Hermann Hesse

Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend


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mein schlimmes Verhältnis zu Kromer seinen Lauf, und war nicht etwa zu Ende, als ich dem Knaben endlich die geschuldete Summe aus lauter kleinen Diebstählen abbezahlt hatte. Nein, jetzt wußte er von diesen Diebstählen, denn er fragte mich immer, woher das Geld komme, und ich war mehr in seiner Hand als jemals. Häufig drohte er, meinem Vater alles zu sagen, und dann war meine Angst kaum so groß wie das tiefe Bedauern darüber, daß ich das nicht von Anfang an selber getan hatte. Indessen, und so elend ich war, bereute ich doch nicht alles, wenigstens nicht immer, und glaubte zuweilen zu fühlen, daß alles so sein müsse. Ein Verhängnis war über mir, und es war unnütz, es durchbrechen zu wollen.

      Vermutlich litten meine Eltern unter diesem Zustande nicht wenig. Es war ein fremder Geist über mich gekommen, ich paßte nicht mehr in unsre Gemeinschaft, die so innig gewesen war, und nach der mich oft ein rasendes Heimweh wie nach verlorenen Paradiesen überfiel. Ich wurde, namentlich von der Mutter, mehr wie ein Kranker behandelt als wie ein Bösewicht, aber wie es eigentlich stand, konnte ich am besten aus dem Benehmen meiner beiden Schwestern sehen. In diesem Benehmen, das sehr schonend war und mich dennoch unendlich beelendete, gab sich deutlich kund, daß ich eine Art von Besessenem war, der für seinen Zustand mehr zu beklagen als zu schelten war, in dem aber doch eben das Böse seinen Sitz genommen hatte. Ich fühlte, daß man für mich betete, anders als sonst, und fühlte die Vergeblichkeit dieses Betens. Die Sehnsucht nach Erleichterung, das Verlangen nach einer richtigen Beichte spürte ich oft brennend, und empfand doch auch voraus, daß ich weder Vater noch Mutter alles richtig würde sagen und erklären können. Ich wußte, man würde es freundlich aufnehmen, man würde mich sehr schonen, ja bedauern, aber nicht ganz verstehen, und das Ganze würde als eine Art Entgleisung angesehen werden, während es doch Schicksal war.

      Ich weiß, daß manche nicht glauben werden, daß ein Kind von noch nicht elf Jahren so zu fühlen vermöge. Diesen erzähle ich meine Angelegenheit nicht. Ich erzähle sie denen, welche den Menschen besser kennen. Der Erwachsene, der gelernt hat, einen Teil seiner Gefühle in Gedanken zu verwandeln, vermißt diese Gedanken beim Kinde, und meint nun, auch die Erlebnisse seien nicht da. Ich aber habe nur selten in meinem Leben so tief erlebt und gelitten wie damals.

      Einst war ein Regentag, ich war von meinem Peiniger auf den Burgplatz bestellt worden, da stand ich nun und wartete und wühlte mit den Füßen im nassen Kastanienlaub, das noch immerzu von den schwarzen triefenden Bäumen fiel. Geld hatte ich nicht, aber ich hatte zwei Stücke Kuchen beiseite gebracht und trug sie bei mir, um dem Kromer wenigstens etwas geben zu können. Ich war es längst gewohnt, so irgendwo in einem Winkel zu stehen und auf ihn zu warten, oft sehr lange Zeit, und ich nahm es hin, wie der Mensch das Unabänderliche hinnimmt.

      Endlich kam Kromer. Er blieb heute nicht lang. Er gab mir ein paar Knüffe in die Rippen, lachte, nahm mir den Kuchen ab, bot mir sogar eine feuchte Zigarette an, die ich jedoch nicht nahm, und war freundlicher als gewöhnlich.

      „Ja,“ sagte er beim Weggehen, „daß ich’s nicht vergesse — du könntest das nächstemal deine Schwester mitbringen, die ältere. Wie heißt sie eigentlich?“

      Ich verstand gar nicht, gab auch keine Antwort. Ich sah ihn nur verwundert an.

       „Kapierst du nicht? Deine Schwester sollst du mitbringen.“

      „Ja, Kromer, aber das geht nicht. Das darf ich nicht, und sie käme auch gar nicht mit.“

      Ich war darauf gefaßt, daß das nur wieder eine Schikane und ein Vorwand sei. So machte er es oft, verlangte irgend etwas Unmögliches, setzte mich in Schrecken, demütigte mich, und ließ dann allmählich mit sich handeln. Ich mußte mich dann mit etwas Geld oder anderen Gaben loskaufen.

      Diesmal war er ganz anders. Er wurde auf meine Weigerung hin fast gar nicht böse.

      „Na ja,“ sagte er obenhin, „du wirst dir das überlegen. Ich möchte mit deiner Schwester bekannt werden. Es wird schon einmal gehen. Du nimmst sie einfach auf einen Spaziergang mit, und dann komme ich dazu. Morgen pfeife ich dir an, dann sprechen wir noch einmal drüber.“

      Als er fort war, dämmerte mir plötzlich etwas vom Sinn seines Begehrens auf. Ich war noch völlig Kind, aber ich wußte gerüchtweise davon, daß Knaben und Mädchen, wenn sie etwas älter waren, irgendwelche geheimnisvolle, anstößige und verbotene Dinge miteinander treiben konnten. Und nun sollte ich also — es wurde mir ganz plötzlich klar, wie ungeheuerlich es war! Mein Entschluß, das nie zu tun, stand sofort fest. Aber was dann geschehen und wie Kromer sich an mir rächen würde, daran wagte ich kaum zu denken. Es begann eine neue Marter für mich, es war noch nicht genug.

      Trostlos ging ich über den leeren Platz, die Hände in den Taschen. Neue Qualen, neue Sklaverei!

      Da rief mich eine frische, tiefe Stimme an. Ich erschrak und fing zu laufen an. Jemand lief mir nach, eine Hand faßte mich sanft von hinten. Es war Max Demian.

      Ich gab mich gefangen.

      „Du bist es?“ sagte ich unsicher. „Du hast mich so erschreckt!“

      Er sah mich an, und nie war sein Blick mehr der eines Erwachsenen, eines Überlegenen und Durchschauenden gewesen als jetzt. Seit langem hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen.

      „Das tut mir leid,“ sagte er mit seiner höflichen und dabei sehr bestimmten Art. „Aber höre, man muß sich nicht so erschrecken lassen.“

      „Nun ja, das kann doch passieren.“

      „Es scheint so. Aber sieh: wenn du vor jemand, der dir nichts getan hat, so zusammenfährst, dann fängt der Jemand an nachzudenken. Es wundert ihn, es macht ihn neugierig. Der Jemand denkt sich, du seiest doch merkwürdig schreckhaft, und er denkt weiter: so ist man bloß, wenn man Angst hat. Feiglinge haben immer Angst; aber ich glaube, ein Feigling bist du eigentlich nicht. Nicht wahr? O freilich, ein Held bist du auch nicht. Es gibt Dinge, vor denen du Furcht hast; es gibt auch Menschen, vor denen du Furcht hast. Und das sollte man nie haben. Nein, vor Menschen sollte man niemals Furcht haben. Du hast doch keine vor mir? Oder?“

      „O nein, gar nicht.“

      „Eben, siehst du. Aber es gibt Leute, vor denen du Furcht hast?“

      „Ich weiß nicht . . . Laß mich doch, was willst du von mir?“

      Er hielt mit mir Schritt — ich war rascher gegangen, mit Fluchtgedanken — und ich fühlte seinen Blick von der Seite her.

      „Nimm einmal an,“ fing er wieder an, „daß ich es gut mit dir meine. Angst brauchst du jedenfalls vor mir nicht zu haben. Ich möchte gern ein Experiment mit dir machen, es ist lustig und du kannst etwas dabei lernen, was sehr brauchbar ist. Paß einmal auf! — Also ich versuche manchmal eine Kunst, die man Gedankenlesen heißt. Es ist gar keine Hexerei dabei, aber wenn man nicht weiß, wie es gemacht wird, dann sieht es ganz eigentümlich aus. Man kann die Leute sehr damit überraschen. — Nun, wir probieren einmal. Also ich habe dich gern, oder ich interessiere mich für dich, und möchte nun herausbringen, wie es in dir drinnen aussieht. Dazu habe ich den ersten Schritt schon getan. Ich habe dich erschreckt — du bist also schreckhaft. Es gibt also Sachen und Menschen, vor denen du Angst hast. Woher kann das kommen? Man braucht vor niemand Angst zu haben. Wenn man jemand fürchtet, dann kommt es daher, daß man diesem Jemand Macht über sich eingeräumt hat. Man hat zum Beispiel etwas Böses getan, und der andre weiß das — dann hat er Macht über dich. Du kapierst? Es ist doch klar, nicht?“

      Ich sah ihm hilflos ins Gesicht, das war ernst und klug wie stets, und auch gütig, aber ohne alle Zärtlichkeit, es war eher streng. Gerechtigkeit oder etwas Ähnliches lag darin. Ich wußte nicht, wie mir geschah; er stand wie ein Zauberer vor mir.

      „Hast du verstanden?“ fragte er noch einmal.

      Ich nickte. Sagen konnte ich nichts.

      „Ich sagte dir ja, es sieht komisch aus, das Gedankenlesen, aber es geht ganz natürlich zu. Ich könnte dir zum Beispiel auch ziemlich genau sagen, was du über mich gedacht hast, als ich einmal dir die Geschichte von Kain und Abel erzählt hatte. Nun, das gehört nicht hierher. Ich halte es auch für möglich, daß du einmal von mir geträumt