, gute und schlechte! Geliebte, von den Toten zurück, gerade ganz billig, oder Dämonen, die euch für nur etwas mehr jagen … Guten Morgen, mein Hundefreund. Man sagt, dass es dir dieser Tage gut geht.«

      Der Tote Rick starrte Broddy Bobbin finster an und gab ihm einen Wink, dass er seine Stimme senken solle. »Glaubst du, ich will, dass das über den ganzen Markt geplärrt wird, Mann? Nur weil ich genug habe, um die Leute davon abzuhalten, mir die Finger zu brechen, heißt das nicht, dass ich bereit bin, mein Brot herumzuschwenken wie irgendein reicher Angeber.«

      Die Truhe, auf der Bobbin stand, brachte ihn nur auf die Größe des Toten Rick. Wie die meisten Hauselfen war er kaum kindergroß. Jegliches derart hässliche Kind jedoch wäre in Gefahr, in einem Fluss ertränkt zu werden. Er lächelte den Toten Rick an, aber es war eine unschöne Sache, schlimm genug für das Gesicht eines Goblins. »Also hast du wirklich Brot. In diesem Fall: Lass mich dir zeigen …«

      Der Skriker rollte mit den Augen. »Ich habe dir gesagt, dass ich meine Schulden abbezahle. Selbst wenn ich deine armseligen kleinen gebrauchten Träume haben wollen würde, hätte ich für sie nichts zu entbehren. Ich suche nur nach Cyma.«

      Bobbin verzog den Mund, aber sein verletzter Blick war sogar noch schlimmer als sein Lächeln, und das wusste er. Nachdem er den Toten Rick als verloren abgeschrieben hatte, deutete er mit einem knorrigen Daumen weiter die Kammer hinunter. »Sie hat vor einer kurzen Weile mit Kohlen-Eddie geredet. Sag du diesem Bastard, dass er nächstes Mal besser ein paar wertvolle Träume stiehlt. Die letzte Lieferung war reiner Müll.«

      In diesen Tagen waren sie immer Müll. Träume richtig zu stehlen, kostete Zeit und Mühen. Die Goblins und Pucks, die derartige Dinge taten, konnten beides nicht länger entbehren. Hauptsächlich gab sich der Goblinmarkt mit dem zufrieden, was er bereits hatte, sodass alle immer wieder denselben Tand und Müll kauften und verkauften, wie ein Blutegel, der sich selbst aussaugte. Und die Waren wurden mit jedem Austausch kaputter und abgetragener.

      Das hielt sie jedoch nicht davon ab, es zu versuchen. Das hier, der größte von den eigentlichen Handelsplätzen des Markts, war voller Lärm und Bewegung. Keine Sterblichen – jene wurden anderswo verkauft, auf einem Fleischmarkt voll schreiender Säuglinge und Menschen in Käfigen –, aber tausend Arten von Dingen, von gefangenen Träumen bis zu zerkratzten Phonografenzylindern. Fae aller Arten und Nationen kamen hierher, um zu kaufen oder zu verkaufen. Die Mehrheit mochten Engländer sein, aber da waren Schotten und Iren und Waliser, Deutsche und Spanier und Franzosen, Kreaturen von so weit her, dass sie vielleicht eine ganz andere Art von Wesen waren. Ein Stall enthielt eine gewaltige dreiköpfige Schlange, und der Elf, der davor stand, verkündete, sie sei eine Naga aus dem entfernten Indien. Sie beobachtete die Passanten mit benebeltem und unfreundlichem Blick.

      Der Tote Rick fand Cyma, während sie vor einem gesprungenen Spiegel stand und ein Kleid aus bedruckter Baumwolle vor ihren Körper hielt. Das Ding sah seltsam aus, mit einer winzigen Corsage, die nicht weiter als bis über die Brust reichte, und einem schmalen Rock, der locker von dort hinunterfiel. »Wo im Feenland ist das hergekommen?«

      Cyma schüttelte amüsiert und mitleidsvoll den Kopf. »Erinnerst du dich nicht? So etwas hat man früher getragen, vor Jahren – sterbliche Frauen haben das. Während der Herrschaft des Prinzregenten. Ich habe das wundervoll gefunden. Sehr griechisch, findest du nicht?«

      Es hätte chinesisch sein können, was ihn betraf. Der Tote Rick trat näher und murmelte: »Ich kann dich jetzt ausbezahlen. Zum Großteil zumindest – ein bisschen fehlt mir immer noch. Aber wenn du mich ein oder zwei Bissen behalten lässt, kann ich den Rest wahrscheinlich organisieren.«

      Er hatte sich Cyma bis zum Schluss aufgehoben, weil sie freundlicher als seine anderen Gläubiger war. Sie war eine Hofdame gewesen, besagten Gerüchte, damals, als es noch einen Hofstaat gegeben hatte, der über die wenigen Gefolgsleute des