Marie Brennan

Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit


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wert sind. Ich hatte gehofft, dass du das vielleicht für mich herausfinden könntest.«

      »Was für Chemikalien?«

      »Satyrgalle. Lunarlauge. Vielleicht einige andere, aber diese beiden sicher.«

      Die Hand der Sterblichen tastete von dort aus, wo sie sich auf die Couch hatte sinken lassen, geistesabwesend durch die Luft. Cyma nahm sie, dann hielt sie sich daran fest, als könne sie die Antwort auf die Frage des Toten Rick in der Handfläche der jungen Frau lesen. Er hielt die Luft an und wartete. Cyma war die einzige Person, der er halbwegs vertraute. Wenn sie ihm nicht helfen konnte – oder wollte –, würde er die Antwort von jemand anderem kaufen müssen. Valentin Aspell verkaufte Informationen, aber sie hatten einen hohen Preis.

      Cyma runzelte die Stirn. »Wird dein Herr nicht zornig werden? Wenn du hinter seinem Rücken Geschäfte machst?«

      Nicht halb so zornig, wie er sein wird, wenn er herausfindet, was ich wirklich mache. »Ich kann es mir nicht leisten, mich in Sicherheit zu bringen, Cyma.« Er machte eine Geste, die grob seine Umgebung erfasste: die Opiumhöhle, den Goblinmarkt, den Onyxpalast. Vielleicht London selbst. »Alles zerfällt, oder nicht? Nadrett hat mich jetzt an sich gekettet, klar, aber ich bin nicht dumm genug zu glauben, dass mir das viel helfen wird, wenn das Ende kommt. Er wird mich absaufen lassen, das weiß ich. Ich muss bereit sein, allein zu fliehen.«

      Cymas Blick wurde sanfter. Eine Hand streckte sich, um ihm über die Wange zu streichen. Er zuckte zurück. Zu seiner Überraschung sah er das helle Glitzern von Tränen in ihren Augen. »Wir sollten nicht fliehen müssen«, flüsterte sie.

      Das Opium begann, ihn schwindlig zu machen. Er kämpfte mit bitterem Zorn dagegen an. »Wenn du nicht einen neuen Palast vorn in dein Kleid gestopft hast, dann haben wir nicht viel Wahl. Die verdammten Menschen werden uns unter ihren Füßen zerquetschen und nie erfahren, dass wir da waren.« Er funkelte die geistesabwesende junge Frau auf dem Sofa an.

      »Einige von ihnen wissen es«, sagte Cyma und strich über die Hand des Mädchens. »Wenn sie es vielleicht alle wüssten …«

      »Was?« Die Haut des Toten Rick juckte plötzlich überall, als ob er, wenn er sich umdrehte, feststellen würde, dass Nadrett eine Waffe auf ihn gerichtet hätte. »Bist du total bescheuert? Sie würden uns töten.«

      Cyma deutete ausschweifend auf die schlaffen Gestalten überall in der Opiumhöhle. »Die da nicht. Die in der Akademie nicht. Die Idee ist nicht von mir, Toter Rick. Du wärst überrascht, wer sonst noch zustimmt. Wir sind ein Teil von London, verdammt – das sind wir schon seit Jahrhunderten. Warum sollten wir es nicht zugeben?«

      »Weil wir dann Priester hätten, die mit Kreuzen vor unseren Gesichtern herumfuchteln würden, Kerle, die uns für Kuriositätenschauen in Käfige stecken würden, kleine Mädchen, die wollen würden, dass wir in den verdammten Blumen für sie tanzen. Wir sind ein Teil von London? Das sind die Ratten auch. Sogar die Iren und die Juden würden sich anstellen, um auf uns einprügeln zu können.«

      Cyma hatte bei seiner Beschwerde über die Blumen angefangen zu kichern und hatte Schwierigkeiten, damit aufzuhören. Sie sagte etwas halb Verständliches darüber, dass niemand mehr in die Kirche ging, aber der Tote Rick hörte ihr nicht zu. Das Problem war, dass er ihr zustimmen wollte. Er wollte hinauf auf die Straßen stürmen und jeden zerreißen, der sein Territorium, den Onyxpalast, bedrohte. Seine Zähne fletschen und sagen: Dieser Ort gehört mir, bis die Sterblichen zurückwichen, die Kehle zeigten, ihn in Frieden ließen.

      Dummer Welpe. Es ist nicht dein Territorium. Es gehört denen, die stark genug sind, es zu halten – und die scheren sich einen feuchten Dreck darum, es zu verteidigen, nicht gegen die Bastarde oben. Köter wie du werden in den Graben getreten, von beiden Seiten.

      Seine Gedanken mussten sich in seinem Gesicht gezeigt haben, denn Cyma streckte die Arme aus und packte ihn unerwartet an den Schultern, zu fest, als dass er sich locker hätte wegdrehen können. »Toter Rick – ich werde dir helfen, wenn ich kann. Wenn die Zeit kommt.«

      »Wie?«, knurrte er und hörte seine eigene raue Stimme, als würde sie aus großer Entfernung kommen. Niemand berührte ihn, außer um ihm wehzutun. Er war sich überhaupt nicht sicher, ob Cyma nicht dasselbe tat, mit etwas anderem als ihren Händen. »Du wirst nicht hier sein, oder?«

      »Ich … ich werde eine Möglichkeit finden. Falls das, was ich gerade tue, funktioniert … dann komme ich zurück und erzähle es dir. Vielleicht kann ich sehen, ob ich dir helfen kann, dasselbe zu tun. Ich verspreche, dass ich dir dann alles erklären werde. Und ich werde Yvoir zu den Chemikalien befragen. Du musst mich nicht bezahlen. Reicht das, damit du mir verzeihst, dass ich weggehe? Nur ein kleines bisschen?«

      Er musste sich aus ihren Händen befreien, aus diesem Raum befreien, dessen sanfter Rauch ihn verlockte, seine Schutzschilde herunterzunehmen, sich zu entspannen, ins Vergessen zu gleiten. »Sicher. Ein bisschen. Halt es nur geheim. Du hast deine Geheimnisse, und ich habe meine.«

      Sie wirkte, als wollte sie mehr sagen, und wollte ihn nicht loslassen. Weil sein Herz zu heftig gegen seine Rippen pochte, verlegte der Tote Rick sich darauf, die Gestalt zu wechseln. Cyma schrie auf und wich vor der Verwandlung seiner Haut und Knochen unter ihren Händen zurück. Als er wieder ein Hund war, floh er in die Schatten, wo er verloren herumstolperte, bis ein Hauch saubererer Luft von den Gardinen ihn zu seiner Rettung führte.

       Erinnerung: 13. August 1878

      Sie trat völlig schweigend in den Raum, gut von Zaubern getarnt. Der Mann im Bett, ein gewisser Frederic William Henry Myers, rührte sich nicht. Es war ein schlimmer Abend gewesen, einer von mehreren hintereinander, und er hatte sich mit Brandy zu Schlaf verholfen.

      Sie hatte erwartet, dass eine solche Nacht kommen würde. Die Träume von Sterblichen waren einfacher zu beeinflussen, wenn ihre Herzen besorgt waren. Ein friedlicher Mann bot ihr wenige Chancen, mit dieser Kunst zu arbeiten. Zum Glück lag das, was für Myers Frieden am nächsten kam, auf dem Grund einer Flasche, und das wiederum bot einige Gelegenheiten.

      Cyma zog die Gardine zurück und ließ das Licht des Vollmondes auf das Gesicht ihres Ziels fallen. Er regte sich etwas, und sie wartete und erlaubte ihm, sich zu beruhigen. Erst als er ruhig war, bewegte sie sich wieder über den mit Teppich belegten Boden an die Seite seines Betts, wo sie federleicht seine Schläfe berührte.

      Seit Wochen hatte sie seine Träume angesehen und aus ihnen das Gesicht und die Stimme geholt, die sie brauchte. Für ihre Zwecke waren sie wertvoller als Fotografien. Cymas Interesse galt nicht, wie die Frau tatsächlich ausgesehen hatte, sondern eher, wie Myers sie gesehen hatte. Sie hatte mehr Informationen gesammelt, als vielleicht streng genommen notwendig war. Sein Verstand würde jegliche Lücken oder Fehler, die sie machte, übertünchen, solange die nicht zu eklatant waren. Aber es war Ewigkeiten her, seit sie diese Art von Freiheit gehabt hatte, unter Sterblichen zu wandeln, von deren Brot geschützt, und sie konnte nicht widerstehen, das so lange wie möglich hinzuziehen.

      Was sie zu dieser Nacht brachte. Cyma schloss die Augen und hob erst einen Fuß, dann den anderen vom Boden, bis sie über Myers in seinem Bett schwebte.

      Sie war darin nicht die Beste. Aber sie war gut genug, und sie schuldete Nadrett etwas.

      Unter ihr träumte Myers von Annie Marshall. Der Ehefrau seines Cousins, die sich vor zwei Jahren ertränkt hatte. Nicht einmal annähernd genug Zeit, dass die Trauer verblichen wäre. In seinen Träumen konnte Myers tun, was er im Leben nie getan hatte: seine Liebe zu Annie gestehen, ihre Lippen küssen, das Fleisch berühren, das er sich immer nur ausgemalt hatte. Der schwierige Teil war es nicht, ihn von Annie träumen zu lassen. Schwierig war es, ihn von irgendetwas anderem als ihrer unerfüllten Liebe träumen zu lassen.

      Aber Cyma war überaus entschlossen. Furcht hatte diese Wirkung, sogar auf eine Fee. Nadrett hatte sie geschickt, um das hier zu tun. Nadrett war ihr Gläubiger. Warum Nadrett einen Spiritisten als Marionette wollte, wusste Cyma nicht, und sie fragte nicht. Alles, was zählte, war es, den Angriffspunkt in Myers zu schaffen, den Glauben,