Jakob Wassermann

Caspar Hauser


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      Natürlich war er schon oft an Spiegeln vorbeigegangen, aber sein von den vielen Dingen der vielgesichtigen Welt geblendeter Blick war mit vorbeigegangen, ohne zu weilen, ohne zu denken, und er hatte sich daran gewöhnt wie an den Schatten auf der Erde. Ein Ungefähr, das ihn nicht hemmte, konnte nicht zum Erlebnis werden.

      Jetzt war sein Auge reif für diese Vision. Er sah hin. »Caspar«, lispelte er. Das Drinnen antwortete: Ich. Da waren Caspars Mund und Wangen und die braunen Haare, die über Stirn und Ohren gekräuselt waren. Nähertretend, schaute er in spielerisch-zweifelnder Neugier hinter den Spiegel gegen die Mauer; dort war nichts. Dann stellte er sich wieder davor, und nun schien ihm, als ob hinter seinem Bild im Spiegel sich das Licht zerteile und als ob ein langer, langer Pfad nach rückwärts lief, und dort, in der weiten Ferne stand noch ein Caspar, noch ein Ich, das hatte zugeschlossene Augen und sah aus, als wisse es etwas, was der Caspar hier im Zimmer nicht wußte.

      Daumer, gewohnt, das Betragen des Jünglings zu beobachten, lauerte gespannt herüber. Da, ein seltsames Geräusch; es surrte etwas in der Luft und fiel neben dem Tisch zu Boden. Es war ein Stück Papier, das von draußen hereingeflogen war. Frau Daumer hob es auf; es war wie ein Brief zusammengefaltet. Unschlüssig drehte sie es zwischen den Fingern und reichte es dem Sohn.

      Der riß es auf und las folgende, mit großer Schrift geschriebene Worte: »Es wird gewarnt das Haus und wird gewarnt der Herr und wird gewarnt der Fremde.«

      Frau Daumer hatte sich erhoben und las mit; ein Frösteln lief über ihre Schultern. Daumer jedoch, indes er schweigend auf den Zettel starrte, hatte das Gefühl, als sei vor seinen Füßen ein Schwert, die Spitze nach oben, aus der Erde gewachsen.

      Caspar hatte von dem Vorgang nicht das mindeste wahrgenommen. Er verließ den Platz vor dem Spiegel und ging wie geistesabwesend an den beiden vorüber zum Fenster. Dort stand er besinnend, beugte sich besinnend vor, immer weiter, völlig selbstvergessen, ganz vom Willen des Suchens erfüllt, bis die Brust auf dem Sims lag und seine Stirn in die Nacht hinaus tauchte.

      Caspar träumt

      Am andern Morgen übergab Daumer das unheimliche Papier der Polizeibehörde. Es wurden Nachforschungen angestellt, die aber natürlich fruchtlos blieben. Der Vorfall wurde auch amtlich an das Appellationsgericht gemeldet, und nach einiger Zeit schrieb der Regierungsrat Hermann, der mit dem Baron Tucher befreundet war, an diesen einen Privatbrief, in welchem er unter anderm die Meinung vertrat, man solle nicht ablassen, den Hauser scharf zu bewachen und auszuforschen, denn es sei wohl möglich, daß er durch eine tief eingepflanzte Furcht gezwungen sei, manches ihm bekannte Verhältnis zu verschweigen.

      Herr von Tucher suchte Daumer auf und las ihm diese Stelle vor. Daumer konnte ein spöttisches Lächeln nicht unterdrücken. »Ich bin mir wohl bewußt, daß ein Mysterium, von Menschenhand gewoben, hinter allem dem liegt, was mit Caspar zusammenhängt«, sagte er mit leisem Widerwillen, »ganz abgesehen davon, daß mir auch der Präsident Feuerbach unlängst darüber geschrieben hat, und zwar in höchst eigentümlichen Wendungen, die auf etwas Besonderes schließen lassen. Aber was heißt das: ihn ausforschen, ihn bewachen? Hat man darin nicht schon das Äußerste versucht? Ärztliche Vorsicht und menschliches Gefühl befehlen mir jetzt ohnehin die äußerste Behutsamkeit gegen ihn. Ich wage es ja kaum, ihn von der einfachen Kost zu entwöhnen und ihn so zu ernähren, wie es durch die veränderte Lebenslage bedingt ist.«

      »Warum wagen Sie das nicht?« fragte Herr von Tucher ziemlich erstaunt. »Wir sind doch übereingekommen, ihn endlich zum Genuß von Fleisch oder wenigstens von andern gekochten Speisen zu bringen?«

      Daumer zögerte mit der Antwort. »Milchreis und warme Suppe verträgt er schon ganz gut«, sagte er dann, »aber zur Fleischkost will ich ihn nicht ermuntern.«

      »Warum nicht?«

      »Ich fürchte Kräfte zu zerstören, die vielleicht gerade an die Reinheit des Blutes gebunden sind.«

      »Kräfte zerstören? Was für Kräfte vermöchten ihn und uns für die Gesundheit des Leibes und die Frische seines Gemüts zu entschädigen? Wäre es nicht vielmehr ratsam, ihn von der Richtung des Außerordentlichen abzulenken, die ihm früher oder später verhängnisvoll werden muß? Ist es gut, einen andern Maßstab an ihn zu legen, als es einer natürlichen Erziehung entspricht? Was wollen Sie überhaupt, was haben Sie mit ihm vor? Caspar ist ein Kind, das dürfen wir nicht vergessen.«

      »Er ist ein Mirakel«, entgegnete Daumer hastig und ergriffen; dann, in einem halb belehrenden, halb bitteren Ton, der für einen Weltmann wie Tucher verletzend klingen mußte, fuhr er fort: »Leider leben wir in einer Zeit, in der man mit jedem Hinweis auf Unerforschliches den plumpen Alltagsverstand beleidigt. Sonst müßte jeder an diesem Menschen sehen und spüren, daß wir rings von geheimnisvollen Mächten der Natur umgeben sind, in denen unser ganzes Wesen ruht.«

      Herr von Tucher schwieg eine Zeitlang; sein Gesicht hatte den Ausdruck abwehrenden Stolzes, als er sagte: »Es ist besser, eine Wirklichkeit völlig zu ergreifen und ihr genugzutun als mit fruchtlosem Enthusiasmus im Nebel des Übersinnlichen zu irren.«

      »Rechtfertigt mich denn die Wirklichkeit noch nicht, auf die ich mich berufen kann?« versetzte Daumer, dessen Stimme leiser und schmeichelnder wurde, je mehr das Gespräch ihn erhitzte. »Muß ich Sie an Einzelheiten erinnern? Sind nicht Luft, Erde und Wasser für diesen Menschen noch von Dämonen bevölkert, mit denen er in lebendiger Beziehung steht?«

      Baron Tuchers Gesicht wurde düster. »Ich sehe in allem dem nur die Folgen einer verderblichen Überreiztheit«, sagte er kurz und scharf. »Das sind die Quellen nicht, aus denen Leben geboren wird, in solchen Formen kann sich keine Brauchbarkeit bewähren!«

      Daumer duckte den Kopf, und in seinen Augen lag Ungeduld und Verachtung, doch antwortete er im Ton nachgiebiger Freundlichkeit: »Wer weiß, Baron. Die Quellen des Lebens sind unergründlich. Meine Hoffnungen wagen sich weit hinauf, und ich erwarte Dinge von unserm Caspar, die Ihr Urteil sicherlich verändern werden. Aus diesem Stoff werden Genien gemacht.«

      »Man tut einem Menschen stets unrecht, wenn man Erwartungen an seine Zukunft knüpft«, sagte Herr von Tucher mit trübem Lächeln.

      »Mag sein, mag sein, ich aber halte mich an die Zukunft. Mich kümmert nicht, was hinter ihm liegt, und was ich von seiner Vergangenheit weiß, soll mir nur dienen, ihn davon zu lösen. Das ist ja das hoffnungsvoll Wunderbare: daß man hier einmal ein Wesen ohne Vergangenheit hat, die ungebundene, unverpflichtete Kreatur vom ersten Schöpfungstag, ganz Seele, ganz Instinkt, ausgerüstet mit herrlichen Möglichkeiten, noch nicht verführt von der Schlange der Erkenntnis, ein Zeuge für das Walten der geheimnisvollen Kräfte, deren Erforschung die Aufgabe kommender Jahrhunderte ist. Mag sein, daß ich mich täusche, dann aber würde ich mich in der Menschheit getäuscht haben und meine Ideale für Lügen erklären müssen.«

      »Der Himmel bewahre Sie davor«, antwortete Herr von Tucher und nahm eilig Abschied.

      Noch am selben Tag wurde Daumer durch seine Mutter aufmerksam gemacht, daß Caspars Schlaf nicht mehr so ruhig sei wie sonst. Als Caspar am andern Morgen ziemlich unerfrischt zum Frühstück kam, fragte ihn Daumer, ob er schlecht geschlafen habe.

      »Schlecht geschlafen nicht«, erwiderte Caspar, »aber ich bin einmal aufgewacht und da war mir angst.«

      »Wovor hattest du denn Angst?« forschte Daumer.

      »Vor dem Finstern«, entgegnete Caspar, und bedächtig fügte er hinzu: »In der Nacht sitzt das Finstere auf der Lampe und brüllt.«

      Den nächsten Morgen kam er halb angekleidet aus seinem Schlafgemach in das Zimmer Daumers und